Urlaub als lebensführungsspezifisches Investitions

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Tourismus Journal (Lucius & Lucius, Stuttgart) 4. Jg. (2000) Heft 4, S. 471-499
Urlaub als lebensführungsspezifisches Investitionsverhalten 1
Gunnar Otte
Zusammenfassung
In der Tourismusforschung werden häufig Theoriedefizite beklagt. Dies gilt auch für die Frage, wer wo und. warum seinen Urlaub verbringt. Nach einem Überblick Ober gängige Ansätze
zur Erklärung von Urlaubszielwahlen wird ein integriertes theoretisches Modell präsentiert.
. Dieses begreift Urlaube als langfristige Investitionen in symbolisches Kapital, das der Erlangung sozialer Anerkennung dient und dessen Wert mit der Lebensfohrung sozialer Akteure
variiert. Im Mittelpunkt der Analysen steht daher eine Typologie differenzieller Arten der Lebensführung. Das neuartige, theoriegeleitete Vorgehen bei der Typenbildung ermöglicht eine
exakte Replizierbarkeit der Typologie und damit raum-zeitliche Vergleiche der Größe und
.Verhaltensweisen einzelner Typen. Auf der Grundlage einer quantitativen Befragung wird die
inhaltliche und statistische Erklärungsleistung der Lebensführungstypologie im Vergleich mit
soziodemographischen Variablen demonstriert.
Stichworte: Urlaubsziele - Lebensstilforschung - Marktsegmentierung.
Abstract
Holiday Making as a Lifestyle-specific Investment
Frequently, a lack of theory is lamented in tourism research. This is also true for the question
of who goes on holiday where and why. After an overview of common explanatory approaches of holiday destination choices an integrated theoretical model is presented. Holidays are seen as long-term investments in symbolic capital, which serves the attainment of
social approval and whose value varies with the lifestyles of the social actors involved. Central to the analyses is therefore a typology of differential lifestyles. The new and theoretically
grounded way of typology construction facilitates an exact replicability of the lifestyle typology
and thus time-spatial comparisons of each type's size and behaviour. On the basis of a
quantitative survey the typology's sociological and statistical explanatory power is demonstrated in comparison with sociodemographic variables.
Key words: holiday destinations - lifestyle research - market segmentation.
I. Einleitung
Die Frage, weIche Bevölkerungsgruppen aus weIchen Gründen in welchen Zielgebieten
und aufweIche Art und Weise ihren Urlaub verbringen, gehört zu den klassischen Themen
der Tourismuswissenschaften. Dennoch ist auf diese Frage bislang keine zufriedenstellende Antwort gefunden worden. Dies hängt mit dem viel beklagten Theoriedefizit der
Tourismusforschung zusammen (vgl. Dietvorst 1994, S. 71 und 80; Vester 1998, 1999;
Wöhler 1998). Üblicherweise werden Urlaubszielwahlen entweder stark empiristisch untersucht, ohne dass die gefundenen Zusammenhänge sinnverstehend erklärbar werden wie im Fall vieler Urlaubertypologien und Ansätze der soziodemographischen Segmentierung. Oder die theoretischen Modelle sind derart abstrakt, dass sie in empirischen Analysen kaum umgesetzt werden können - wie im Fall vieler motivationaler Erklärungsansät-
472 . G. Otte
ze. In diesem Beitrag soll daher ein Ansatz aufgezeigt werden, der Urlaubszielwahlen aus
der Perspektive der individuellen Lebensführung verschiedener Bevölkerungsgruppen erklärbar macht. Dabei werden drei Ziele verfolgt: Erstens wird ein integratives theoretisches Modell präsentiert, das eine Verknüpfung der Ebenen der sozialen Lage, der Lebensführung und der Urlaubswahl herstellt. Zweitens wird dabei eine Typologie differenzieller Arten der Lebensführung theoretisch abgeleitet und gezielt operationalisiert. Dieses
Vorgehen unterscheidet sich grundlegend von dem Gros der induktiv-clusteranalytisch
ausgerichteten Lebensstilforschung und ermöglicht eine exakte raum-zeitliche Replizierbarkeit der vorgestellten Typologie. Drittens wird auf der Grundlage einer eigens konzipierten quantitativen Bevölkerungsumfrage die Leistungsfähigkeit des Erklärungsansatzes
dargestellt, indem das inhaltliche sowie das statistische Erklärungspotenzial der Lebensführungstypologie relativ zu soziodemographischen Variablen untersucht wird.
11. Die Erklärung der Wahl von Urlaubszielen in der Tourismusforschung
In der Tourismusforschung lassen sich mindestens vier grundlegende Ansätze zur Erklärung der Wahl von Urlaubszielen unterscheiden, die jeweils verschiedene Vor- und Nachteile aufweisen. Zur besseren Einordnung des im nächsten Abschnitt vorgestellten integrativen Erklärungsmodells wird zunächst ein kurzer Überblick über die verschiedenen Ansätze gegeben.
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 473
2. Motivationstheorien
Die Spezifizierung der Präferenzen für bestimmte Urlaubsentscheidungen steht im Mittelpunkt psychologisch fundierter, motivationaler Ansätze. Im Anschluss an klassische
bedürfnisorientierte Motivationstheorien (Maslow; Murray) haben verschiedene Autoren
versucht, die Wahl von Urlaubszielen damit zu erklären, dass diese unterschiedliche touristische Bedürfnisse - etwa Erholung, Prestige oder Aktivität - zu befriedigen versprechen. Probleme bereiten diesen Ansätzen aber (a) die Identifikation der jeweiligen Bevälkerungsgruppen, die aus einer spezifischen Bedürfnislage heraus eine bestimmte Urlaubsentscheidung treffen, (b) die Konkretisierung der meist abstrakt formulierten Bedürfnisse
- was bedeuten "Erholung" oder "Prestige" für einzelne Personengruppen? - und (c) die
Klärung der Frage, warum entsprechende Bedürfniskonkretisierungen bei bestimmten
Gruppen so ausgeprägt vorhanden sind und bei anderen nicht (vgl. kritisch Braun 1993, S.
204; Gilbert 1991, S. 83). Witt und Wright (1992) machen darauf aufmerksam, dass neuerdings versucht wird, Urlaubsentscheidungen über Varianten der Wert-Erwartungstheorie
zu erklären, die eine stärkere Einbeziehung situativer Randbedingungen ermöglicht. Für die
empirische Umsetzung deuten sich aber Schwierigkeiten an, wenn man alle relevanten
Urlaubsbewertungen und -erwartungen erheben will (Witt/Wright 1992, S. 49f.). Ein
Problem für beide motivationalen Ansätze ist darin zu sehen, dass manche Reisemotive z.B. Prestigegewinn - jenseits der bewussten Wahrnehmung der Akteure liegen oder anfällig für soziale Erwünschtheit sind und damit Messprobleme bei Befragungen aufwerfen
(Witt/Wright 1992, S. 40ff.).
1. Die ökonomische Theorie
Die ökonomische Theorie erklärt Urlaubswahlen auf der Grundlage einer Zergliederung
der Angebots- und Nachfrageseite in quantifizierbare und monetarisierbare Merkmale (vgl.
pointiert von Böventer 1989). Untersuchungsgegenstand sind meist nicht konkrete
Zielregionen und Urlaubsarten, sondern die Urlaubsausgaben, die abhängig sind von der
Urlaubsdauer, der Entfernung des Urlaubsortes und der Qualität der Unterkunft. Die zentrale erklärende Variable ist üblicherweise das Haushaltseinkommen. Zwar wird zum Teil
auch auf die Bedeutung von Präferenzen oder sozialstrukturellen Faktoren hingewiesen,
doch findet selten eine Auseinandersetzung mit deren Wirkungsmechanismen oder deren
Modellierung statt. Dies hängt damit zusammen, dass überwiegend makroökonomische
Aggregatdatenanalysen durchgeführt und individuelle Präferenzen als "zufällig variierend"
angesehen werden (von Böventer 1989, S. 40-47, 137f.; Sheldon 1990; Burkart/Medlik
1981, S. 55-58). Im Rahmen solcher Modelle gelingt es nicht, die Motive für die Wahl unterschiedlicher Urlaubsarten zu verstehen, sondern lediglich, spezifische Aspekte des Urlaubsverhaltens, etwa die Komfortorientierung des Urlaubs, zu erklären. Der Preis-Einkommens-Mechanismus greift aber fur eine umfassendere Erklärung von Urlaubszielwahlen zu kurz (Freyer 1995, S. 50).
3. Soziodemographische Segmentierung
Die soziale Strukturiertheit von Urlaubsentscheidungen, die bei der Verwendung motivationaler Erklärungsansätze oft verloren geht, steht bei der klassischen Marktsegmentierung nach soziodemographischen Merkmalen im Vordergrund. Zwar lässt sich relativ einfach herausfinden, welche Unterschiede zwischen verschiedenen Alters-, Bildungs- und
Berufsgruppen in der Urlaubspraxis bestehen (vgl. z.B. Opaschowski 1996, Kap. 5),
doch wird nur selten sinnhaft verständlich, warum die sozialen Kategorien ein differenzielles UrlaulJsverhalten aufweisen (Lawson 1994). Dennoch sprechen gewichtige Gründe
für die Berücksichtigung soziodemographischer Variablen in der angewandten Sozialforschung: Sie sind einfach und valide messbar und ermöglichen eine auch intertemporal recht
zuverlässige Abgrenzung von Personenkollektiven (Lawson 1994, S. 313f.). Die gefundenen deskriptiven Zusammenhänge zwischen soziodemographischen Merkmalen und Urlaubsverhalten stellen zudem den Ausgangspunkt für eingehendere soziologische Erklärungen dar (Esser 1996).
474 . G.Otte
4. Psychographische Segmentierung: Lebensstil- und Urlaubertypologien
Während beim Ansatz der soziodemographischen Segmentierung "objektive" Merkmale
die Zuordnung von Individuen zu den einzelnen Bevölkerungssegmenten leiten, bilden
"subjektive" Merkmale - Wertorientierungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen - die
Basis rur "psychographische" Segmentierungen (Weber 1994). Dabei finden anhand ausgewählter psychographischer Merkmale multivariate Typenbildungen statt. Diese lassen
sich unterteilen in Urlaubertypologien, die urlaubsbezogene Motive und Verhaltensweisen
zur Grundlage haben, sowie in Lebensstiltypologien, die wesentliche Elemente der
grundlegenden Alltags- oder Freizeitgestaltung abbilden (Lowyck/van LangenhovelBollaert 1992).
Der Ansatz der psychographischen Segmentierung mittels Urlaubertypologien ähnelt den
bedürfnisorientierten Motivationstheorien dann, wenn Urlaubsmotivationen die Grundlage der Typenbildung darstellen. Allerdings werden diese Typologien samt der zugrunde
liegenden Itemauswahl selten aus einer Motivationstheorie abgeleitet, sondern meist induktiv-empiristisch generiert. In dieser Hinsicht existiert eine nahezu unüberschaubare
Vielfalt allgemeiner und spezieller Urlaubertypologien (vgl. zu Überblicken Schrand 1993;
Freyer 1995, S. 70-76). Zu Recht weisen Lowyck, van Langenhove und Bollaert (1992, S.
