Fallbericht Aus der Chirurgischen Veterinärklinik –Kleintierchirurgie- (Prof. Dr. E. Schimke) der Justus-Liebig-Universität Gießen Detrusor-Sphincter-Dyssynergie bei einer Deutschen Schäferhündin nach Trauma O. Lautersack, A. Flöck, Sonja Müller und E. Schimke Zusammenfassung In der Chirurgischen Veterinärklinik -Kleintierchirurgie- der Justus-Liebig-Universität Gießen wurde eine 3-jährige Deutsche Schäferhündin vorgestellt, die eine Woche zuvor vom Traktor überrollt worden war und seit 5 Tagen eine Harninkontinenz zeigte. Es wurde die Diagnose Detrusor-Sphincter-Dyssynergie nach Trauma des anteriopelvinen Urethrabereichs gestellt. Unter der Therapie normalisierte sich die Miktion innerhalb von 7 Tagen. Diagnostik und Therapie werden abgehandelt. Summary A 3 year old, female German shepard dog was presented in the Clinic of Small Animal Surgery, University of Gießen with incontinence one week after being hit by a car. The diagnosis of Detrusor-Shincter-Dyssynergia after trauma of the anteriopelvine part of the urethra was made. After therapy was initiated, micturition was normal after 7 days. Diagnostic procedure and therapy are described. Einleitung Die Detrusor-Sphincter-Dyssynergie ist eine neurogene Störung der physiologischen Miktion und entsteht durch Schädigung oder irritative Reizung der Sakralkerne oder entsprechender peripherer Nerven. In der humanmedizinischen Literatur wird sie auch im Zusammenhang mit Läsionen des Tractus spinothalamicus bei Rückenmarksverletzungen beschrieben. Sie ist durch spastische Kontraktion des Musculus sphincter urethrae bei gleichzeitiger Kontraktion des Musculus detrusor gekennzeichnet und führt zu Überlaufblase und sekundärer Hydronephrose. Die efferente Blasen- und Harnröhreninnervation erfolgt über sympathische, parasympathische und somatische Nervenbahnen. Der Urinabsatz und die Speicherung setzten das komplizierte Ineinandergreifen dieser Steuerungssysteme voraus. Der Musculus detrusor vesicae wird durch den hauptsächlich parasympathischen Nervus pelvinus über cholinerge Muskarinrezeptoren innerviert. Die sympathische Steuerung der Blase und Harnröhre erfolgt durch das lumbale Miktionszentrum über die Nervi hypogastrici, das nach Oliver et al. (1969) zwischen den Lumbalsegmenten L2 bis L5, nach Moreau (1982) zwischen den Segmenten L1 bis L2 liegt, sowie durch die sakralen Nervi splanchnici sacrales. Die Nervi hypogastrici sind für die Relaxation der Blase und zusammen mit den Nervi splanchnici sacrales für die Kontraktion der glatten Urethramuskulatur verantwortlich. Die Kombination beider Funktionen ermöglicht die Urinretention (DeLahunta, 1983; Nickel et al., 1 1992). Der Nervus pudendus innerviert als somatischer Nerv über cholinerge Nikotinrezeptoren die quergestreifte Harnröhrenmuskulatur (DeLahunta, 1983; Nickel et al., 1992). Diesen Reflexen ist der Cortex cerebri für die willkürliche Kontrolle und die Basalganglien, der Thalamus und Vermis cerebelli sowie die Pons für die unwillkürliche Koordination der Miktion übergeordnet. (Kuru, 1965; DeLahunta, 1983; O´Brien, 1988). Fallbeschreibung Anamnese Die 3-jährige, laktierende Deutsche Schäferhündin war eine Woche vor der Erstvorstellung von einem Traktor überrollt und vom Haustierarzt versorgt worden. Es wurden mehrfache Beckenfrakturen und eine tiefe Hautwunde am linken Tarsus diagnostiziert. Nach 2 Tagen begann die Hündin die Hintergliedmaßen zu belasten. Dem Besitzer fiel am zweiten Tag nach dem Unfall ein permanentes Harnträufeln auf. Trotz Inkontinenz versuchte die Hündin unter Pressen häufig, Urin abzusetzen, ohne dass eine physiologische Miktion beobachtet werden konnte. Klinische Untersuchung Bei der Vorstellung in der Klinik zeigte die Hündin eine Lahmheit der rechten Hintergliedmaße und deutliche Asymmetrie des Beckens mit Krepitation und Schmerzhaftigkeit bei Manipulation an der rechten Hüfte. Das Abdomen war palpatorisch auf der gesamten Fläche verspannt und hart, aber nicht schmerzhaft. Organe ließen sich nicht abgrenzen. Die klinisch-neurologische Untersuchung erfolgte unter besonderer Berücksichtigung der Sakralnerven und ergab keine besonderen Befunde. Bei der rektalen Untersuchung war die deutliche Einengung des Beckenkanals von rechts ohne palpierbare Splitter auffällig, wobei der Beckenkanal ausreichend dimensioniert war. Die Urethra und Vagina waren palpatorisch nicht verändert. Die Hündin zeigte eine Leukozytose von 20,5 mal 109/l und einen Hämatokrit von 0,34 l/l. Die Nieren- und Leberwerte lagen im physiologischen Referenzbereich. Durch Katheterisierung wurde Urin gewonnen und bakteriologisch untersucht. Dabei konnte auch nach Anreicherung kein Bakterienwachstum festgestellt werden. Radiologische Untersuchung Das Abdomen wurde im latero-lateralen und ventro-dorsalen, der Thorax im latero-lateralen Strahlengang geröngt. Dabei fielen die deutlich verminderte Detailerkennbarkeit mit homogener Verschattung des mittleren und kaudalen Abdomens und leichte Koprostase auf (Abb.1). Das Becken zeigte eine Fraktur des Os ilium vor dem kranialen Rand des Azetabulums mit kleinen Fragmenten und Dislokation des Corpus ossis ilii nach kranial und dorsomedial. Zusätzlich bestand eine Os pubis- und Os ischii-Fraktur auf der linken Seite. Der Thorax war ohne Auffälligkeiten. 2 Abb.1: Latero-laterale Röntgenaufnahme des Abdomens. Die ventralen 2/3 des Abdomens zeigen eine verminderte Detailerkennbarkeit, die Blase ist nicht sicher abgrenzbar. Sonographische Untersuchung Die abdominale Ultraschalluntersuchung ergab eine höchstgradig gefüllte Blase (18x12x12 cm) mit wenigen Korpuskeln im Blasenlumen (Abb.2). Die Urethra war im Beckeneingangsbereich auf 4 mm gestaut. Kaudal der Blase stellten sich drei bis zu 5x6x4 cm große, reflexarme und inhomogene Gebilde dar, die die typische Echotextur eines Hämatoms aufwiesen (Abb.3). Beide Nieren zeigten ein bis zu 1 cm gespreiztes Nierenbecken. Der rechte Ureter war auf einen Durchmesser von 1,4 cm, der linke auf 1 cm gestaut (Abb. 4 und 5). Der Ultraschall des restlichen Abdomens war ohne besonderen Befund. Abb.2: Hgr. gefüllte Blase (Bl), Querschnitt Abb.3: Hämatom (Hä) kaudal der Blase, Querschnitt 3 Abb.4: Rechte Niere mit gespreiztem Nierenbecken (Nb), Längsschnitt Abb.5: Rechte Niere mit gespreiztem Nierenbecken (Nb) und gestautem Ureter (Ur), Querschnitt Urethrozystographie Bei der anschließend durchgeführten Katheterisierung der Hündin mit einem flexiblen Katheter war kein Widerstand beim Vorschieben durch die Urethra in die Blase feststellbar. Nach Entleerung von etwa 1,5 Litern Urin wurde beim Zurückziehen des Katheters Kontrastmittel in die Urethra und Blase instilliert. Unter Durchleuchtung wurden Röntgenaufnahmen angefertigt, um eine intrapelvine, mechanisch bedingte Stenose oder Perforation der Urethra auszuschließen. Dabei fiel der lange anteriopelvine Anteil der Urethra auf, der durch das periurethrale Hämatom zwischen Blase und Beckeneingang zu erklären ist. Nach Füllung und Verlauf stellte sich die Harnröhre physiologisch dar (Abb.6). Abb.6: Retrograde Zysto- und Urethrographie. Die Urethra zeigt einen langen anteriopelvinen Anteil, sonst stellt sie sich unauffällig dar. Diagnose Es wurde die Diagnose „Detrusor-Sphincter-Dyssynergie“ auf Grund einer starken Traumatisierung des Blasenhals- und Urethrabereichs mit Hämatombildung und sekundärer Überlaufblase gestellt. Die zusätzlichen Beckenfrakturen wurden chirurgisch nicht behandelt, 4 weil die Hündin die Gliedmaßen bereits belastete und der Besitzer wegen der bestehenden Laktation keine Operation wünschte. Therapie Da die Hündin zum Zeitpunkt der Therapie laktierend war, wurde zum Schutz der Welpen nur eine spasmolytische, analgetische und antibiotische Therapie mit Buscopan1 (0,5 mg/kg KM s.c.), Novalgin2 (40 mg/kg KM s.c.) und Amoxicillin/Clavulansäure3 (12 mg/kg KM p.o.) eingeleitet. Die Blase wurde zwei mal täglich katheterisiert. Verlauf Zwei Tage nach Therapiebeginn wurde eine Ultraschallkontrolluntersuchung durchgeführt, bei der sich die Eingangsbefunde unverändert bestätigten. Nach 5 Tagen berichtete der Besitzer von beginnendem, selbständigem Urinabsatz der Hündin, nach 7 Tagen von regelmäßigem Urinabsatz. Inkontinenz trat nicht mehr auf. Das spasmoanalgetische Medikament wurde daraufhin abgesetzt. 9 Tage nach Erstvorstellung erfolgte die zweite Ultraschallkontrolluntersuchung. Die Blase war zu diesem Zeitpunkt mittelgradig gefüllt und zeigte Korpuskeln im Lumen, die Ureteren und Nierenbecken waren beiderseits nur noch geringgradig gestaut. Das Hämatom im Urethrabereich stellte sich bereits deutlich kleiner dar. 14 Tage nach der Erstvorstellung wurde auch das Antibiotikum abgesetzt. Weitere Probleme traten nicht mehr auf. Diskussion Miktionssstörungen können neurogen oder durch mechanische und funktionelle Obstruktion der Urethra bedingt sein. Eine neurologische Ursache oder mechanische Obstruktion konnten durch die klinische Untersuchung und bildgebende Diagnostik ausgeschlossen werden. Differentialdiagnostisch muss die Schädigung des Nervus pudendus durch die Beckenbodenfrakturen ausgeschlossen werden. Dabei wäre jedoch ein herabgesetzter Tonus des Musculus sphincter urethrae und des sphincter ani externus zu erwarten. Funktionelle Obstruktionen sind durch die physiologische Miktionsinitiation und den unmittelbar anschließenden Abbruch des Urinabsatzes durch fehlende Koordination der einzelnen Reflexbögen gekennzeichnet. Dabei ist sowohl die Funktionalität des Musculus detrusor als auch des Musculus sphincter externus und internus erhalten. Die Diagnose kann durch elektromyographische Messungen oder Urethradruckprofilbestimmung bestätigt werden. Die Detrusor-Sphincter-Dyssynergie ist eine selten auftretende neurogene Störung der Miktion, die zur funktionellen Obstruktion der Urethra führt. Häufige Ursache für die Detrusor-Sphincter-Dyssynergie sind Störungen der pyramidalen Bahnen (Andersen und Bradley, 1976; Hoerlein, 1978), die idiopathisch, angeboren oder durch Rückenmarksverletzungen erworben sein können (DeGroat und Booth, 1980; Jorgensen et al., 1982; Osborne und Finco, 1995). Aus experimentellen Studien ist jedoch auch bekannt, dass die Verringerung afferenter Reize aus dem unteren Harntrakt zur Detrusor-SphincterDyssynergie führen können (Sugaya et al., 1991). Nach Osborne und Finco (1995) kann die funktionelle Urethraobstruktion durch neurogene Verletzungen, Urethra- oder Beckenoperationen, Urethraobstruktion oder Entzündung der Urethra bedingt sein. Weil die Koordination zwischen den entsprechenden parasympathischen, sympathischen und somatischen Nerven bei Reflexdyssynergie nicht ausreichend vorhanden ist, erfolgt kurz nach Kontraktion des Musculus detrusor eine spastische Kontraktion des Musculus sphincter 5 urethrae internus und externus, was zum Abbruch des Miktionsreflexes führt. Die Folge ist Harnstau mit hochgradiger Dilatation von Blase, Ureteren und schließlich auch der Nierenbecken, die zur irreversiblen Schädigung des Nierenparenchyms führen kann. Übersteigt der intravesikale Druck den Verschlussdruck des Urethraschließmuskels, kommt es zur Inkontinenz. Da der Patient über Afferenzen und spinothalamische Bahnen die Blasenfüllung registriert und als schmerzhaft empfindet, versucht er immer wieder Urin abzusetzen. Therapieziel bei Detrusor-Sphincter-Dyssynergie ist, den spastischen Kontraktionszustand der glatten und quergestreiften Urethramuskulatur zu unterbrechen. Die glatte Muskulatur kann durch α-Antagonisten relaxiert werden, wobei vor allem Phenoxybenzamin oder Prazocin eingesetzt werden. Als Nebenwirkung kann es zu Hypotension, Reflextachykardie und gastrointestinaler Reizung kommen (Mawby et al., 1990; Frenier et al., 1992). Der Spasmus des quergestreiften Sphinkteranteils kann durch Diazepam beeinflusst werden. Wegen der kurzen Halbwertszeit muss die Applikation 3 bis 4 mal täglich erfolgen. Als Nebenwirkung kann Sedation des Patienten eintreten. Die relaxierende Wirkung von Acepromazin auf den praeprostatischen und prostatischen Urethrabereich konnte in experimentellen Studien beim Kater ebenfalls belegt werden (Marks, 1993). Die Prognose der Reflexdyssynergie ist je nach Ursache günstig bis vorsichtig. Insbesondere Parenchymschäden der Nieren führen zur deutlichen Verschlechterung der Prognose (Osborne, 1995). Das therapeutische Ziel muss neben der ursächlichen Behandlung vor allem auf die Vermeidung von chronischem Urinstau und Harnwegsinfektionen durch aszendierende oder iatrogen verschleppte Bakterien gerichtet sein. 1 Buscopan Injektionslösung, Boehringer Ingelheim Pharma KG, Ingelheim a.Rhein Vetalgin ad us. vet., Intervet Deutschland GmbH, