und Hauptschulen Simmern Anne Rauen Stand: 27.01.11 FL AS

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Staatliches Studienseminar für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen Simmern
Anne Rauen
FL AS
Stand: 27.01.11
Neurodidaktik
Lernforschung und Konsequenzen für die Schule
1. Fragestellungen der Neurodidaktik
Was kann uns die Hirnforschung über das Lernen lehren?
Unter dieser Fragestellung eröffnen sich dem neuen Gebiet der
Neurodidaktik viele Teilfragen:
-
Die Neurodidaktik
fragt: Was kann uns
die Hirnforschung
über das Lernen
lehren?
Wie funktioniert das Lernen beim Menschen?
Wie und wo speichert das Gehirn Lehr- und Lerninhalte ab?
Unter welchen Bedingungen lernen wir am besten?
Ist lebenslanges Lernen möglich?
Was kann die Schule von der Hirnforschung lernen?
Wie müsste man die schulische Praxis des Lernens mit
Blick auf die Hirnforschung verändern?
Wie müssten die Lehrpläne und Lernkonzepte der Zukunft
dann aussehen?
Sind bisherige Konzepte der Pädagogik und der Didaktik mit
den Ergebnissen der Hirnforschung deckungsgleich?
Vgl.: http://www.wz.nrw.de/wz/veran/Neuro2004_17.htm#P2 – Neuro 2004 : Hirnforschung für die
Zukunft- Symposion im Wissenschafatszentrum Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf am 17. November
2004
Die Fragen signalisieren eine Trendwende. Bisher immer wieder
auftauchende behaviouristische Konzepte können auf solche
Fragen keine Antwort mehr geben. Als Gestaltungsprinzip von
Lernprozessen können sie, wie die neuere Hirnforschung festgestellt hat, kein nachhaltiges Lernen bewirken. Die Ergebnisse
der Hirnforschung legen vielmehr nahe, dass Lernen ein aktiver
Prozess des lernenden Subjektes ist, der als Handlung aufgefasst
werden muss, welche die ganze Person in Anspruch nimmt.
Im Vorwort zu seinem Buch „Lernen – Gehirnforschung und die
Schule des Lebens“ schreibt Professor Manfred Spitzer: „Schüler
sind nicht dumm, Lehrer nicht faul und unsere Schulen nicht
kaputt. – Aber irgendetwas stimmt nicht, das ahnen wir seit einiger
Zeit.“
Die Auffassung des
Lernens geht weg
von behaviouristischen Konzepten
hin zu einer
konstruktivistischen
Auffassung
(siehe: Spitzer, M.: Lernen. – Heidelberg u. Berlin: Spektrum 2003 – korrigierter
Nachdruck, S. XIV)
All dies präsentiert uns die Forschungsrichtung der Neurodidaktik
als ein spannendes Arbeitsfeld. Neurodidaktik ist eine verhältnismäßig neue Wissenschaft, die sich an der Schnittstelle von Pädagogik und Neurowissenschaften interdisziplinär entwickelt.
Hirnforschung und
Pädagogik arbeiten
im Forschungsgebiet der Neurodid.
Allerdings können die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und
Befunde nur dort eine stichhaltige Basis vorfinden, wo eine reformpädagogisch inspirierte Unterrichtspraxis die notwendigen Daten
liefert. Im Labor können solche Daten nicht erhoben werden.
Im Gegenzug erhält die Pädagogik stichhaltige Begründungen für
erfolgreiches Lehren in Misserfolg vermeidenden Lernarrangements.
Innerhalb der Gehirnforschung beschäftigen sich zahlreiche Teildisziplinen mit dem Zusammenhang zwischen dem Lernen und der
Entwicklung des Gehirns, deren Ergebnisse hier kurz aufgeführt
werden sollen:
• Neurobiologie: Beschreibt evolutionär bewirkte Strukturen
als Träger des Lernens (z. B. neuronale Veränderungen,
Gedächtnis).
• Neuropsychologie: Die Rolle des limbischen Systems für die
Entstehung und die Steuerung von Emotionen.
• Entwicklungsneurologie: Wissen über die Modellierbarkeit
von Prozessen, die zu einer individuellen Lerngeschichte
und damit zu einer individuellen Gehirnstruktur führen.
• Neurophysiologie: Das Funktionieren des Gehirns in
Netzwerken und ganzheitliche Auffassung der Gehirnfunktionen.
Interdisziplinär
zusammen.
Viele Teildisziplinen
der Hirnforschung
beschäftigen sich
mit dem Lernen:
Neurobiologie
Neuropsychologie
Entwicklungsneurologie
Neurophysiologie
(siehe: Herrmann, Ulrich: Gehirngerechtes Lehren und Lernen: Gehirnforschung
und Pädagogik auf dem Weg zur Neurodidaktik. – In: ders., (Hrsg.):
Neurodidaktik. – Weinheim und Basel 2006
2. Abspeicherungs- und Strukturierungsprozesse im Gehirn
2.1 Der Bau von Nervenzellen
Vereinfacht gesagt bestehen Nervenzellen aus dem Zellkörper mit
dem genetischen Material, dem Dendritenbaum, einem
hochverzweigten Ausläufer und dem Axon, das bis zu 1 m lang
werden kann.
1) Zellkörper
2) Zellkern
3) Zellplasma
4) Ansatz des Axons am Zellkörper
5) Dendritenbaum
6) Axon
7) Synapsen
8) Synaptische Verbindung von einer
anderen Zelle
a) zum Zellkörper
b) zum Dendriten
Nervenzellen sind
Informationsverarbeitungseinheiten.
Sie empfangen
Signale über die
Dendriten,
verrechnen sie im
Zellkörper
Quelle:
http://rfhs8012.fhregensburg.de/~saj39122/pengl/
diplomarbeit/node4.htm
(übernommen am 19. 4. 2005)
und senden sie
über das Axon und
die Synapsen
weiter.
Die Dendriten sind die Empfangsorgane des Neurons. Mit ihren
Verzweigungen können sie mit bis zu 10 000 anderen Nervenzellen in Verbindung treten.
Der Zellkörper „verrechnet“ die ankommenden Signale. Dabei wird
im Lernprozess das genetische Material des Zellkerns mit
einbezogen.
Das Axon mit den anhängenden Synapsen ist die Sendestruktur
des Neurons, welches auf diese Weise Signale an andere Zellen
weitergibt. Die Synapsen sind als Kontaktstellen zu den folgenden
Zellen aufzufassen.
Über dieser in didaktischer Reduktion vorgenommenen Information darf nicht vergessen werden, dass in Wirklichkeit diese
Übertragungsprozesse mit sehr komplizierten chemischen Details
ausgestattet sind. Angesichts der Vielzahl von Neurotransmittern,
ihrer Entstehungsorte, Mengenverhältnisse, Wirkungs- und
Kombinationsmöglichkeiten ist die Hirnforschung noch lange nicht
am Ende ihrer Erkenntnismöglichkeiten angelangt. Wir dürfen aber
annehmen, dass die Ergebnisse dieser Forschungen neurodidaktische Relevanz erlangen werden.
2.2 Die Signalübertragung zwischen Nervenzellen
Bildquelle: http://www.buerlecithin.de/images/
Reizübermittlung_72dpi.jpg (übernommen am 19.4.05)
Die Impulse, die eine Nervenzelle
über die Synapsen erhält, erreichen
den Zellkörper als chemische Ströme, die hier gesammelt, verrechnet
und modifiziert werden. Nur wenn
das elektrische Potential, das sich
durch den Input in der Nachfolgezelle entwickelt, hoch genug ist, leitet
die Zelle den Impuls über ihr Axon
weiter.
Am Endpunkt des Axons sitzen die
Synapsen, in welchen der elektrische Impuls in einen chemischen
Impuls umgewandelt wird. Es kommt zur Ausschüttung von
Botenstoffen (Neurotransmittern), die den synaptischen Spalt
durchwandern und auf der anderen Seite auf Rezeptoren stoßen,
die passgenau geeignet sind, diese Botenstoffe aufzunehmen.
Dadurch wird die nachfolgende Zelle für einen Einstrom von Ionen
aus der Zellumgebung geöffnet, die in ihr eine neue elektrische
Ladung auslösen.
Das bedeutet, dass die Impulse in einer Zelle durch die Synapse
mittels Enzymen und Botenstoffen zu sehr spezifischen Signalen
verändert werden können. Die Synapse bestimmt dadurch sehr
genau, welche Impulse durchgelassen werden und welche nicht.
Wenn diese Signalübertragung auf Dauer chemisch-molekular
verändert wird (Synapsenmodifikation), spricht man von
Gedächtnis. Je häufiger solch spezifische Impulse von einer
Die Übertragung
von Impulsen der
Out-putneuronen
erfolgt über die
Synapsen.
Das sind Schaltstellen an den
Endpunkten der
Nervenfasern.
Die Outputneuronen
geben Impulse auf
chemischem Wege
mithilfe von Neurotransmittern weiter.
Die Inputzelle wird
durch die Neurotransmitter durchlässig für Ionen aus
der Zellumgebung,
die in ihr ein
elektrisches
Potential auslösen.
Gedächtnis entsteht
durch Synapsenmodifikation,
vor allem
Synapse gesendet werden, desto stärker wird die Verbindung und
desto schneller wird ein elektrisches Potential ausgelöst und
weitergegeben.
Die Stärke der synaptischen Verbindung entscheidet also darüber, ob die folgende Zelle aktiviert wird oder nicht. Über die
Synapsenstärke repräsentiert ein Neuron einen bestimmten Inhalt,
z. B. den Impuls für eine bestimmte Reaktion. Es feuert nur, wenn
es durch ausreichend Neurotransmitter aktiviert wird.
durch
Veränderungen in
der
Synapsenstärke.
Vgl.: Spitzer, Manfred: Lernen.- Heidelberg u. Berlin: Spektrum, korrigierter
Nachdruck 2003, 41 – 44
http://www.umm.uni-heidelberg.de/studium/tdl%20Programmheft.pdf
(Baden-Württemberg: Tag der Lehre 2010, S. 6 f., Henning Scheich: Hirnbiologische Grundlagen optimalen Lernens)
2.3 Neuronale Netze
Nervenzellen im Gehirn kann man sich als Informationseinheiten
vorstellen, die entweder aktiv sind (1) oder nicht (0).
Neuronen sind durch ausgedehnte Netzwerke miteinander verbunden. Jedes einzelne Neuron steht mit vielen anderen Neuronen
in Verbindung, die alle gleichzeitig Impulse erhalten, wenn das
eine Neuron feuert. Man nennt dies Parallelverarbeitung. In
komplexen Mustern sind die Neuronen aktiv bzw. ruhen sie. Durch
die Parallelverarbeitung erfolgt das Erkennen von Sachverhalten
sehr schnell, gleichgültig, wie viele Neuronen beteiligt sind.
Die Entwicklung des Gehirns besteht in den Veränderungen dieser
Vernetzung. Beim Lernen wird das bereits vorhandene Netzwerk
aktiviert und es bilden sich zunächst flüchtige Strukturen.
(Arbeitsgedächtnis) Je häufiger eine Verbindung benutzt wird,
desto dicker werden die Verbindungsfasern, was einen Zuwachs
an Übertragungsschnelligkeit, Synapsenstärke und Stabilität
bedeutet. Häufig genutzte Verbindungsfasern überzieht das Gehirn im Laufe der Zeit mit Myelinfasern um eine ungestörte Signalübertragung zu gewährleisten. Diese schützende Faserhülle führt
zu einer weiteren Stabilisierung von Gedächtnisinhalten – aber
auch zu ihrer weitgehenden Unveränderbarkeit. Das erklärt, weshalb in der Kindheit Gelerntes so besonders gut und sicher erinnert werden kann. Die Umbauprozesse in der Kindheit sind
massiv und sie werden effektiv gespeichert. Später erworbene
Nervenbahnen sind weniger gut myelinisiert. Die Gedächtnisinhalte, die durch sie repräsentiert werden, können daher leichter
verändert und auch leichter vergessen werden. Allerdings erfolgt
der Umbau im Erwachsenengehirn sehr viel langsamer. Er führt zu
einer Ausdifferenzierung der in der Kindheit gelegten Grundlagen.
Das Gehirn verarbeitet ungeheure Mengen an Informationen. Es
kann dies leisten, weil die Neuronen vor allem hochgradig unter
sich selber vernetzt sind. Nur eine von 10 Millionen Fasern ist mit
Neuronen arbeiten
„digital“. Sie sind
entweder aktiv oder
nicht.
Ihr hohes Arbeitstempo erreichen sie
durch Parallelverarbeitung.
Eine dauerhafte
Verankerung neuer
Inhalte im Gedächtnis erfolgt durch
wiederholte Aktivierung der
Nervenbahnen.
Durch die Myelinisierung der Nervenfasern werden Gedächtnisinhalte
festgeschrieben.
Wegen der hochgradigen internen
Vernetzung ist
unser Gehirn im
der Außenwelt verbunden (Sinnesorgane, Muskeln). Alle anderen
verbinden das Gehirn mit sich selbst! Infolge dessen ist das
Gehirn, wenn wir reagieren, auch im Wesentlichen mit sich selbst
beschäftigt. Der Effekt der von außen eingelassenen Erregungen
ist verschwindend klein gegenüber dem internen Geschehen.
Wesentlichen mit
sich selbst
beschäftigt.
(vgl. Roth, 2001, S. 214)
2.4 Karten im Gehirn
Das Gehirn bildet seine Regeln selbst:
Die Repräsentationen von Sachverhalten sind im Gehirn kartenförmig angeordnet und zwar erfolgt die Vernetzung der Neuronen
nach den Prinzipien der Häufigkeit und Ähnlichkeit. Wenn also ein
bestimmter Input weitergegeben wird, erreicht dieser nicht nur ein
Neuron sondern auch die in der Umgebung. Sie alle reagieren auf
ähnliche Signale und antworten deshalb auf diesen Input. Weiter
entfernt liegende Neuronen dagegen werden gehemmt. (Centersurround-Prinzip).
So kommt es, dass z. B. im visuellen Kortex benachbarte Zellen
alle auf einen ähnlichen Typ von Farben oder Linien reagieren.
Das Prinzip der Häufigkeit setzt sich im Sprachzentrum durch,
wenn die Repräsentationen gegensätzlicher Wörter (Zucker – süß
– sauer – Zitrone) plötzlich nahe beieinander auftauchen. Die
Gegensatzbildung ist ein häufiges Mittel, um Adjektive
voneinander abzugrenzen.
Je häufiger eine Repräsentation aufgerufen wird, desto ausgedehnter ist das Areal, das sie im Gehirn einnimmt. So wächst z. B.
das Areal für die Hände und für Töne, wenn jemand das Gitarrespiel erlernt.
Die Karten auf der untersten Ebene (primäre Karten) projizieren
über Nervenbahnen zu Karten in teilweise entfernten Hirnbereichen (sekundäre und tertiäre Karten), die höhere Inhalte (Verknüpfungen) repräsentieren.
Die Grundprinzipien für die Strukturierung von Karten im Gehirn
sind lt. Manfred Spitzer:
• die Plastizität der Synapsen
• die hohe Konnektivität des Gehirns und
• die Ordnung nach Ähnlichkeit und Häufigkeit.
Karten im Gehirn
entstehen nach den
Prinzipien
der Ähnlichkeit,
der Häufigkeit
der Plastizität
und der
Konnektivität
(siehe: Spitzer, Manfred: Lernen. – Heidelberg u. Berlin: Spektrum 2003, S. 102
ff.)
Da diese vier Prinzipien für alle „Karten“ im Gehirn gelten, sind sie
strukturell analog zueinander ausgebildet, gleich welcher ProjekDie Karten im
tionsebene sie zuzuordnen sind. Man spricht deshalb auch von der Gehirn sind
selbstähnlich.
Selbstähnlichkeit der Strukturen im Kortex.
Mit anderen Worten: Einmal geknüpfte Verbindungen entwickeln
sich schrittweise zu Mustern und Strukturen. Diese „Schaltstrukturen“ reagieren immer dann, wenn sie in strukturähnlichen Situationen aktiviert werden. Das heißt, unser Gehirn konstruiert aktiv
„Hypothesen“, wie in einer Situation mit dieser oder jener Struktur
zu verfahren ist. Wir nehmen die Situation also nicht mehr so wahr
wie sie ist, sondern wir reagieren nach der Maßgabe unserer
Unser Gehirn
arbeitet selbstreferentiell:
Die Neuronen im
Gehirn sind in
intrakortikalen Verknüpfungen! Wir erleben die Welt also gemäß
unserer Vorstellungen und halten diese unsere Vorstellungen für
real – denn eine Alternative haben wir nicht. In der Hirnforschung
wird von selbstreferentieller Wahrnehmung gesprochen und
gemeint ist damit, dass wir immer gemäß unserer eigenen Struktur
reagieren.
hohem Grade mit
sich selbst vernetzt
und reagieren
gemäß ihrer
eigenen Struktur.
(vgl.: Maturana, 2001, S. 18f.,
Singer, 2002, S. 72/S. 80/S. 92)
3. Der Einfluss der Emotionen
Emotionen spielen beim Lernen eine wichtige Rolle. Sie entstehen
in tiefliegenden Hirnstrukturen, in dem sog. limbischen System.
Je nachdem, wie eine Situation bewertet wird, werden unterschiedliche Regionen des limbischen Systems aktiviert und es
kommt zu sehr schnellen emotionalen Reaktionen, lange bevor es
uns bewusst wird, woher dieses „Gefühl im Bauch“ kommt. Wir
stellen uns auf Extremsituationen also sehr rasch ein.
Manfred Spitzer schreibt: „Was den Menschen umtreibt, sind nicht
Fakten und Daten, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem
andere Menschen“. (Spitzer 2003, S.160) Was wir lernen, verbinden
wir mit der Situation, in der wir es lernen und hier wiederum
speziell mit den Emotionen, die in dieser Situation vorherrschten.
Sie bestimmen, ob wir einen Lerngegenstand als so bedeutsam
erkennen, dass wir uns mit ihm lernend beschäftigen.
Wenn wir die Lernsituation als unangenehm empfinden, stehen wir
unter Stress. Negativ empfinden wir eine Situation besonders
dann, wenn wir sie nicht kontrollieren können und alles über uns
ergehen lassen müssen.
Bekanntlich ist Stress einem schnellen Lernen förderlich. Aber nur
für begrenzte Zeit. Hält der negativ empfundene Stress an, führt
dies zur Ausschüttung von Hormonen, die zum Zelluntergang im
Hippokampus führen können. Ohne den Hippokampus aber
können wir nichts Neues lernen und behalten. Ein Mensch, der
dem Lernen negativ gegenübersteht, der sich vor dem Lernen (vor
der Schule) fürchtet, kann also nicht lernen!
Auch gilt es zu bedenken, dass Gedächtnisinhalte, die mit Angst
gelernt werden (z. B. im Fach Mathematik) diese unangenehme
Emotion sofort aktualisieren, sobald nur ein Teilinhalt des
Gelernten abgerufen wird. Es kommt zu einer Stressvermeidungsreaktion, welche eine Lernblockade hervorruft.
Die räumliche Anordnung der entsprechenden Hirnregionen
spiegelt diese Erfahrungen wider, denn direkt neben dem Hippocampus, der für die Bildung des Langzeitgedächtnisses eine
wichtige Rolle spielt, befindet sich die Amygdala (Mandelkern),
welche unsere Erlebnisse emotional bewertet.
Im limbischen
System
werden Situationen
emotional
eingefärbt.
Emotionen werden
immer mitgelernt.
Dauerstress führt
zum Zelluntergang
im Hippokampus
und macht das
Lernen zunehmend
unmöglich.
Begleiten negative
Emotionen die
Verankerung von
Gedächtnisinhalten,
werden sie bei
deren Aktualisierung ebenfalls
aktiviert.
(Lernblockade)
Gehirnregionen für
Gedächtnisbildung
und Emotionen sind
eng benachbart.
Lernen wir hingegen mit positiven Emotionen, ausgelöst durch das
Positive Emotionen
Gefühl, selbst steuernd eingreifen und den eigenen Erfolg voran
beim Lernen
treiben zu können, ist der Lerneffekt sehr zufriedenstellend.
Solch positive Emotionen werden besonders dann entwickelt,
wenn der Lernende eine Verbindung der zu lernenden Dinge zur
eigenen Lebenswelt erkennt. Dies erzeugt innere Anteilnahme und
die „Spannung des Dabei-Seins“ (Spitzer, 2003, S. 160). Die frühe
Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist deshalb für die Entwicklung
von Lernbereitschaft eine zentrale Erfahrung. Diese Grundeinstimmung der Persönlichkeit ist eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen.
entstehen durch
Selbststeuerung
und damit
verbundene
Erfolgserlebnisse.
Das Erleben von
Selbstwirksamkeit
wird zu einem
zentralen Lern- und
Handlungsantrieb.
Diese kurze Einlassung zur emotionalen Steuerung des Lernens
zeigt uns erneut: Wir erleben das, was wir schon kennen und das,
was wir ertragen können! Wirklichkeit ist etwas, was in uns
entsteht. Wenn wir Stress erleben, ist dies „... eine Frage der
Bewertung und der Dosis.“ (Spitzer, 2003, S. 173) Stress entsteht im
Kopf.
Dazu stellt Gerald Hüther fest, dass das Gehirn „... nicht in erster
Linie als Denk- sondern als Sozialorgan gebraucht und
entsprechend strukturiert wird“.
(Hüther, G.: Die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die Strukturierung des menschlichen Gehirns.in: Herrmann, U.: Neurodidaktik. – Weinheim und Basel 2006, S. 47)
Von Geburt an lernt der Mensch in sozialen Verbänden (Familie,
Sippe, Freunde... ) durch Prozesse der Erziehung und Sozialisation. Keine kulturspezifische Leistung ist angeboren. Wir erlernen
sie vielmehr durch die aktive Einflussnahme anderer Menschen.
Das Stirnhirn (der präfrontale Kortex) ist die Gehirnregion, welche
die Steuerungsfunktion all dieser Lernprozesse übernimmt und die
als letzte ausreift. Ohne Frontalhirn wäre eine Handlungsplanung
und Handlungsfolgen-Abschätzung nicht möglich, Empathie und
Verantwortungsgefühl würden uns fehlen. Die Ausreifung des
neuronalen Korrelates zu diesen Verhaltens- und Charakteraspekten kann nur durch die ständige zielführende Auseinandersetzung
mit erwachsenen Vorbildern erfolgen, die das Kind entsprechend
anleiten.
Die Grundlage der Entwicklungs-, Erziehungs- und Sozialisierungsprozesse ist Sicherheit und Vertrauen. Nur dann kann der
Mensch lernen. Kinder brauchen klare, offene und starke Bezugspersonen als Vorbilder um Selbstwirksamkeit und ein Sinnverständnis zu entwickeln.
Die Herausbildung komplexer Verschaltungen im Gehirn – und
damit die Entstehung von Sozialkompetenz und Interesse an der
Welt – wird verhindert, wenn Kinder erleben,
• dass Wissen und Bildung nicht geschätzt werden,
• dass sie passiv bleiben müssen,
• dass sie funktionalisiert werden,
• dass sie überlastet, verwöhnt oder vernachlässigt werden.
•
Hüther fordert, dass die Erziehenden gestärkt werden müssen,
diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Ihre Verunsicherung behindert die Entwicklung der sozialen Kompetenzen bei den Kindern.
(siehe: a. a. O., S. 41 ff.
Das Gehirn ist in
erster Linie ein
Sozialorgan.
Der präfrontale
Kortex übernimmt
die Steuerung von
Teilfertigkeiten der
Sozialkompetenz.
Das Gehirn
entwickelt sich nur
gesund in einer
Atmosphäre der
Sicherheit und des
Vertrauens.
Die Erziehenden
brauchen gesellschaftlichen
Rückhalt.
4. Formen des Lernens
Wir unterscheiden das deklarative und das prozedurale Lernen.
Auf deklarativem Wege erwerben wir Wissen. Dafür benutzen wir
in der Regel die Sprache.
Das prozedurale Lernen erfolgt handelnd. (Gehen, schwimmen
etc.)
Deklaratives Wissen führt nicht zur Beherrschung prozeduraler
Prozesse. Wer z. B. ein Buch über das Reiten gelesen hat, kann
es deswegen noch nicht. Wohl aber hilft die Überführung prozeduralen Wissens in deklaratives zu einem besseren Verstehen
dessen was man tut. (Wer bereits reiten kann, der kann seine
Fähigkeit durch deklaratives Wissen verbessern).
Wir unterscheiden
deklaratives Lernen
vom
prozeduralen
Lernen,
Explizites und implizites Lernen unterscheiden sich insofern, als
das explizite Lernen bewusst erfolgt und beim Belehrten Lerntätig- explizites vom
keit fordert. Kinder, besonders Kleinkinder, lernen sehr rasch,
wobei festzustellen ist, dass die meisten Kinder das explizite Lernen als mühsam ablehnen. Was sie explizit lernen (müssen), ist oft impliziten Lernen.
auch nicht sehr nachhaltig (Phänomen des schulischen Lernens).
Die Bahnung von Schaltstrukturen und die Ausbildung von Karten
im Gehirn (s. o.) erfolgt in der Regel durch implizites Lernen. Während sich der Lernende mit einer Sache beschäftigt, extrahiert sich
das Gehirn die Regelhaftigkeiten der Lernsituation selbsttätig. Das
Gehirn lernt immer, es kann gar nicht anders. – Aber nur das, was
es für sinnvoll hält ...
Das können ganz andere Dinge sein als die, welche vielleicht
gleichzeitig explizit gelernt werden sollen! So kann ein Spielfilm,
der in einem entfernten Land spielt, zu implizitem Wissenserwerb
über dieses Land führen. Dieses Wissen ist oft dann noch
vorhanden, wenn die Handlung des Films längst vergessen wurde.
Implizit wird auch der sog. „heimliche Lehrplan“ der Schule gelernt
und in Verhaltensweisen transferiert. Wenn also Kinder schlecht
vorbereitete, desinteressierte Lehrer erleben, lernt das Gehirn,
dass das, was diese Lehrer zu bieten haben, uninteressant und
unwichtig ist – und es beschäftigt sich anders!
Eine hirnphysiologische Tatsache ist mittlerweile das Lernen im
Schlaf. Mithilfe von Nervenableitungen in Tierexperimenten konnte
man beweisen, dass das Wechselspiel von Tiefschlaf und Traumschlaf der Festigung von Lerninhalten des vorausgehenden Tages
dient. Aus dem flüchtigen Speicher des Hippokampus (kurz- und
mittelfristiges Gedächtnis) werden wiederholt Signalsequenzen an
den Kortex (Großhirn) gegeben, die dort zum Synapsenwachstum
und zur Veränderung von Synapsenstärken führen. Spitzer spricht
in Analogie zum Internet von einer „Off-line-Verarbeitung“ neu
gelernter Inhalte (a.a.O., S. 133). Schlafhygiene ist deshalb ein
wichtiger Faktor für ein nachhaltiges Lernen.
Das Gehirn lernt
nur das, was es
für sinnvoll hält.
Implizit Gelerntes
wird in der Regel
nachhaltiger verankert als explizit
erlernte Inhalte.
In den Phasen des
Traumschlafes
werden Tagesreste
vom Hippokampus
in den Kortex signalisiert, was nachhaltiges Lernen
auslöst.
Wir lernen im
Schlaf!
5. Aufmerksamkeit als Voraussetzung des Lernens
Aufmerksamkeit existiert auf zwei Ebenen:
Sie ist zunächst einmal eine allgemeine Wachheit (Vigilanz) und
zum anderen eine zusätzliche selektive Aktivierung von Gehirntätigkeiten, wenn wir uns einem bestimmten Gegenstand zuwenden. Diese zusätzliche Aktivierung von Gehirnarealen spielt bei
Gedächtnisprozessen die entscheidende Rolle. Diese Einsicht ist
trivial aber für Lehrende schwer umzusetzen, denn für die willentliche Ausrichtung der Aufmerksamkeit der Lernenden bedarf es
der Motivation und emotionaler Zuwendung zu Lernstoff.
Wir unterscheiden
die Vigilanz
von der selektiven
Aufmerksamkeit.
Selektive Aufmerksamkeit ist abhängig von Motivation
und Emotion.
6. Motivation
(Bildquelle:übernommen am 30.9. 2008:
http://images.google.de/imgres?imgurl=http://home.arcor.de/eberhard.liss/hirnforschung/RothBild1.jpg&imgrefurl=http://home.arcor.de/eberhard.liss/hirnforschung/rothgehirn%2Bseele.htm&h=502&w=530&sz=42&hl=de&start=1&usg=__sk9Y3q8wm1LxWqlQTFtETlpT
_yQ=&tbnid=Ocaqnk5IZD9tM:&tbnh=125&tbnw=132&prev=/images%3Fq%3Dventrales%2BTegmentum%26gbv%3D2%2
6hl%3Dde )
Ob Motivation entsteht und erhalten bleibt, hängt ab von einem
hirneigenen Belohnungssystem:
Zwei kleine Bereiche tief im Innern des Gehirns (limbisches
System), das ventrale Tegmentum und der Nucleus accumbens,
setzen den chemischen Botenstoff Dopamin frei und projizieren
über Nervenbahnen bis in das Stirnhirn (frontaler Kortex).
Angetrieben vom Tegmentum signalisiert der Nucleus accumbens
dem frontalen Kortex und anderen Hirnteilen auf diese Weise:
„Das macht Spaß!“ Gleichzeitig schüttet der Nucleus accumbens
hirneigene Opiate aus, die zusätzliche Lustgefühle erzeugen und
eine Wiederholung der angenehmen Erfahrung wünschenswert
erscheinen lassen.
Das Dopaminsystem scheint besonders dann zu feuern, wenn
etwas geschieht, das besser ist als erwartet. Es sind also auch
Formen der Bewertung mit im Spiel und wir müssen uns fragen,
Das ventrale Tegmentum und der
Nucleus accumbens
erzeugen über ihr
Dopaminsystem
Lustgefühle und
damit die Motivation
zur Wiederholung
der lustvollen Erfahrung.
Das motivierende
Dopaminfeuerwerk
wird durch die
was wir so positiv bewerten, dass es das Dopaminsystem auslöst.
Ist es das Lob des Lehrers, sind es gute Noten, ist es das
Interesse am Lernstoff oder das Gefühl (Lern-)Erfolg zu haben?
Wünschenswert ist Letzteres, denn nur dann ist nachhaltiges
Lernen zu erwarten.
Die primäre Motivation, das Interesse am Lerngegenstand ist es
also, welche geweckt werden müssen. Das erreicht man weder
durch Notendruck oder Drohungen noch mit ablenkenden
medialen Spielereien. Spitzer schreibt: „...ein vom Fach
begeisterter Lehrer, der gelegentlich lobt und vielleicht auch mal
einen netten Blick für die Schüler übrig hat, bringt deren Belohnungssystem auf Trab.“ (2003, a. a. O., S. 194) Vielleicht sollten
Lehrer öfter daran denken, so schwer kann es doch nicht sein!
positive Bewertung
einer Situation ausgelöst, die sich
besser gestaltet als
erwartet.
Durch die eigene
Begeisterung am
Fach und am
Lernen der Schüler
können Lehrer am
besten nachhaltiges
fachliches Lernen
bewirken.
Diese Aussage bedeutet auch, dass die Beziehung zwischen
Lehrer und Schülern eine tragende Rolle beim Lernen spielt. Die
Schüler wollen vom Lehrer gesehen und anerkannt werden in
ihrem Bemühen. (emotionale Komponente des Lernens, s. o.)
Wir sollen darüber jedoch nicht vergessen: Auch für Lehrer gilt,
Nur zufriedene und
was über Angst und Lust beim Lernen (und Lehren) geschrieben
stressfreie Lehrer
wird. Die psychosomatischen Klinikbetten Deutschlands werden
können motivieren.
vor allem von Lehrern belegt, die böse, zynisch, verängstigt,
depressiv oder suchtkrank dort landen! Es wird Zeit, auch über die
Bedingungen nachzudenken, welche in der Lage sind, die Berufszufriedenheit und damit die seelische Gesundheit von Lehrern zu
erhalten. Auch Lehrer lernen am intensivsten implizit! Auch sie
wollen gesehen und anerkannt werden in ihrer Arbeit mit den
Kindern. Auch sie müssen Selbstwirksamkeit entwickeln, um ihr
eigenes Dopaminsystem nutzen zu können.
7. Das Gedächtnis
Brand und Markowitsch beschreiben den Weg eines Inhaltes von
der Außenwelt in das Langzeitgedächtnis in Kurzform so:
•
•
•
•
Entscheidung über die Bedeutsamkeit eines Reizes im
Ultrakurzzeitgedächtnis.
Bedeutsame Reize landen im Kurzzeitgedächtnis und
werden dort zunächst für wenige Minuten eingespeichert.
Werden Einspeicherungshilfen zu den bedeutsamen Reizen
gegeben, werden diese Gedächtnisinhalte im Kurzzeitgedächtnis konsolidiert,
Und bei großer Wichtigkeit, speziellem Interesse oder
häufiger Wiederholung im Langzeitgedächtnis abgelagert.
Man sieht: Gedächtnisbildung geschieht nicht automatisch. Sie ist
vielmehr ein aktiver Prozess!
• Werden Gedächtnisinhalte wieder abgerufen, führt dies
grundsätzlich zu einer erneuten und durch die Umstände
modifizierten Einspeicherung. Man nennt diesen Vorgang
Stufen der
Gedächtnisbildung:
Ausfiltern
Einspeichern
Konsolidieren
Ablagern
Rekonsolidieren
Rekonsolidierung.
Beim Abruf unterscheidet man mit absteigendem Anforderungsniveau
• den „Freien Abruf“ (ohne Hilfen),
• den Abruf mit Hinweisreizen (verbal oder visuell) und den
• Abruf durch Rekognition (Wiedererkennen).
Brand und Markowitsch betonen die hierarchische und gleichzeitig
modulare Struktur des Gedächtnisses.
Die modulare Struktur bedingt es, dass ganz besonders die Inhalte
gut behalten werden, die viele Gedächtnismodule auf unterschiedlichen Stufen ansprechen, z. B. durch Lernen auf verschiedenen
Eingangskanälen, durch die Aktivierung des Vorwissens und durch
die motivierende Gestaltung der Lernsituation und der Lernumgebung.
Das Gedächtnis hat nach Brand und Markowitsch folgende
Ebenen:
Gedächtnisebenen:
Episodisches G.
a) Das episodische Gedächtnis:
Höchste Gedächtnisstufe, Speicherung der Autobiographie,
klarer Raum- Zeit- und Situationsbezug, starke emotionale
Bewertung
b) Das semantische Gedächtnis:
Fakten des allgemeinen Weltgeschehens, Schulwissen
c) Das perzeptuelle Gedächtnis:
Vertrautheits- oder Bekanntheitsgefühl bei Personen, Objekten, Tönen. Präsemantisch
d) Priming:
Bessere Wiedererkennungsleistung von zuvor unbewusst
Wahrgenommenem
e) Das prozedurale Gedächtnis:
Motorische Fähigkeiten und Routinehandlungen
(schwimmen, Zähne putzen etc.)
Semantisches G.
Perzeptuelles G.
Priming
Prozedurales G.
(siehe: Matthias Brand/Hans. J. Markowitsch: Lernen und Gedächtnis aus
neurowissenschaftlicher Perspektive. – in: U. Herrmann: Neurodidaktik. –
Weinheim und Basel 2006, S. 60 ff.)
8. Sieben Bausteine moderner Didaktik
Schlussfolgernd aus den Erkenntnissen der Hirnforschung
formuliert Franz Mechsner im Heft 11/Nov. 2004, Artikel: „Die Lust
am Wissen“, S. 167 ff, folgende didaktischen Grundsätze:
8.1 Entdeckendes Lernen
„Entdeckendes Lernen bedeutet, dass Schüler sich
selbstständiges Fragen und Denken angewöhnen, dass sie
Verantwortung für ihre Lernprozesse übernehmen und sich als
erfolgreiche, manchmal gar als kreative Forscher erleben. Als
Folge sind die Wissensnetze, die sie knüpfen, solider und
dauerhafter.“ (S.173)
Zu den Bausteinen
moderner Didaktik
gehören:
entdeckendes
Lernen,
8.2 Fehlerfreundlichkeit
„Wir können nicht lernen, wenn wir keine Fehler machen dürfen. In
den meisten Fehlern steckt eine geistige Leistung, oft eine wichtige FehlerfreundlichStufe auf dem Weg zu einer richtigen oder gar originellen Lösung. keit
(S. 178)
8.3 Lernen im eigenen Tempo
„... das Lernen im Standardtakt zerstört Neugier und Tatendrang,
unterfordert einen Teil der Schüler und überfordert den anderen,
stets die Differenz und die Konkurrenz betonend. Offene und kooperative Unterrichtsformen ermöglichen es, dass Kinder ihrem
Lernstand entsprechend arbeiten. (S. 180)
8.4 Lernen lernen
„Moderne Schule lehrt aber auch, Ergebnisse allein und im Team
zu erarbeiten und zu präsentieren. ... dabei überzeugend, fair und
konstruktiv zu argumentieren.“ (S. 182)
8.5 Verbale Zeugnisse
„Reformer setzen auf Wortzeugnisse. (...) Berichte haben den
pädagogischen Vorteil, Leistungen weit differenz8erter
beschreiben und Hinweise geben zu können, wie sich Defizite
ausgleichen lassen. Den Vorwurf, Wortzeugnisse seien im Unterschied zu Noten leistungshemmend, haben Bildungsforscher
mittlerweile in mehreren Studien widerlegt.“ (S. 185)
8.6 Authentische, begeisterte Lehrer
Kinder brauchen den Lehrer als Bezugsperson, der ihnen zeigt,
dass er sich für sie interessiert und sich über ihren Lernfortschritt
freut. Gleichzeitig sollte die Lehrperson ihre Unterrichtsthemen
begeistert und begeisternd anbieten.
8.7 Selbstverantwortung und demokratische Strukturen
Die Arbeit in Gruppen, gegenseitiges Lehren und die Möglichkeit
der Mitgestaltung der Lernprozesse fördern in hohem Maße die
Konsolidierung und Vernetzung des Gelernten.
Lernen im eigenen
Tempo,
das Lernen lernen
durch selbsttätiges
Lernen,
verbale Zeugnisse
Aufmerksame,
zugewandte Lehrpersonen
Eigenverantwortliches Lernen und
Demokratie
9. Lesen als Beispiel des selbstorganisierenden Lernens
9.1 Was ist Lesen?
Lesen ist seitens des Lesers ein aktiver Prozess der Sinnfindung.
Goodman spricht vom Lesen als einem „hypothesenbildenden
Prozess“, in dessen Verlauf der geübte Leser immer neue Denkansätze hervorbringt, verifiziert und modifiziert. 1977 publizierte G.
Scheerer-Neumann ein Modell des Prozesses beim Lesen im
Satzzusammenhang:
Lesen wird definiert
als komplexer und
aktiver Prozess der
Sinnfindung
Hypothese
Kontext
Visuelle Analyse
globaler Merkmale
Wort
visuelle Detailanalyse
Segmentierung
phonetische Kodierung
Artikulatorisches
Programm
Lesen ist ein interaktiver Prozess der
Sinnfindung und
führt zur Integrationsleistung des
Textverständnisses.
semantische Kodierung
(Scheerer-Neumann: „Modell des Prozesses beim Lesen eines Wortes im Satzzusammenhang“. –
bei: Niemeyer W.: Fördernder Leseunterricht. – Stuttgart 1981, S. 17)
9.2. Die kognitive Konstruktivität des Leseprozesses
Die vereinfachte Skizze lässt uns bereits die Komplexität der
geistig-seelischen Abläufe beim Lesen erahnen. Uns wird
verständlich, dass die Leseleistung nicht allein durch lesetechnische Vorgänge beeinflusst wird, sondern dass auch das Allgemeinwissen und –befinden, das Welt- und Wertebild und soziale
Aspekte Einfluss darauf nehmen, wie ein Kind lesen lernt und
welches Textverständnis Leser entwickeln.
Der modernen Leseforschung liegt heute allgemein die Annahme
zu Grunde, dass Lesen mehr ist als ein rezeptiver Prozess, dass
vielmehr beim Lesen immer eine Text-Leser-Interaktion stattfindet.
Hörmann schreibt dazu bereits 1980:
„Wir erfassen im Vorgang des Verstehens nicht nur Information,
Der Leseprozess ist
wir schaffen auch Information, nämlich jene Information, die wir
konstruktiv.
brauchen, um die Äußerung in einen sinnvollen Zusammenhang
stellen zu können.“ Textverständnis ist also eine aktive integrative
Leistung, die jeder Leser als Ergebnis des Leseprozesses vollbringt. Man bezeichnet diese Leistung als kognitive Konstruktivität
des Leseprozesses.
(Hörmann nach U. Christmann / N. Groeben: Psychologie des Lesens. –
in: Handbuch Lesen. – Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
2001, S. 146)
Christmann/Groeben beschreiben deshalb das Lesen als Zusammenwirken aufsteigender und absteigender Prozesse. (s. o.)
Bereits aus diesem kurzen Exkurs wird erkennbar, dass die
moderne Auffassung des Lesens den Ergebnissen der Hirnforschung zum Lernen weitgehend entspricht. Analog gelten die
o. g. didaktischen Grundsätze für das Erlernen dieser Kulturtechnik.
Lesen wird durch
auf- und absteigende Prozesse begleitet.
10. Mathematik
Rechnen ist eine komplexe Fähigkeit, an der sich viele „Landkarten“ des Gehirns beteiligen. Mathematisches Können ist wie
Textverständnis, das Musizieren und andere Fähigkeiten ein
Ergebnis von Begabung und Übung. Besonders das freiwillige und
durch die Sache motivierte Üben bringt uns weiter.
Da Mathematik abstrakt ist, sollten Probleme der verschiedensten
Art mathematisch behandelt werden. Die Vernetzung der zu
lernenden Inhalte ist also von größter Bedeutung – und es spricht
deshalb Vieles dafür, mathematisches Denken genau wie rechtschreibliches Denken oder das Lesen integrativ in möglichst jeder
Unterrichtseinheit herauszufordern.
Viele Fakten lassen sich mathematisch interpretieren oder werden
erst durch mathematischen Umgang verständlich. In der Schule
sollte ein Grundverständnis erworben werden, wie mit solchen
Fakten umzugehen ist.
Rechnen ist eine
komplexe Fähigkeit, die auf vernetzten Strukturen
beruht.
Sie wird vor allem
durch Üben erworben.
Nur Übung an verschiedensten Aufgaben und Sachgebieten kann die
notwendige Transferleistung hervorrufen.
11. Zeitfenster für das Lernen
Immer wieder wird behauptet, dass bestimmte Fertigkeiten, wie
das Erlernen von Sprache oder des Gehens nur innerhalb eines
gewissen Entwicklungszeitraumes möglich seien. Würden dann
die entsprechenden Nervenzellen des Gehirns nicht angeregt,
folge ein irreversibler Abbau und damit die Unfähigkeit zu gehen
bzw. zu sprechen. Die Regel für diesen Mechanismus wird in den
USA als „use it or loose it“ beschrieben.
Dem widerspricht die Erfahrung, dass ein lebenslanges Lernen
möglich ist und dass nach Unfällen mit Verletzungen des Gehirns
zunächst verlorene Fertigkeiten wiederkehren können. In diesem
Zusammenhang spricht man von der Plastizität des Gehirns.
Gibt es Zeitfenster
für das Erlernen bestimmter Fertigkeiten?
Neuere Forschungen machen für beide Auffassungen die „weiße
Substanz“ unseres Gehirns verantwortlich. Darunter versteht man
den fetthaltigen, weißlich erscheinenden Mantel, die Myelinscheide, in welchen die Axone der Nervenfasern gehüllt sind. (vgl.
2.3 – neuronale Netze)
Die weiße Substanz
spielt eine entscheidende Rolle beim
Lernen.
(Quelle: http://images.google.de/imgres?imgurl=http://www.tgschemie.de/nerven4.gif&imgrefurl=http://www.tgschemie.de/nervensystem.htm&h=343&w=539&sz=7&hl=de&start=11&usg=__9SZCJng0ZKHuldON_
jQTugNWyn4=&tbnid=0ZTw2AfddNVTRM:&tbnh=84&tbnw=132&prev=/images%3Fq%3Dwei%25C3
%259Fe%2BSubstanz%26gbv%3D2%26hl%3Dde (28.10.2008)
Die „use it or loose
it“ – Regel widerspricht der
Erfahrung von der
Plastizität des
Gehirns.
Ungefähr in Millimeterabständen weist diese Myelinscheide eine
kleine Lücke auf, den Ranvier-Schnürring. Die Myelinisierung der
Axone unterscheidet sich
a) in der Dicke der Myelinschicht und
b) bezüglich der Abstände der Ranvier-Schnürringe.
Diese Unterschiede haben funktionale Folgen:
a) Je dicker die Myelinschicht ist, desto schneller wird ein
Impuls durch das Axon weitergeleitet.
b) Je höher die Dichte von Ranvier-Schnürringen auf einem
Axon ist, desto langsamer erfolgt die Weiterleitung. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt nimmt man an, dass die RanvierSchnürringe einen bremsenden Effekt haben.
Man folgert daraus, dass diese Unterschiede dazu dienen, die
Leitungsgeschwindigkeiten aufeinander abzustimmen, wenn es
darum geht, bestimmten Nervennetzen ein starkes Gesamtsignal
zu vermitteln. Wenn ein Signal einen langen Weg hat, muss die
Übertragung schneller gehen, damit es gleichzeitig mit einem Signal ankommt, welches nur eine kurze Strecke zurücklegen muss,
so dass hier durch eine erhöhte Anzahl von Ranvier-Schnürringen
und evtl. durch eine dünnere Myelinschicht das Tempo des Signals
verringert wird.
Die Dicke der
Myelinschicht und
die Dichte der
Ranvier-Schnürringe beeinflusst
das Tempo der
Signalübertragung.
Das dient der Abstimmung der Leitungsgeschwindigkeiten.
Eine Signalübertragung, die ungleichzeitig an das Übertragungsziel übermittelt wird, beeinträchtigt geistige Leistungen. So funktioniert beispielsweise bei Legasthenie die zeitliche Abstimmung
nicht, mit welcher die Prozesse beim Lesen ineinandergreifen
müssen.
Legasthenie ist z. B.
ein Problem der ungenügenden zeitlichen Abstimmung
der Prozesse beim
Lesen.
Mithilfe der Diffusionstensorbildgebung kann man den
Organisationsgrad der myelinisierten Axone sichtbar machen.
In besonderer Dichte findet sich die weiße Substanz im Balken
(Corpus callosum), der die beiden Hirnhälften verbindet, (siehe
Abbildung in Punkt 6) und im Basalband des Kortex (Gyrus
cinguli). Insgesamt besteht fast die Hälfte unseres Gehirns aus
weißer Substanz.
Besonders dicht ist
die weiße Substanz
im Balken und im
Basalband.
Die Myelinmenge wird besonders von frühen Erfahrungen und
Übungen beeinflusst. So hat man festgestellt, dass bei Berufspianisten, die das Klavierspielen früh erlernt und viel geübt hatten,
eine verstärkte Myelinisierung der Nervenbahnen für Fingerbewegungen und für kognitive Prozesse beim Musizieren vorhanden
„Früh übt sich, was
sind. Da die Myelinisierung im Laufe des Lebens vom Stammhirn ein Meister werden
(hinten) in Richtung Stirnhirn fortschreitet, vermutet man, dass die will“.
entscheidenden Fertigkeiten im Kindesalter grundgelegt werden.
Wenn die frühe Myelinisierung abgeschlossen ist, lernt das Gehirn
zwar noch weiter, aber der Grad von Fähigkeiten und Fertigkeiten
ist nicht mehr so hoch ausgeprägt. Das würde erklären, weshalb
eine Fremdsprache, die nach der Pubertät erlernt wird, in vielen
Fällen nicht mehr akzentfrei gesprochen werden kann.
Auch kognitive Lernprozesse werden durch eine gute
Myelinisierung positiv beeinflusst. Bei Kindern korreliert eine höher
entwickelte weiße Substanz mit einem höheren Intelligenzquotienten! Es ist also nicht gleichgültig, wann die Myelinisierung von
Nervenbahnen erfolgt. Es gibt Zeitfenster, in denen das Lernen
leicht fällt. Diese gilt es zu nutzen, um ein dichtes Netz gut myelinisierter Nervenbahnen anzulegen. Dies ist besonders wichtig für
komplexe Fertigkeiten, die langes Üben und die Zusammenarbeit
mehrerer von einander entfernter Regionen des Großhirns
erfordern.
(vgl.: R. Douglas Fields: Die unterschätzte weiße Hirnmasse. – in: Spektrum der Wissenschaft, Heft
10/08, S. 40 ff.)
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Dies.: Förderung von Lernkompetenz in der Schule. Bd. 2:
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1 DVD (20 Min. Film) und 1 CD (Materialien und Text des
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Heidelberg und Berlin 2003, korrigierter Nachdruck
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Internetadressen
(Hier nur eine kleine Auswahl. Geben Sie das Stichwort „Neurodidaktik“ in eine Suchmaschine ein und Sie haben stundenlang
Beschäftigung!)
http://www.blickueberdenzaun.de/
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-AEA7DDE51D77560C/bst/hs.xsl/336.htm
Stand: 27. Jan. 2011
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