25f.) auf ein Tautologieproblem hin: Da die Typenbildung auf urlaubsbezogenen Variablen basiert, ist eine auf dieser Grundlage erfolgende Erklärung des Urlaubsverhaltens kaum
informativ.
Dieses Problem tritt im Fall allgemeiner Lebensstiltypologien nicht auf, da der grundlegende Lebensstil einer Person der bereichsspezifischen Entscheidung über Urlaubspläne vorgelagert und übergeordnet werden kann. Zudem erscheint es einfacher, die Ausgestaltung
von Lebensstilen auf die Konstellation von verfügbaren Ressourcen und Restriktionen, also auf die sozialstrukturelle Grundlage des Entscheidungsverhaltens, zurückzuruhren. Damit kann eher als im Fall der Urlaubertypol.ogien der Brückenschlag zu den oben genannten ökonomischen und soziodemographischen Erklärungsansätzen gelingen. Lebensstiltypologien wird die Fähigkeit bescheinigt, hilfreich für Zwecke des Marketings zu sein,
während ihre Erklärungskraft nach wie vor in Frage steht (Weber 1994; Ryan 1995, S.
69f.; Otte 1997; Hartmann 1999, Kap. 6.3). In der Tourismusforschung sind sie bislang
selten verwendet worden - vorrangig wegen der hohen Kosten in Folge der Vielzahl erhobener Items (Weber 1994, S. 318; Lowyck/van LangenhovelBollaert 1992, S. 26). Ihr Einsatz beschränkt sich vornehmlich auf die kommerzielle Forschung (Freyer 1995, S. 76;
vgl. kritisch Hartmann 1999, Kap. 3).
Alle vorgestellten Ansätze zur Erklärung der Wahl von Urlaubszielen weisen also wesentliche Schwächen auf. Die in der Praxis verbreitetsten Ansätze - die soziodemographische
Segmentierung und die Bildung von Urlaubertypologien - sind überdies außerordentlich
theoriearm angelegt und lassen deshalb ein "erklärendes Verstehen" (Max Weber) von Urlaubsentscheidungen kaum zu. Das im Folgenden präsentierte Erklärungsmodell besteht
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 475
im Kern aus einer Lebensstiltypologie, berücksichtigt aber auch Elemente der anderen diskutierten Ansätze in der Absicht, einen "integrierten" Zugang zum Urlaubsverhalten zu
eröffnen.
11I. Urlaub als lebensführungsspezifisches Investitionsverhalten - ein theoretisches Modell
Ein spezifischer Urlaub wird im Folgenden als das Ergebnis einer Entscheidung zwischen
verschiedenen Urlaubsalternativen angesehen, die von sozialen Akteuren unterschiedlich
wahrgenommen und bewertet werden. Als zentrales Motiv in diesem Entscheidungsprozess fungiert der Symbolgehalt eines bestimmten Urlaubs und die damit im persönlichen
sozialen Netzwerk verbundene soziale Anerkennung. Die Definition und die Gewährung
sozialer Anerkennung erfolgen wiederum in Abhängigkeit der Arten der Lebensführung
des Urlaubers und seines sozialen Netzwerkes. Ein Urlaub wird in diesem Sinn als eine lebensführungsspezifische Investition von Ressourcen interpretiert, die in "touristisches
Kapital" umgewandelt werden, das langfristige Profitmöglichkeiten auf dem Markt sozialer Anerkennung bietet. Diese Modellelemente werden in zwei Abschnitten vorgestellt,
von denen sich der erste mit der urlaubsbezogenen Entscheidungssituation und der zweite
mit der verwendeten Typologie der Lebensfiihrung befasst.
1. Die Urlaubsentscheidung als zweistufiger Prozess
Bei der Modellierung von Urlaubsentscheidungen sollten zwei Schritte auseinander gehalten werden (GoodaIl1991, S. 64ff.): 1. Wird in einem gegebenen Zeitraum - etwa in einem
KalendeIjahr - überhaupt eine Urlaubsreise gemacht? 2. Wenn ja, an welchem Ort wird
der Urlaub in welcher Art verbracht (Frage der Urlaubszielklasse)?
a) Entscheidung, ob eine Urlaubsreise gemacht wird
Einmal im Jahr zu verreisen, ist in Deutschland mit der Ausbreitung des "Massentourismus" zur Normalität und einer sozialen Norm, "zu einem festen Bestandteil des gesellschaftlichen Freizeitverhaltens" (Freyer 1995, S. 63) geworden. "Die ,Urlaubsreise rur alle' ist allerdings auch heute noch eine konkrete Vision" (Opaschowski 1996, S. 38). Welche Motive bewegen die Menschen zu einer Urlaubsreise und welche Hinderungsgründe
gibt es fiir viele?
Eine Urlaubsreise wird zunächst einmal als eine kompensatorische "Fort-von-etwas"Entscheidung begriffen, die von dem Motiv geleitet ist, rur eine begrenzte Zeit Abstand
vom Alltag zugewinnen und sich zu "erholen" (Braun 1993, S. 201; Freyer 1995, S. 57;
Witt/Wright 1992). In der deutschen Reiseanalyse des Studienkreises für Tourismus waren zu Beginn der 1990er Jahre die wichtigsten, von mehr als drei Viertel der Befragten genannten Urlaubsmotive "Abschalten, ausspannen" und "Aus dem Alltag herauskommen,
476 . G. affe,
Tapetenwechsel" (vgl. Braun 1993, S. 202f.; Freyer 1995, S. 59). Bereits oben wurde allerdings darauf hingewiesen, dass "sozial unerwünschte" bzw. "nicht bewusste" Motive
im Rahmen der Umfrageforschung kaum erhoben werden können (Witt/Wright 1992, S.
40ff.; Braun 1993, S. 204). So haben Tourismusforscher bereits früh den Gewinn von
Prestige und Anerkennung als Motiv rur Urlaubsreisen gesehen (vgl. Knebel 1960), jedoch
wird man dies kaum mit Hilfe quantitativer Umfragedatenbelegen können. Je verbreiteter
die jährliche Urlaubsreise aber in der Gesellschaft ist, desto ausgeprägter dürfte der
individuelle Wunsch nach "Teilhabe" an dieser Normalität sein, da ein Nichtverreisen als
Hinweis auf eine prekäre Lebenslage ausgelegt werden kann.
Wenn also "Erholung" und "soziale Anerkennung" grundlegende Antriebskräfte rur eine
Urlaubsreise sind, warum verreist dann ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung selten oder
nie - zu Beginn der 1990er Jahre machte etwa ein Drittel der erwachsenen Deutschen im
Jahresverlauf keine Urlaubsreise (Schmidt 1993, S. 397)? Die naheliegendste und empirisch auch belegte Erklärung liegt darin, dass für eine Urlaubsreise knappe Ressourcen zumindest Zeit und Geld - verausgabt werden müssen und dass eine Urlaubsreise durch
andere Restriktionen behindert werden kann, z.B. durch Gebrechlichkeit, Krankheit oder
die Unabkömmlichkeit in Folge der Pflege von Angehörigen. Der deutschen Reiseanalyse
zufolge stellen fmanzielle Gründe fiir beinahe jeden zweiten Nichtreisenden ein Urlaubshemmnis dar, in deutlichem Abstand gefolgt von Alters- und Gesundheitsgründen, familiären Gründen und der eigenen Kinder wegen (Freyer 1995, S. 80f.; vgl. auch Opaschowski 1996, S. 141f.).
b) Entscheidung, wo und wie ein Urlaub verbracht wird
Im Hinblick auf bestimmte Merkmalsausprägungen des tatsächlich durchgeruhrten Urlaubs, also auf die "Hin-zu-etwas"-Entscheidung, sind zunächst Einflüsse der hierarchisch
definierten, "vertikalen" sozialen Lage zu betrachten. So kann das verrugbare ökonomische Kapital die Entfernung des Urlaubsziels oder den Komfort der Unterbringung entscheidend begrenzen. Der ökonomische Ansatz hat allerdings nur eine beschränkte Erklärungsleistung, denn auch das kulturelle Kapital- interpretiert im Sinne erworbener Neigungen zur Informationsaufnahme - prägt die Urlaubsentscheidungen (vgl. zum Kapitalkonzept Bourdieu 1982, 1983). Die kulturelle Praxis im Alltag beeinflusst das Verhalten
am Urlaubsort maßgeblich, z.B. legt eine Auseinandersetzung mit Erzeugnissen der Hochkultur ein Interesse an kulturhistorischen Sehenswürdigkeiten nahe. Spezifische Fremdsprachenkenntnisse erleichtern das Zurechtfinden im jeweiligen fremdsprachigen Ausland.
Ähnliches gilt fiir frühere Urlaubserfahrungen, die als touristisches Kapital am Urlaubsort
eingesetzt werden können. "Touristisches Kapital" wird hier als die Gesamtheit der in
Urlauben erworbenen Kapitalien - größtenteils kultureller Art - eines Akteurs definied.
Dazu zählen vor allem Urlaubserfahrungen und -wissen (inkorporiertes touristisches Kapital) sowie materielle Urlaubsandenken, z.B. Souvenirs oder Fotos (objektiviertes tou-
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 477
ristisches Kapital) (vgl. zu diesen Untertypen kulturellen Kapitals Bourdieu 1983, S.
185-189).
Noch entscheidender fiir die Wahl eines Urlaubsziels ist die Positionierung des Akteurs in
der historischen und biographischen Zeit, die hier zusammenfassend als "horizontale" Dimension der sozialen Lage bezeichnet werden. Die historische Zeit, in die die Entscheidungssituation eingebettet ist, ist vor allem deshalb bedeutsam, weil sie das Angebotsspektrum an Urlaubsmöglichkeiten festlegt. Neben der Institutionalisierung des Tourismus in den Destinationsgebieten, den Angeboten der Tourismusindustrie, der Entwicklung der Transporttechnologie und der jeweiligen Preise sind auch Urlaubsmoden und
"Images" von Urlaubszielen zu spezifischen historischen Zeitpunkten zu berücksichtigen
(Stabler 1988; Goodalll991, S. 62f.) - ein Urlaub an der Costa Brava bedeutet heute etwas anderes als vor vierzig Jahren. Die historische Zeit ist - als "Kohortenzugehörigkeit"
- untrennbar mit der biographischen Zeitposition der betrachteten Akteure, also ihrem Lebensalter bzw. ihrer Position im Lebenslauf, verknüpft. Gerade die touristischen (Erst-)
Erfahrungen, die man im Jugend- und frühen Erwachsenenalter sammelt, haben oft den
Charakter nachhaltiger Investitionen in eine touristische Praxis, die im Lebenslauf in Form
gewisser Routinen beibehalten wird. So lässt sich beobachten, dass die Geburtskohorten,
deren touristische Ersterfahrungen in der ersten Reisewelle der Nachkriegszeit, der Zeit
der "Capri-Fischer", lagen, in ihrem heutigen Urlaubsverhalten kaum über die Grenzen
Europas hinauskommen, obwohl ihnen rein finanziell diese Möglichkeit offen stände (vgl.
Abschnitt vy.
Häufig wird in der Tourismusforschung übersehen, dass es sich bei Urlaubsentscheidungen großteils um Gruppenentscheidungen mehrerer Urlauber handelt (GoodallI991, S. 7173). Die soziale Zusammensetzung der Mitreisenden wird vor allem von der Lebensform
- der objektiv bestimmbaren Familien- und Haushaltsform (gemäß Konietzka 1995, Kap.
6) - beeinflusst, in der ein Akteur lebt. Im Fall von Lebensgemeinschaften wird der
Urlaub das Resultat eines Aushandlungsprozesses sein, bei Singles wird die Wahrscheinlichkeit rur einen geselligkeitsorientierten Urlaub mit neuen Bekanntschaften höher sein.
Besonders hinzuweisen ist auf die Präsenz von Kindern im Haushalt, die - als stumme
oder lautstarke Mitentscheider - eine kindergerechte Urlaubsgestaltung einfordern und insofern eine "Restriktion" rur die Urlaubsplanung der Eltern darstellen.
Welche Klassen von Urlaubsdestinationen werden nun aber anvisiert? Diese Frage lässt
sich meines Erachtens nicht ohne Rückgriff auf die Lebensführung der Urlauber und deren
Einbindung in soziale Netzwerke klären. Ein Urlaub ist weniger als ein "Konsumprodukt"
zu betrachten, das mit der Rückreise vom Urlaubsort verbraucht ist, sondern als eine Investition in touristisches Kapital, das seinen vollen Wert erst mit der Akkumulation einer
individuellen "Urlaubsbiographie" entfaltet. Eine wesentliche Nutzenkomponente des Urlaubs liegt in der sozialen Anerkennung, die er im persönlichen sozialen Netzwerk - bei
Freunden und Verwandten, am Arbeitsplatz, usw. - produziert, und zwar auch noch lange nachdem der Urlaub getätigt wurde (Knebel 1960, S. 127-129). Diese symbolische
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 479
478 . G. atte
Funktion des Urlaubs ist in der Tourismuswissenschaft immer wieder betont worden: angefangen von Knebel (1960, S. 114ff., 128 und 141), der im Anschluss an Veblen (1994)
Urlaub als "conspicuous experience" auffasst, über die amerikanische Nachkriegssoziologie, die auf den Wunsch nach Anpassung an normative Urlaubsstandards - "keeping up
with the Joneses" - verweist (Brown 1992, S. 59), bis zu Autoren wie Köck (1993), der
in einer Fallstudie symbolische Distinktionsstrategien von Abenteuer- und Extremsporturlaubern herausarbeitet. Auf die Bedeutsamkeit der sozialen "Rahmung" des Urlaubsverhaltens weisen auch die mit Urlaubsreisen assoziierten Rituale hin, vor allem die Versendung von Ansichtskarten an die "Zurückgebliebenen" mit der notorischen Bestätigung des
"sehr guten" Urlaubsaufenthalts (Schneider 1993a; Cantauw-Groschek 1993) sowie die
sich an den Urlaub anschließenden Foto-, Dia- und Videoabende im Bekanntenkreis, die
den erfolgreichen Verlauf des Urlaubs dokumentieren und den heimlichen Neid der Daheimgebliebenen wecken (Schneider 1993b). Erwähnenswert erscheint auch der Stellenwert, den Berichte von Verwandten und Bekannten fiir die Reiseentscheidung haben - zusammen mit eigenen Erfahrungen stellen sie der deutschen Reiseanalyse zufolge die wichtigste Informationsquelle fiir die Wahl des Urlaubsziels dar (vgl. Freyer 1995, S. 84).
Ein und dasselbe Urlaubsziel produziert aber keineswegs in allen gesellschaftlichen Gruppen die gleiche soziale Anerkennung. Der Wert des (in Aussicht stehenden) touristischen
Kapitals ist je nach der Lebensführung derjenigen, die dem Urlauber soziale Anerkennung
zukommen lassen können, unterschiedlich definiert. Die Erwähnung eines Mallorca-Urlaubs ruft bei dem einen Stirnrunzeln, bei dem anderen zustimmende Begeisterung hervor.
Da anzunehmen ist, dass das Kernnetzwerk eines Akteurs überwiegend aus Personen zusammengesetzt ist, die eine ähnliche Lebensführung praktizieren wie der Akteur selbst,
wird der Einfluss dieser spezifischen Art der Lebensführung die Urlaubsentscheidung besonders stark strukturieren. Die Erlangung sozialer Anerkennung wird dabei von den Akteuren nur zum Teil strategisch - zum Zweck der Erzielung von Distinktionsgewinnen betrieben (Bourdieu 1985, S. 2lf.). In erster Linie definiert die alltägliche Lebensfiihrung
schlicht die "denkbaren" und "erstrebenswerten" Urlaubzielklassen - im Sinne einer
Gruppennorm, die kaum reflektiert wird.
Bevor die Typologie differenzieller Arten der Lebensführung vorgestellt wird, sollen die
bisherigen Überlegungen in einem Kausahnodell4 zusammengefasst sowie einige Begrifflichkeiten geklärt werden (vgl. Abb. 1).
Unter der "sozialen Lage" wird die Position eines Akteurs im Gefiige der sozialen Ungleichheit und der damit zusammenhängenden Verteilung von Ressourcen und Restriktionen verstanden. Für die Erklärung von Urlaubszielwahlen besonders wichtig sind dabei die
oben beschriebene vertikale und horizontale Lagedimension, die Lebensform sowie die
Einbindung in ein persönliches soziales Netzwerk. Alle diese Variablen beeinflussen die
Urlaubswahl direkt, da sie in .der Entscheidungssituation "enabling und constraining"
(Giddens 1979) wirken. Eine besondere Rolle spielt allerdings das soziale Netzwerk, das
den Wert des erwerbbaren touristischen Kapitals festlegt. Die Einbettung in diese Struk-
Soziale Lage:
Vertikale Lagedimension:
• Ökonomisches Kapital
Lebensführung
•Kulturelles Kapital
_ _~> • Wertorientienmgen
Horizontale Lagedimension:
(HabituslMentalität)
• Manifester Lebensstil
•Historische Zeit
•Biogmphische Zeit
Lebensform
Soziales Netzwerk
Urlaub
---.. • Urlaubsmotive
• Urlaubsverhalten
_ _ _ _I
Abb. 1: Erklärungsmodell der Urlaubszielwahl
tur "objektiver" sozialer Ungleichheit wird von sozialen Akteuren subjektiv verarbeitet
und resultiert in einer differenziellen Lebensführung5 • Der Terminus der "Lebensfiihrung"
wird hier als Oberbegriff verwendet, der die mentale Ebene der Wertorientierungen (in der
Literatur auch als "Habitus" oder "Mentalität" bezeichnet) und die Ebene des manifesten
Lebensstils umfasst (Vetter 1991, S.14f., Fn. 1). Die Lebensführung spricht die grundlegende individuelle Organisation des Alltags und des Lebens an. Im Fall der Wertorientierungen sind damit grundlegende Prinzipien der Lebensgestaltung gemeint (z.B. religiöse
oder hedonistische Wertorientierungen), im Fall des manifesten Lebensstils Symbole und
Aktivitäten, die die individuelle Lebensführung nach außen hin sichtbar markieren (z.B.
die Ausstattung mit Statussymbolen). Die Lebensführung ist eine regulierende Instanz,
die die Ausprägung von Einstellungen und Verhaltensweisen in spezifischen Feldern sozialen Handeins, wie dem Urlaub, steuert. Das Konzept der Lebensführung "flexibilisiert"
das Erklärungsmodell im Gegensatz zu Modellen einer rein "soziodemographischen Segmentierung", indem es den Gestaltungsspielräumen sozialer Akteure in Zeiten individualisierter Sozialstrukturen Rechnung zu tragen versucht und die Wirkung der objektiven sozialen Lage vermittelt (vgl. Otte 1998). Die Lebensführung ist auch deshalb zentral, weil
erst durch sie die Bewertung und das "Kapitalisierungspotenzial" unterschiedlicher Urlaubsarten und -ziele verständlich werden. In Anlehnung an die motivationalen Erklärungen des Urlaubsverhaltens wird dabei dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung im eigenen Netzwerk ein besonderer Stellenwert zugeschrieben. Welche konkreten Typen der
Lebensführung sollen nun aber unterschieden werden?
2. Eine Typologie der Lebensführung
Die gängigen Forschungsansätze zur Identifikation von "Lebensstiltypen" sind durch vier
Hauptprobleme gekennzeichnet: 1. die mangelnde raum-zeitliche Vergleichbarkeit der Typologien; 2. die Gefahr von Reiftkationen und mangelndem Realitätsgehalt; 3. die Theorie-
480 . G. aUe
armut bei der Erklärung der Entstehungs- und Handlungslogik der gefundenen Typen; 4.
den Aufwand der Erhebung der Lebensstilvariablen (vgl. Blasius 1994; Dangschat 1994;
Konietzka 1995, Teil A; Lüdtke 1996; Hartmann 1999, S. 160-174; Plog 1987; Lowyck/
van LangenhovelBollaert 1992; Weber 1994; Ryan 1995, S. 73f.). Alle g~nannten Probleme hängen mit der induktiv-empiristischen Art der Typenbildung zusammen. Üblicherweise wird eine große Anzahl von Lebensstiliterns erhoben, die mit Faktorenanalysen
vorstrukturiert und mit Clusteranalysen zu einer Typologie verschiedener Lebensstile
verdichtet werden. Die Typenbildung erfolgt also weitgehend atheoretisch - zumal bereits
die Auswahl der Lebensstilvariablen selten begründet wird - und wird einem statistischen
Ordnungsverfahren überlassen, das in seinen Ergebnissen relativ stark auf methodische
Entscheidungen durch den Anwender reagiert (Wahl von Clusteralgorithmen und Ähnlichkeitsmaßen, Bestimmung der Clusteranzahl, Gewichtung der Eingangsvariablen) (Bacher
1994, S. 163ff.; Blasius 1994; Lüdtke 1996; Otte 1997). Dies hat eine unklare Definition
einzelner Typen, eine mangelnde raum-zeitliche Vergleichbarkeit der Typologien und die
Gefahr von lebensweltlich unplausiblen Typen-Reifikationen zur Folge. Entgegen der
Überzeugung mancher Lebensstilforscher (z.B. Weber 1994, S. 318) ist es aber durchaus
möglich, eine theoretische Typologie apriori zu etablieren und diese empirisch gezielt zu
operationalisieren. Der Forscher hat damit eine größere Kontrolle über das, was eigentlich
"gemessen" werden soll.
In einer Synopse von mehr als dreißig Lebensstil- und Wertorientierungstypologien des
deutschsprachigen Raums kristallisierten sich vor allem zwei inhaltliche Dimensionen als
fundamental für die differenzielle Struktur zeitgenössischer Arten der Lebensfiihrung heraus: eine Dimension des Ausstattungsniveaus und eine Dimension der subjektiven Verarbeitung der historischen und biographischen Zeit. Beide Dimensionen setzen sich aus je
zwei Subdimensionen zusammen. Das hierarchisch angeordnete Ausstattungsniveau ergibt
sich auf zwei Wegen: Über die Route ökonomischen Kapitals - also eine spezifische Geldverwendung - kann etwa ein bestimmter Lebensstandard mit einer bestimmten (materiellen) Statussymbolik gesichert werden, über die Route kulturellen Kapitals - die Tätigung
spezifischer Bildungsinvestitionen - ein Vorrat gesellschaftlich unterschiedlich bewerteten
kulturellen Wissens angeeignet werden. Auf der horizontalen Zeitachse werden Personen
gleichzeitig nach ihrem Grad der Modernität und ihrer biographischen Perspektive
verortet, weil diese beiden Subdimensionen aus der Sicht der Individuen nur schwer voneinander zu trennen sind. Man wächst in einer bestimmten Epoche aufund häuft sich eine
eigene Biographie an, ohne zu wissen, ob die eigene Lebensfiihrung ein Produkt der Generationszugehörigkeit oder der (altersabhängigen) biographischen Perspektive ist6 • Um auch
"Mischtypen" in der Typologie zu berücksichtigen und eine "mittlere" Anzahl an Typen
zu erhalten, werden fiir beide Achsen drei Ausprägungen unterschieden. Kombiniert man
die zwei Dimensionen, erhält man einen "sozialen Raum der Lebensfiihrung" (Bourdieu
1982, 1985) mit neun Typen (vgl. Abb. 2).
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 481
Ausstattungsniveau
1 Konservativ
Gehobene
4 Liberal Gehobene
7 Reflexive
mittel
2 Konventionalisten
5 Aufsliegsonentierte
8 Hedonisten
niedrig
3 Traditionelle
Arbeiter
6 Heimzentrierte
9 Unterhaltungssuchende
traditionaV
biogr. Schließung
teilmodem!
biogr. Konsolidierung
modern!
biogr. Offenheit
gehoben
Modemitl!ltl
biogr. Perspektive
Abb. 2: Sozialräumliche Anordnung von neun Lebensführungstypen
Die Hauptdimensionen der Typologie sind kompatibel mit mehreren vielzitierten deutschenLebensstil- bzw. Milieutypologien, unter anderem denen von Schulze (1992), Gluchowski (1987), des SINUS-Instituts (Becker/Nowak 1982; Flaig/Meyer/Ueltzhöffer
1993, SINUS 1998) und der Forschergruppe um M. Vester (Vester/von Oertzen/Greiling/
Hermann/Müller 1993). Deshalb lehnt sich auch die (a priori-)Deskription der Typen an
diese Studien an (vgl. insbesondere Schulze 1992, S. 689; Flaig/Meyer/Ueltzhöffer 1993),
greift aber auch Befunde anderer Autoren auf (insbesondere von Bourdieu 1982).
Schlagwortartig lassen sich die neun Typen wie folgt charakterisieren:
1. Konservativ Gehobene: Tradition des Besitzbürgertums; gehobener Lebensstandard;
Werte der Leistungsbereitschaft; traditionelle Familienwerte; christlich-religiöse Lebensfiihrung; Präferenz klassischer Hochkultur.
2. Konventionalisten: Tradition des Kleinbürgertums; umfassende Sicherheitsorientierung;
Werte der Pflichterfiillung und Disziplin; Mischung aus volkstümlicher und Hochkultur.
3. Traditionelle Arbeiter: Hort der traditionellen Arbeiterkultur; Werte der Bescheidenheit
und Solidarität; Orientierung am Praktischen; volkstümliche Kulturpräferenzen.
4. Liberal Gehobene: Tradition des Bildungsbürgertums, aber auch "Urban Professionals"; gehobener Lebensstandard; stärkere Offenheit flir "alternative" Kultur und Popkultur, Selbstverwirklichung und emanzipative Werte.
5. Aufstiegsorientierte: "Mitte der Gesellschaft"; Aufstieg nach Maßgabe der sozialen
Leitbilder einer beruflichen Karriere, Familiengründung, Eigenheimerwerb und "Mainstream"-Freizeitkultur.
6. Heimzentrierte: Heimzentrierter Aktionsradius aufgrund begrenzter Ressourcenlage
und Kindern im Haushalt; Familienorientierung; Mischung aus volkstümlicher und Popkultur.
7. Reflexive: Streben nach Persönlichkeitsentfaltung mit einem psychologisch-reflexiven
Überbau; globales Lebensgefiihl; Ausgangspunkt einer "Kultur elektronischer Lebensaspekte", vor allem im Hinblick auf das Internet.
482 . G. atte
8. Hedonisten: Spontaneität; Konsum- und Modeorientierung; Hedonismus; Lust am
Neuen; Körperkultur bis hin zum Stilprotest; Präferenz elektronischer Musikstile.
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 483
Tab. 1: Indikatoren für die Konstruktion der Indizes der Lebensführung
9. Unterhaltungssuchende: Prestigekonsum auf begrenzter Ressourcenbasis, z.B. im Hinblick auf Ausstattung mit Unterhaltungselektronik und offensive Zurschaustellung von
Markenkleidung; außerhäusliche Freizeitorientierung; ausgeprägte Depolitisierung.
Diese zunächst theoretisch konstruierte und anband empirischer Befunde illustrierte Typologie differenzieller Arten der Lebensfiihrung wird nun gezielt operationalisiert und empirisch umgesetzt.
IV. Datengrundlage und Operationalisierung
Im Februar und März 2000 wurden im Rahmen der Studie "Soziale Netzwerke und Lebensfiihrung in Mannheim" von der Forschungsstelle "Stadt- und Regionalforschung
Rhein-Neckar" der Universität Mannheim unter Mitwirkung studentischer Interviewer
764 repräsentativ ausgewählte Personen der Erwachsenenwohnbevölkerung der Stadt
Mannheim in standardisierten, computergestützten Telefoninterviews befragt. Der
Schwerpunkt der Studie lag in der Untersuchung der lebensfiihrungsspezifischen Komposition sozialer Netzwerke. In der Nettostichprobe sind Personen nichtdeutscher Nationalität (Sprachprobleme), Personen aus Single-Haushalten (Erreichbarkeitsprobleme), Personen niedriger Bildungsabschlüsse, Arbeiter sowie ältere Personen (überdurchschnittliche
Verweigerungsquoten) unterrepräsentiert. Diese selektiven Ausfalle beeinflussen die
univariaten Statistiken und sind in dieser Hinsicht in Rechnung zu stellen, Z.B. ergibt sich
eine unterdurchschnittliche Abbildung der Größe des Lebensführungstypus der traditionellen Arbeiter. Da aber hier vorrangig bi- oder multivariate Zusammenhänge von Interesse sind, ist das Ausfallproblem der Qualität der präsentierten Ergebnisse nicht abträglich.
Die zentrale Variable der empirischen Analyse ist die Lebensführung der Befragten. Im
Rahmen der Erhebung wurde eine dimensionale (und nicht eine typenspezifische) Operationalisierung der Typologie vorgenommen, d.h., es galt Indikatoren auszuwählen, die die
zwei Dimensionen der Lebensfiihrung abbilden. Für die hier verwendete empirische Version der Typologie wurden pro Dimension fiinf vierstufig (Likert-)skalierte Variablen zu einem Index zusammengefasst (vgl. Tab. 1). Die Fundierung des Ausstattungsniveaus der
Lebensfühfung in ökonomischem Kapital wurde in zwei Aspekten berücksichtigt, allgemein in dem Grad eines gehobenen Lebensstandards und speziell anband der maximalen
Ausgaben bei Restaurantbesuchen. Die Route kulturellen Kapitals wurde mit Hilfe des
Interesses für Kunst, der Lektüre von Büchern sowie dem Konsum überregionaler Tageszeitungen erfasst, interpretierbar als Investitionen in hochkulturelles Kapital. Die Dimension der Modernitätlbiographischen Perspektive wurde mit zwei Indikatoren der Traditionalität abgebildet, nämlich der Ausrichtung der Lebensführung an religiösen Prinzipien
sowie der Bedeutung familiärer Traditionen. Dazu kamen drei Variablen, die Modernität
bzw. eine offene biographische Perspektive anzeigen: Lebensgenuss als Indikator fiir eine
1. Leben in vollen ZOgen genießen
4. viel Ausgehen
2. nach religiösen Prinzipien leben (-)
5. ständig etwas los im Leben
3. an Traditionen der Familie festhalten (-)
Anmerkungen: Die ausgewählten Indikatoren wurden umfassenderen Itembatterien entnommen. Dabei
handelt es sich um eine Statementbatterie zur Selbsteinschätzung der Lebensführung, eine Itembatterie mit Freizeittätigkeiten, eine zur LektOre verschiedener Zeitungstypen sowie ein Item zur maximalen
Ausgabenhöhe bei Restaurantbesuchen. Die jeweils tunf Items zum Ausstattungsniveau bzw. zur ModernitäUbiographischen Perspektive werden unstandardisiert, vierstufig skaliert zu zwei additiven Indizes zusammengefasst. Hohe Werte stehen dabei tur ein gehobenes Ausstattungsniveau bzw. eine
moderne Lebensführung. Deshalb gehen einige Items mit umgekehrter Polarität in die Indexbildung ein
(-). Anschließend werden die Indexwerte durch die Anzahl der zugrundeliegenden Items dividiert, so
dass die individuellen Indexwerte eine Ausprägung zwischen 1 und 4 annehmen können.
hedonistische Lebensfiihrung sowie die Häufigkeit des "Ausgehens" und die Präferenz einer Lebensfiihrung, "in der ständig etwas los ist", als Indikatoren einer Actionorientierung.
Die zwei Indizes wurden - durch eine Grenzziehung in gleich großen Abständen vom theoretischen Mittelwert der Skala7 - in drei Segmente unterteilt und anschließend kreuztabelliert. Damit ist die Typologie - anders als die induktiv-empiristischen Varianten der
Typenbildung - vollständig replizierbar. Die Zuweisung einzelner Personen mit bestimmten Merkmalsausprägungen zu einem spezifischen Lebensftihrungstypus folgt einer
eindeutig nachvollziehbaren Regel. Somit sind zeitliche Veränderungen sowie räumliche
Unterschiede der Typengrößen und des Verhaltens einzelner Typen analysierbar. Die
Auswahl der Items ist theoretisch begründet, die einzelnen Typen der Lebensfiihrung sind
inhaltlich definiert und die Typologie ist anschlussfahig fiir theoretische Erklärungen.
Zudem minimiert die geringe Menge von zehn Ausgangsitems die Erhebungskosten. Die
oben angesprochenen Hauptprobleme der Lebensstilforschung sind auf diese Weise zumindest weitgehend gelöst worden.
Die sich aus dieser Art der Typenbildung ergebende prozentuale Verteilung der Befragten
über die Typologie zeigt Abb. 3. In der Abbildung sind zusätzlich die Prozentanteile ver-
484
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 485
G. Otte
Konservativ Gehobene
(2,6%, N=19)
Liberal Gehobene
(14,0%, N=103)
Reflexive
(13,8%, N=102)
HS 21 %, Abi 63%
42%
3213 DM
56,4
allein, o. Partner 24%,
Paar mit Kind 21 %
HS 15%, Abi 64%
36%
3074 DM
44,3
allein, o. Partner 20%,
Paar mit Kind 23%
HS 4%, Abi 78%
44%
3295 DM
35,7
allein, o. Partner 25%,
Paar mit Kind 12%
Konvenüonalisten
(5,4%, N=40)
Aufstiegsorientierte
(23,5%, N=173)
Hedonisten
(19,4%, N=143)
HS 38%, Abi 28%
8%
2116DM
51,7
allein, o. Partner 18%,
Paar mit Kind 28%
HS 27%, Abi 47%
24%
2328 DM
41,1
allein, o. Partner 18%,
Paar mit Kind 29%
HS 17%, Abi 54%
16%
2189 DM
33,0
allein, o. Partner 28%,
Paar mit Kind 18%
Traditionelle Arbeiter
(5,8%, N=43)
Heimzentrierte
(9,8%, N=72)
Unterhaltungssuchende
(5,7%, N=42)
HS 65%, Abi 9%
2%
1614DM
59,2
allein, o. Partner 35%,
Paar mit Kind 16%
HS 54%, Abi 21 %
7%
1799 DM
44,5
allein, o. Partner 25%,
Paar mit Kind 30%
HS 31%,Abi 36%
7%
2027 DM
33,8
allein, o. Partner 36%,
Paar mit Kind 15%
nannten Urlaubszielen drei Klassen mutmaßlicher Urlaubsarten abgeleitet: Strandurlaube,
Natururlaube und Städtereisen. Da diese Kategorien nicht direkt abgefragt wurden, sind
bei der Klassifizierung Messfehler in Kauf zu nehmen, die zu einer Minderung der Erklärungsleistung bei der statistischen Analyse fuhren dürften und in Rechnung gestellt werden sollten.
Im Anschluss an die Frage nach dem favorisierten Urlaubsziel wurde eine Liste von neun
Aktivitäten und Merkmalen vorgelesen, die von den Befragten jeweils in ihrer Wichtigkeit
für einen Urlaub ganz allgemein eingestuft werden sollten, also keinen Bezug zu dem zuvor genannten Urlaub aufzuweisen brauchten9 • Für den Wortlaut der einzelnen Items sei
auf Tab. 2 verwiesen. Die Zusammenstellung der Items wurde nicht theoretisch abgeleitet,
sondern sollte das Spektrum wichtiger urlaubsortbezogener Reisemotive abbilden, wie sie
in der aktuellen empirischen Tourismusforschung gefunden werden (vgl. Opaschowski
1996, S. 122-129; Braun 1993; Schmidt 1993).
Aus Tab. 2 geht die Verteilung der Urlaubsziele und -motive hervor. Immerhin 11% der
Befragten haben in den letzten drei Jahren keine Urlaubsreise unternommen - und dieser
Anteil wäre vermutlich noch höher, wenn Personen mit niedriger Bildung, höherem Alter
und Arbeiterberuf nicht unterrepräsentiert wären. Daneben zeigt sich, dass Urlaube in
Deutschland nicht zu den Favoriten der Mannheimer gehören, sondern - innerhalb des
Abb. 3: Verteilung und soziale Lage der Lebensführungstypen
Tab. 2: Verteilung von Urlaubszielen und Urlaubsmotiven in der Stichprobe
schiedener Bevölkerungskategorien innerhalb der einzelnen Typen angegeben, und zwar
im Hinblick auf die Variablen, die im Erklärungsmodell zur Urlaubszielwahl ebenfalls von
Relevanz sind. Wie theoretisch erwartet, zeigen sich ein Gefalle des ökonomischen und
des Bildungskapitals entlang der Dimension des Ausstattungsniveaus und ein Altersgefälle entlang der Dimension der Modernität bzw. biographischen Perspektive. Damit einher
gehen Unterschiede in den Lebensformen, hier illustriert anhand Alleinwohnender ohne
Partner sowie (ehelicher und nichtehelicher) Lebensgemeinschaften mit mindestens einem
Kind im Haushalt.
Im Hinblick auf die abhängige Variable sollten sowohl Urlaubsmotive als auch Aspekte
der Urlaubspraxis berücksichtigt werden. In der Befragung wurde zunächst offen danach
gefragt, welches Urlaubsziel dem Befragten innerhalb der letzten drei Jahre am besten gefallen habe8 • Die Festlegung des Referenzzeitraumes auf die letzten drei Jahre hat zur Folge, dass zum einen auch den Personen die Möglichkeit einer Urlaubszielnennung gegeben
wurde, die im vergangenen Jahr keinen Urlaub gemacht hatten, und dass zum anderen die
Möglichkeit zur Auswahl eines präferierten Urlaubs und zum Ausschluss einer etwaigen
Urlaubsenttäuschung im Vorjahr bestand. Für die hier vorgelegten empirischen Analysen
mussten die Nennungen zu Kategorien zusammengefasst werden. Betrachtet werden im
Folgenden zunächst Nichtreisende bzw. "Heimurlauber". Innerhalb der Gruppe der Urlauber werden die Urlaubsziele nach "Entfernungsklassen" aggregiert: Unterschieden werden Deutschland-, Europa- und Außereuropareisende. Des Weiteren werden aus den ge-
Deutschland
13,4
Europa
61,0
- Spanien
14,5
3,51
60,3
fremde Kulturen kennen lernen
3,41
54,4
kulturhist. Sehenswürdigkeiten
3,09
36,1
viel Ruhe haben
3,02
38,5
- Frankreich
8,6
neue Leute kennen lernen
2,91
29,2
- Italien
8,0
sorgfältige, kostenbew. Planung
2,91
33,4
- Türkei
5,1
richtig aktiv sein
2,86
28,4
- Österreich
4,8
in der Sonne liegen und relaxen
2,74
29,2
4,3
gehobener Komfort
2,63
21,7
- Griechenland
- sonstige europäische Länder
außerhalb von Europa
- USA I Kanada
- Fernost (v.a. Thailand)
15,5
25,6
10,3
6,1
- Karibik I Mittelamerika
3,1
- Nordafrika (v.a. Tunesien, Ägypten)
2,8
- sonstige außereuropäische Länder
3,3
486 . G.Offe
Lagers der Urlauber - 61 % europäische und 26% außereuropäische Destinationen genannt
werden. Es ist zu vennuten, dass die Befragten im Fall des Besuchs mehrerer Urlaubsziele
in den letzten drei Jahren eher die entfernteren, außergewöhnlicheren Destinationen genannt haben. So könnte der hohe Anteil der Nordamerika-Reisenden erklärt werden. Im
Übrigen dominieren wie erwartet die südeuropäischen "Sonnenländer". Auch bei den
Fernreisen finden sich die typischen Favoriten der Deutschen, nämlich - neben den USA
- Südostasien mit dem Schwerpunkt Thailand sowie "Domrep" und die Karibik. Bei den
Urlaubsmotiven werden die Items "Natur" und "fremde Kulturen" besonders häufig genannt - mehr als jeder Zweite findet diese Aspekte "sehr wichtig". Insgesamt erhalten
aber alle Items im Durchschnitt eine Zustimmung, die über dem theoretischen Skalenmittelwert von 2,5 liegt.
V. Empirische Erklärung von Urlaubsmotiven und Urlaubszielen
Die empirische Analyse geht zwei Fragen nach: 1. Wie kann die Wahl von Urlaubszielen
mit bestimmten urlaubsbezogenen Motiven aus der Perspektive der Lebensführung verständlich gemacht werden? 2. Welche statistische Erklärungskraft weist die Lebensführungstypologie relativ zu den soziodemographischen Modellvariablen auf?
Urlaub als lebensflJhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 487
Naturlandschaften (3,71)
fremde Kulturen (3,59)
Sehenswürdigkeiten (3,29)
viel Ruhe (3,24)
sorgfältige Planung (3,12)
gehobener Komfort (2,94)
fremde Kulturen (3,57)
Sehenswürdigkeiten (3,31)
fremde Kulturen (3,70)
Leute kennen lernen (3,17)
richtig aktiv sein (3,05)
Deutschland (29%)
Italien (24%)
Natururlaub (29%)
Italien (12%)
USNKanada (12%)
Frankreich (11 %)
Natururlaub (23%)
außereuropäisch (38%)
USNKanada (13%)
Frankreich (12%)
Italien (11 %)
Fernost (11 %)
Städtereise (24%)
Sonne und relaxen (2,96)
Naturlandschaften (3,79)
sorgfältige Planung (3,30)
viel Ruhe (3,18)
Europa (70%)
Deutschland (24%)
Frankreich (12%)
Natururlaub (27%)
Städtereise (18%)
außereuropäisch (31 %)
Spanien (22%)
USNKanada (14%)
Strandurlaub (46%)
Naturlandschaften (3,89)
sorgfältige Planung (3,11)
sorgfältige Planung (3,16)
Leute kennen lernen (3,48)
richtig aktiv sein (3,23)
Sonne und relaxen (3,23)
kein Urlaub (46%)
Deutschland (37%)
Natururlaub (47%)
kein Urlaub (30%)
Deutschland (35%)
Natururlaub (30%)
kein Urlaub (23%)
Spanien (26%)
Fernost (13%)
Strandurlaub (52%)
1. Die differenzielle Urlaubsgestaltung im Raum der Lebensführung
Zunächst wird bivariat untersucht, welche Typen der Lebensführung welche Urlaubsmotive aufweisen und welche Destinationen sie im Urlaub bevorzugt aufsuchen. Zur besseren Übersicht werden nur die subgruppenspezifisch klar überdurchschnittlichen Nennungen angegeben. In Abb. 4 (vgl. folgende Seite) sind oberhalb der gestrichelten Linien die
typenspezifischen Mittelwerte der Urlaubsmotive (auf der Skala von 1 bis 4) und unterhalb die typenspezifischen Anteile von Reisenden mit spezifischen Destinationsklassen
ausgewiesen. Außer im Hinblick auf das Item "kein Urlaub" beziehen sich alle Angaben
nur auf die Gruppe derjenigen, die in den letzten drei Jahren eine Urlaubsreise unternommen haben. Betrachtet werden nur deutsche Befragte, so dass die speziellen Motive der
nichtdeutschen - maßgeblich türkischen - "Heimaturlauber" ausgeschlossen werden.
Zunächst fällt auf, dass die Entscheidung, einen Urlaub zu machen oder nicht, stark mit
dem Ausstattungsniveau der Lebensführung zusammenhängt. Bei den Traditionellen Arbeitern hat nahezu jeder zweite innerhalb der letzten drei Jahre keinen Urlaub unternommen. Überdurchschnittlich oft zu Hause blieben auch die Heimzentrierten (30%) und die
Unterhaltungssuchenden (23%). Im Bereich der Gruppen eines gehobenen Ausstattungsniveaus und bei den Hedonisten ist dagegen ein Urlaub kaum wegzudenken - hier haben
lediglich zwischen ein und fünf Prozent der Befragten keine Reise getätigt. Im Bereich des
niedrigen Ausstattungsniveaus ist innerhalb der Gruppe der Urlauber eine "sorgfältige und
kostenbewusste Planung" selbstverständlich. Noch ausgeprägter gilt dies für die Konventionalisten, aber auch für die Konservativ Gehobenen. Sparsamkeits-, Sicherheits- und
Abb. 4: Urlaubsmotive und Urlaubsziele im Raum der Lebensführung
Ordnungsorientierungen - und nicht allein finanzielle Zwänge - setzen sich bei diesen
Gruppen vom Alltag in den Urlaub fort.
Die drei traditionalen Lebensführungstypen bevorzugen zusammen mit den Heimzentrierten deutlicher als die anderen Gruppen Deutschland als Reiseziel, am meisten die Traditionellen Arbeiter (37%), von denen z.B. der Schwarzwald oder die Nordseeküste als Urlaubsorte genannt wurden. Mit der Urlaubszentrierung auf deutsche (und europäische)
Regionen gehen bestimmte Motivlagen einher: In den drei Gruppen des traditionalen Segments der Typologie wird besonders häufig den Items "Naturlandschaften erleben" und
"viel Ruhe haben" zugestimmt. Beliebt sind in diesen Milieus Berg- und Binnenseeurlaube. Um die Ruhe der Natur zu genießen, reist man nicht besonders weit, sondern versucht
die Vertrautheit heimischer Gewohnheiten (deutsche Sprache und Küche) mit der landschaftlichen Außeralltäglichkeit zu verbinden. Urlaube in der Natur sind auch bei den
488 . G. affe
Heimzentrierten und den Liberal Gehobenen beliebt. Während die Heimzentrierten ähnliche Reiseziele nennen wie die traditionalen Gruppen (z.B. Bayern, Schwarzwald, Plattensee, Nordsee), tauchen bei den Liberal Gehobenen auch weiter entfernte Naturdestinationen auf (z.B. Hawaii, Nepal, Nationalpark in Kenia). Die Distinktionsabsichten der Liberal Gehobenen äußern sich in einer stärkeren Nachfrage nach "exklusiver Natur".
Die drei gehobenen Lebensfiihrungstypen sind in ihrem Urlaubsverhalten durch eine Kulturorientierung gekennzeichnet. Alle drei äußern sich ähnlich interessiert daran, "fremde
Kulturen kennen zu lernen". Die alltäglichen Investitionen dieser Gruppen in (hoch-)kulturelles Kapital schlagen sich in ihrem Urlaubsverhalten nieder (Günter 1993; Köck
1993). Interessanterweise haben alle drei ähnliche Präferenzen ftir Italienurlaube und stellen die "Toscana-Fraktion" mit ihrem Hang zum bewussten ästhetischen Minimalismus injeder dieser drei Gruppen finden sich mehrere "Toscana"-Nennungen, während bei allen
anderen Typen insgesamt nur eine Nennung auftritt. Ansonsten aber differieren sie
voneinander. Die Konservativ Gehobenen weisen die stärkste Komfortorientierung im
Urlaub auf. Zwar beschränken sie ihre Urlaube weitgehend auf europäische Zielgebiete,
beanspruchen dabei aber gehobene Qualität. Zusammen mit den Liberal Gehobenen zeichnen sie sich - als legitime Nachfahren des "Baedeker"-Tourismus (Knebel 1960, S. 24-26)
- durch ein starkes Interesse am Studium kulturhistorischer Sehenswürdigkeiten aus, versuchen also eine "Kennerschaft" der besuchten Urlaubsorte zu erlangen. Die Liberal Gehobenen treten insgesamt "kosmopolitischer" auf: Sie neigen eher zu Fernreisezielen- immerhinjeder zehnte nennt Nordamerika als Zielgebiet. Auffallig ist ferner, dass von dieser
Gruppe zahlreiche "Luxusurlaube" angegeben werden, z.B. Kreuzfahrten im Atlantik, Pazifik und in der Karibik, Reisen nach Zentralafrika, China, Nepal und Hawaii.
Die Reflexiven praktizieren den von allen Gruppen "globalisiertesten" Lebensstil - dje
ganze Welt ist eine potenzielle Urlaubsregion, und das Reisen fungiert als postadoleszenter Initiationsritus in diesem stark studentisch-akademisch geprägten Milieu. 38% aller
Urlauber nennen hier eine außereuropäische Destination. Die USA-Rundreise gehört bereits zum Standard, so dass die angestrebten Ziele zunehmend "exotischer" werden: Reisen nach Australien und Neuseeland, nach Mittel- und Südamerika, Südafrika und nach
Fernost sind hier nicht länger Traumziele, sondern Urlaubs-Usus - auch der "Inka-Trail"
ist inzwischen ausgetreten. Die Reflexiven legen nicht nur Wert auf das Kennenlernen
fremder Kulturen, sondern auch darauf, im Urlaub ,,neue Leute kennen zu lernen" und
"richtig aktiv zu sein". Nicht verwunderlich ist daher der hohe Stellenwert von Städtereisen, die gerade das Gegenteil von Ruhe und Entspannung bedeuten. Doch kann die "Individualität" des Urlaubs auch einmal ganz anders aussehen - z.B. "zu zweit auf dem Deich
an der Nordsee", wie eine Befragte äußerte.
Die Tendenz zum außereuropäischen Reisen ist den Hedonisten mit den Reflexiven gemein. Neben den USA finden sich hier aber etwas "gängigere" Destinationen, insbesondere Nordafrika (vor allem Ägypten) und der karibische Raum mitsamt der Dominikanischen Republik. Bereits an diesen Zielen wird die starke Neigung der Hedonisten zu Son-
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverha/ten . 489
nen- und Strandurlauben deutlich, die nur noch von den Unterhaltungssuchenden übertroffen wird - etwa jeder zweite Urlauber hatte in diesen Milieus eine (mutmaßliche)
Stranddestination, jeder vierte reiste nach Spanien. Besonders häufig von den Hedonisten
genannt werden die Kariarischen Inseln, die Balearen, Kreta und Südfrankreich. Überraschend sind die nur leicht überdurchschnittlichen Werte, die die Hedonisten bei den Items
"neue Leute kennen lernen" und ,,richtig aktiv sein" aufweisen - hier wäre eine Größenordnung ähnlich der der Unterhaltungssuchenden und Reflexiven zu erwarten gewesen. Zu
beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Reflexiven "Aktivität" und "neue Leute"
in Verbindung mit der Exploration "fremder Kulturen", die Unterhaltungssuchenden in
Verbindung mit "Sonnenbaden und Relaxen" suchen. Bei den Reflexiven ist als Geselligkeitsorientierung eher der Erfahrungsaustausch mit internationalen "Rucksack"-Touristen
(die Urlaubssprache ist Englisch) oder sogar das Kennenlernen von Einheimischen zu vermuten. Die Geselligkeit der Unterhaltungssuchenden - jeder dritte ist Single - richtet sich
vermutlich eher auf (deutsche) Miturlauber, die man bei Sangria und Beachvolleyball kennen lernt. Auch dieser Lebensftihrungstypus weist einen leicht überdurchschnittlichen
Wert bei außereuropäischen Urlauben auf, die zu einem erheblichen Teil auf Thailand gerichtet sind. Der touristische Symbolwert liegt in diesem Milieu in der demonstrativen
"Teilhabe am Massentourismus".
Als "durchschnittlich" erweist sich das Reiseverhalten der großen Gruppe der Aufstiegsorientierten. Dies hat mit ihrer Position in der Mitte des sozialen Raumes und einer statistischen Mittelung unterschiedlichster Reisedestinationen zu tun. Prätentiöse Orientierungen des beruflich aufstrebenden Teils und pragmatische Erwägungen des stärker familiär gebundenen Teils der Aufstiegsorientierten finden sich hier gleichermaßen.
Diese eher deskriptive Darstellung des differenziellen Urlaubsverhaltens kann einer tiefgängigeren Erklärung aus der Lebensfiihrungsperspektive zugänglich gemacht werden, indem die Informationen aus Abb. 4 und weitere, hier nicht präsentierte Daten zu polar
ausgerichteten Urlaubsorientierungen im Raum der Lebensftihrung verdichtet werden
(Abb.5).
In diesem Raum lassen sich mehrere Dimensionen von Urlaubsorientierungen erkennen,
die mit den Dimensionen der Lebensftihrung korrespondieren. Bereits hier wird auch der
Zusammenhang von sozialer Lage, Lebensftihrung und Urlaubsentscheidungen deutlich.
Die Restriktionen, die durch eine geringe Menge an ökonomischem Kapital ausgelöst werden, machen sich entlang der vertikalen Achse bemerkbar: Ein Kostenbewusstsein bis hin
zum Urlaubsverzicht prägt das Kalkül der Gruppen eines niedrigen Ausstattungsniveaus.
Den Gegenpol bilden die Kultur- und Komfortorientierungen der Typen eines gehobenen
Ausstattungsniveaus. Interessant ist dabei, dass die Variation der Wichtigkeit von Komfort im Urlaub mit zunehmender Traditio/nalität der Lebensftihrung steigtlO • Ähnlich wie
Bourdieu (1982) innerhalb der "herrschenden Klasse" Unterschiede in der Fokussierung
des Investitionsverhaltens auf die Route ökonomischen Kapitals versus die Route kulturellen Kapitals findet, so lassen sich hier differenzielle Investitionen touristischen Kapi-
490 . G.Offe
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Invesfitionsverhalten . 491
Ausstattungsniveau
i--------......,....-------,.....-----_-----.
Kultur- und
Komfortorientierung
gehoben
mittel
Ruhe- und Naturorientierung
Action- und Sonnenorientierung
niedrig
Kostenbewusstsei n
traditionaV
biogr. Schließung
teilmodern!
biogr. KonsolidierWlg
modern!
biogr. Offenheit
Modernität!
biogr. Perspektive
Abb. 5: Urlaubsorientierungen im Raum der Lebensführung
tals innerhalb der gehobenen Milieus beobachten. Die Konservativ Gehobenen heben den
Urlaubskomfort zusammen mit einer Orientierung an etablierter Kultur ("kulturhistorische Sehenswürdigkeiten") hervor, betreiben aber keine Maximierung der "Fremdheitseffekte" der Urlaubsziele (kaum Fernreisen). Die Liberal Gehobenen verfolgen eine Mittelstrategie der Orientierung am kultmellen Bildungskanon und der Verleugnung des Einsatzes ökonomischen Kapitals (idealtypisch: der "ganz einfache" Urlaub in der Toscana,
dort aber im Hauseigentum) - jedoch finden sich hier auch die Urlaubsarten mit dem
höchsten "objektiven" zeitgenössischen Distinktionswert, etwa außereuropäische Kreuzfahrten. Die Reflexiven beziehen ihre symbolischen Gewinne daraus, dass sie touristisches Kapital durch die "Fremdheit" (Cohen 1972) der Destination akkumulieren, ohne
dass der Komfort dabei allzu wichtig genommen wird.
Die Lebensfiihrungstypen unterscheiden sich entlang der Dimension der Modernität bzw.
biographischen Perspektive darin, wie sie "Erholung" und "Natur" definieren. Dem Erlebnis von Naturlandschaften wird von den traditionalen Gruppen höchste Priorität beigemessen. "Natur" bedeutet hierbei die unberührte, menschenverlassene, ruhige Natur (das
Ewige, Wahre und Schöne), um die herum der gesamte Urlaub organisiert wird, wie etwa
beim Bergwandern. Im modernen Segment der Typologie werden dagegen spezifische Na-
Meer, die aber oft nur als "Beiwerk" am menschenbevölkerten Strand erlebt werden. Zum
anderen wird Natur "erarbeitet", indem sie als Event im Rahmen eines weiter angelegten
Urlaubs auftritt, z.B. in Form einer USA-Rundreise, bei der man den Grand Canyon, das
"Marlboro Country" und die Salzwüste "macht" (so eine geläufige Redewendung), aber
auch die Großstädte Los Angeles, San Francisco und Las Vegas in die Reise integriert.
"Erholung" bedeutet hier nicht "Ruhe", sondern "Action". Die Urlauber des modemen
Lebensfiihrungssegments betreiben - bedingt durch ihr jüngeres Alter und die subjektiv
erlebten Freiheiten - mehr als alle anderen die Aneignung neuen touristischen Kapitals.
Auch im Hinblick auf außergewöhnliche Urlaubserlebnisse besteht in diesen Milieus geradezu eine "Pflicht zum Genuss" (Bourdieu 1982, S. 576).
Besonders polarisiert stehen sich - auf einer Diagonalen mit den Endpunkten "farniliarity" und "strangeness" (Cohen 1972) - die Gruppen der Reflexiven und der Traditionellen Arbeiter gegenüber. Der typische Reflexive hält sich rur den Individualreisenden
schlechthin (Touristen sind immer die anderen!), der neue Erfahrungen in fremden Ländem sammeln möchte. Die "Grand Tour" lebt in der von den Reflexiven untemommenen
Weltreise fort. Die Traditionellen Arbeiter verreisen dagegen großteils gar nicht mehr oder
machen heimatnah Urlaub und begeben sich in diesem Fall in einen "environmental
bubble" (Cohen 1972), in dem es heißt: "Man spricht Deutsch!" Die idealtypischen Pole
von Cohens Dichotomie werden also bei einer Kombination der Modernität und des Ausstattungsniveaus der Lebensführung erreicht.
2. Die statistische Erklärbarkeit von Urlaubszielwahlen
Nachdem Urlaubszielwahlen bislang inhaltlich analysiert wurden, soll abscWießend ihre
statistische Erklärbarkeit untersucht werden. Als Maßzahlen werden dazu die Anteile erklärter Varianz (R2) in linearen Regressionsmodellen bzw. die Anteile erklärter Devianz
(Pseudo-R2) in logistischen Regressionsmodellen herangezogen. Hierbei findet ein Vergleich der "psychographischen Segmentierung" über das Lebensruhrungskonzept mit der
"soziodemographischen Segmentierung" über verschiedene "objektive" sozialstrukturelle
Variablen statt.
Tab. 3 zeigt lineare Regressionsmodelle zur Erklärung der neun erhobenen Urlaubsmotive.
Bivariat leistet die Lebensfiihrung im Hinblick auf alle Motive auf dem 1%-Niveau signifikante Erklärungsbeiträge, lediglich rur die Motive "Naturlandschaften erleben" (IO%-Niveau) und "viel Ruhe haben" (5%-Niveau) fällt die Erklärungskraft geringer aus. Wie die
separate Betrachtung der Indizes verdeutlicht, geht die Erklärungsleistung meistens entweder auf die Ausstattungs- oder die Modernitätsdimension zurück.
Wenn man die R2-Werte über alle abhängigen Variablen mittelt, erklärt die Lebensführungstypologie durchschnittlich 4,7% der Varianz (vgl. Spalte ganz rechts). Damit weist
sie von allen betrachteten Variablen die höchste Erklärungskraft auf - lediglich eine "Typologie der sozialen Lage", die aus Interaktionen vonje drei Alters- und Bildungsgruppen
492
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten
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493
besteht, erklärt ähnlich viel Varianz. Als Einzelvariablen kommt dabei dem Alter eine wesentlich höhere Bedeutung zu als der Bildung (3,8% gegenüber 1,3%). Die Bedeutsamkeit
des Lebenszyklus (Lawson 1994; Ryan 1995, S. 70; Cooper/Fletcher/Gilbert/Wanhill/
Shepherd 1998, S. 43-45) ist auch der Hauptgrund rur die relativ hohe Erklärungskraft der
Erwerbsstatus- und Lebensformvariablen, die hinsichtlich einiger Kategorien (z.B. Schüler/Studenten und Rentner; Singles und Partnerschaften mit Kindern) stark alterskorreliert
sind. Auch die berufsbezogenen Variablen - berufliche Stellung, soziale Klasse nach Müller (1998), Sozialprestige, gewichtetes Pro-Kopf-Haushaltsnettoeinkommen - weisen
über alle Modelle hinweg eine moderate Erklärungskraft auf. Sie sind gerade rur die Urlaubsmotive bedeutsam, die im Zusammenhang mit dem verrugbaren ökonomischen Kapital stehen ("gehobener Komfort", "sorgfältige und kostenbewusste Planung").
Um die Frage zu beantworten, in welchem Maß die Erklärungskraft der Lebensführungstypologie bestehen bleibt, wenn die sozialstrukturellen Einflussgrößen statistisch kontrolliert werden, wird jeweils ein multiples Gesamtmodell spezifiziert, das außer der Lebensfiihrung die Variablen Alter, Bildung, Einkommen, Erwerbsstatus, berufliche Stellung und
Lebensform enthält. Durchschnittlich können in diesem "soziodemographisch-psychographisch" kombinierten Modell knapp 14% der Varianz der verschiedenen Urlaubsmotive
erklärt werden. Immerhin ein Viertel dieser Erklärungsleistung geht auf die Lebensruhrungsvariable zurück. Ihr Erklärungsbeitrag sinkt im Schnitt von 4,7% im bivariaten Fall
auf 3,6% bei Kontrolle der "soziodemographischen Segmentierung". Auch bei Berücksichtigung der direkten Struktureffekte auf die Urlaubsmotive behält die Lebensruhrung
also eine eigenständige Bedeutung. Insbesondere in den Modellen zu "fremden Kulturen",
"gehobenem Komfort", "Leute kennen lernen" und "aktiv sein" sinkt der R2-Wert nur unmerklich, im Modell zu "kulturhistorischen Sehenswürdigkeiten" steigt er sogar. Im Fall
von "Sonne und Relaxen" und "Naturlandschaften" ist vornehmlich das Alter für die Insignifikanz der Lebensfiihrungsvariable im multiplen Modell verantwortlich, im Modell
"viel Ruhe" die Variablen der vertikalen sozialen Lage und im Modell "sorgfältige und
kostenbewusste Planung" beide gleichermaßen.
Tab. 4 zeigt die Erklärungsbeiträge (Pseudo-R2 nach McFadden, kurz: p 2) der Modellvariablen in binomialen logistischen Regressionen bei der Erklärung von Urlaubszielen und
-arten ll • Aus der Lebensruhrungsperspektive lässt sich statistisch besonders gut erklären,
ob überhaupt ein Urlaub gemacht wird oder nicht, ob der Urlaub in Deutschland oder im
Ausland verbracht wird und ob es sich um einen (mutmaßlichen) Natururlaub handelt oder
nicht. In diesen Fällen ist die Lebensfiihrung bivariat die einflussreichste Variable, die
Drittvariablenkontrolle ruhrt allerdings jeweils zu einer Halbierung der Erklärungskraft. Im
Fall der Erklärung von Fernreisen, Strandurlauben und Städtereisen erweist sich die
Lebensfiihrung bereits bivariat als nur bedingt erklärungskräftig und büßt in den multiplen
Modellen ihre statistische Signifikanz weitgehend ein. Zusammenfassend kann davon gesprochen werden, dass die Typologie der Lebensfiihrung über die soziodemographische
Segmentierung hinaus einen wichtigen zusätzlichen Erklärungsbeitrag rur die Urlaubsent-
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten ' 495
494 . G. Otte
Tab. 4: Die Lebensführung im Vergleich mit soziodemographischen Merkmalen bei der Erklärung von Urlaubszielen und -arten (logistische Regressionen)
A. Bivariate Modelie:
Lebensführungstypologie
9
16,4***
7,5"'**
2,9"''11*
1,8*
6,6***
3,0**
Ausstaltungsindex
1
14,7***
1,8***
O,9*'"
1,2***
0,0
0,9**
Modernitätsindex
1
4,8***
5,4**·
2,5***
0,1
4,9***
1 ,5***
Typologie der sozialen Lage
8
7,7**-
4,7***
3,2***
2,0**
S,3***
6,2**'"
Alter (Kategorien)
S
3,8***
5,1***
2,4***
1,1*
6,2***
4,7***
Bildung (Kategorien)
2
6,9***
0,9*
1,2**
O,S",*
1,2**
1,8***
0,3
3,9*"'*
2,9***
S
4,8***
S,4***
2,2*111*
10
7,3***
3,6**
1,2
3,2***
1,4
1,8
9
6,8**-
3,3**
2,5**
2,4**
1,6
0,9
Sozialprestige (MPS nach Wegener)
1
3,3111*-
0,1
0,3
1,1***
0,3
0,2
gew. Pro-Kopf-Einkommen (Quintile)
S
3,2***
1,0
1,6**
0,6
0,9
1,S
Lebensform
6
3,2***
2,2*
1,0
1,7**
5,1**-
4,6***
Kinder unter 18 im Haushalt (Anzahl)
1
0,0
0,6*
1,9***
0,6*·
0,2
O,S*·
8,1**
7,8***
1,2
1,S
Erwerbsstatus
Berufliche Stellung (2fache Einordnung)
Soziale Klasse (nach Maller)
B. Multiples Modeli:
Gesamtmodell'
davon: l.p 2 der LebensfOhrung
42
25,5***
14,6***
9
7,S***
3,8*'"
1S,0***
12,6***
3,8***
2,8*
Anmerkungen: Statistisch signifikant auf dem *** 1%-Niveau, ** S%- bzw. * 10%-Niveau, gemessen an Likelihood-Ratio-Tests
der Modelle. 'Das Gesamtmodell enthält die Variablen LebensfOhrung, Alter, Bildung, Erwerbsstatus, berufliche Stellung, Einkommen und Lebensform. Vgl. zur Kategorisierung der sozialstrukturellen Variablen Tab. 3.
scheidungen liefert. Die Lebensführungsperspektive macht allerdings die Berücksichtigung
struktureller Variablen nicht obsolet.
Der theoretische Erklärungsansatz lebensftihrungsspezifischen Investitionsverhaltens
wurde hier nicht in allen Einzelheiten getestet. Insbesondere konnte nicht untersucht werden, welche kollektiv geteilten "Images" über bestimmte Urlaubszielklassen in den einzelnen Lebensführungstypen vorherrschen und in welcher Weise spezifische Urlaube und
Urlaubsbiographien tatsächlich zu symbolischen Gewinnen in sozialen Netzwerken führen. Dies müsste in zukünftigen Untersuchungen entweder durch nichtreaktive Datenerhebungsverfahren (z.B. die Urlaubskartenanalyse), vor allem aber mit Hilfe qualitativer
Fallstudien geschehen. Wichtig erscheint dabei die systematische Einbindung solcher Untersuchungen in ein zugrunde liegendes theoretisches Erklärungsmodell. In diesem Zusammenhang soll abschließend betont werden, dass die vorgeschlagene Typologie nicht den
Anspruch erhebt, die optimale Bevölkerungssegmentierung für das Urlaubsverhalten oder
andere soziale Phänomene zu sein. Zum einen sind die vorgeschlagenen Dimensionen, Typen und die Variablengrundlage durchaus streitbar. Zum anderen können für die Analyse
spezieller Bevölkerungsgruppen andere Typeneinteilungen nötig werden - z.B. könnte für
die Analyse des Seniorentourismus neben der Dimension des Ausstattungsniveaus eine
Dimension des Aktionsradius (und nicht der Modernität) zentral sein. Die wichtigste
Botschaft, die hier vermittelt werden soll, bezieht sich auf die vorgeschlagene Art der Typenbildung. Das "theoriereiche" Vorgehen erlaubt raum-zeitliche Vergleiche der Größe
und der Verhaltensweisen einzelner Typen, die theoretische Rückbindung der Lebensführung an die Ebene der sozialen Lage, ein realitätsnahes Sinnverstehen der Handlungslogiken der identifizierten Typen sowie eine effiziente Datenerhebung. Es trägt zu einer Behebung des Theoriedefizits der Tourismusforschung und zu einer verbesserten Erklärbarkeit von Urlaubszielwahlen bei.
Anmerkungen
Für Mitarbeit bei der Datenaufbereitung danke ich Nicole Litterst, fiir Unterstützung bei der Literaturrecherche Christine Gerbich. Bei Claudia Diehl bedanke ich mich fiir hilfreiche Anmerkungen zu einer
früheren Version dieses Artikels.
VI. Fazit und Ausblick
Die Wahl von Urlaubszielen wurde in diesem Beitrag als lebensführungsspezifisches Investitionsverhalten aufgefasst. Urlaubsinvestitionen führen zur Anhäufung touristischen
Kapitals, das langfristig Möglichkeiten zur Erlangung symbolischer Gewinne und sozialer
Anerkennung im persönlichen sozialen Netzwerk bietet. Sowohl die individuelle Lebensführung als auch das Urlaubsverhalten sind jedoch durch die Wirksamkeit verfügbarer
Ressourcen und Restriktionen - die soziale Lage - vorstrukturiert. Dies äußert sich darin,
dass für eine zufriedenstellende statistische Erklärung von Urlaubsentscheidungen sowohl
objektive, strukturelle Variablen als auch die subjektiv entworfene Lebensführung zu berücksichtigen sind (Weber 1994, S. 318). Empirisch wurde gezeigt, dass die Lebensführung dabei die erklärungskräftigste Variable darstellt. Ihr eigentliches Potenzial liegt aber
darin, dass sie einen Zugang zu sinnverstehenden inhaltlichen Erklärungen von Urlaubszielwahlen eröffnet.
Der Begriff wird damit enger gefasst als von Vester (1999, S. 78ff.), der auch die am Heimatort verfiigbaren und in die Urlaubsreise transfonnierten Kapitalien dem "touristischen Kapital" zurechnet.
3
Weitgehend ungeklärt ist in der Tourismusforschung die Frage, wann und warum Urlaubserfahrungen
entweder Anregungs- oder Sättigungseffekte implizieren, d.h. wann urlaubsortspezifisches touristisches
Kapital in derselben Urlaubsregion reinvestiert wird (wie im Extremfall des mir bekannten Ehepaares,
das zwanzig Jahre in Folge dieselbe Pension aufSylt aufsuchte) bzw. wann gerade ein ständiger Wechsel der Urlaubsziele angestrebt wird. Hilfreich fiir die Klärung dieser Fragen dürfte die Analyse von
Reisebiographien sein (Becker 1998).
4
In der Tourismusforschung scheint zum Teil die Auffassung vorzuherrschen, dass theoretische Modelle
möglichst allumfassend sein sollten (vgl. Z.B. Gilbert 1991). Der analytischen Wissenschaftstheorie zufolge ist jedoch gerade eine möglichst einfache ModelIierung anzustreben, die in der Lage ist, die wichtigsten Erklärungsmechanismen aufzuzeigen. Deshalb wird hier mit einem relativ sparsamen Erklärungsschema gearbeitet. Obwohl es zwischen allen Modellvariablen auch "Feedback"-Effekte gibt, werden diese nicht eingezeichnet, weil sie gegenüber den ausgewiesenen Kausalrichtungen als theoretisch
sekundär angesehen werden und zudem empirisch kaum modelIierbar wären. Verzichtet wird an dieser
496 . G.Offe
5
6
7
6
Stelle vereinfachend auch auf eine tiefer gehende Diskussion der Beziehungen zwischen latenten und
manifesten Variablen (Wertorientierungen - Lebensstil; Urlaubsmotive - Urlaubsverhalten).
Bourdieu, P. (1982), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.
1982.
Die Wahl einer bestimmten Lebensfilhrung in Abhängigkeit der Einbettung in eine spezifische soziale
Lage kann mit einer ähnlichen Logik wie die Urlaubszielwahl theoretisch erklärt werden. Diese Modellierung ist in einem Arbeitspapier beschrieben, das beim Verfasser angefordert werden kann. Dasselbe
gilt ftlr ausftlhrlichere Darstellungen der Herleitung, Operationalisierung und Auswertung der verwendeten Lebensftlhrungstypologie.
Bourdieu, P. (1983), Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, R. (Hrsg.),
Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 183-198.
Analytisch und empirisch können die beiden Subdimensiorten zumindest teilweise getrennt werden.
Zum Beispiel folgt eine christlich-religiöse Lebensfilhrung eher einem Kohorteneffekt und kann als
Festhalten an traditionellen Werten interpretiert werden, während häufiger Kinobesuch - heute wie fiüher - ein Altersphänomen ist, das ein spezifisches Gesellungsverhalten junger Leute zum Ausdruck
bringt, also von der Stellung im Lebenszyklus abhängt.
Beim Ausstattungsindex gelten Werte bis einschließlich 2,0 als "niedrig", Werte von größer als 2,0 und
kleiner als 3,0 als "mittel" sowie Werte von 3,0 und mehr als "gehoben". Dasselbe gilt analog ftlr die
drei Kategorien des Index der Modernität/biographischen Perspektive. Diese "Breakpoints" wurden gewählt, weil sie sich an den (metrisierten) vierstufigen Antwortskalen der Einzelitems orientieren. Inhaltlich bedeutet dies, dass Personen, die die einzelnen Items durchschnittlich ganz oder eher ablehnen, der
niedrigsten Indexkategorie zugeordnet werden; solche, die durchschnittlich zwischen Ablehnung und
Zustimmung schwanken, der mittleren Kategorie zufallen; und solche, die durchschnittlich eher oder
voll zustimmen, in die höchste Kategorie gelangen.
Der genaue Fragetext lautet: "Denken Sie einmal an den Urlaub, der Ihnen in den letzten drei Jahren
am besten gefallen hat. Wo haben Sie ihn verbracht?" (Unterstreichungen betont) Das Urlaubsziel sollte
von den Interviewern so erfragt werden, dass das Land sowie die besuchte Stadt oder Region erkennbar
werden (z.B. Frankreich, Atlantikküste) und dadurch eine annähernde Einschätzung der Urlaubsart ermöglicht wird (z.B. Natururlaub, Strandurlaub, Städtereise, usw.).
9
Die Frage lautet: "Wie wichtig sind Ihnen ganz allgemein die folgenden Dinge im Urlaub? Sehr wichtig, eher wichtig, eher unwichtig oder völlig unwichtig?"
10
Im modernen Segment variieren die gruppenspezifischen Mittelwerte beim Item "gehobener Komfort"
zwischen 2,45 (Unterhaltungssuchende) und 2,65 (Reflexive), im teilmodernen zwischen 2,49 (Heimzentrierte) und 2,74 (Liberal Gehobene) und im traditionalen zwischen 1,95 (Traditionelle Arbeiter) und
2,94 (Konservativ Gehobene).
11
Urlaub als lebensfOhrungsspezifisches Investitionsverhalten . 497
Das p 2-Maß ist ein modellinternes Güternaß und kann nicht zum Vergleich der Modelle mit unterschiedlichen abhängigen Variablen verwendet werden. Daher findet keine Berechnung der durchschnittlichen p 2- Werte statt.
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Dipl.-Soz.wiss. Gunnar Otte, geb. 1971, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Methoden der
empirischen Sozialforschung und angewandte Soziologie der Universität Mannheim sowie der ForschungssteIle "Stadt- und Regionalforschung Rhein-Neckar". Arbeitsgebiete: Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit, Lebensstilforschung, Kultursoziologie, Stadtsoziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung (quantitativ und qualitativ). Anschrift: Universität Mannheim, Lehrstuhl ftlr Methoden der empirischen Sozialforschung und angewandte Soziologie, Seminargebäude A5, D-68131 Mannheim, Tel.: +49621/181-2050, Fax: +49-621/181-2048, eMail: [email protected].
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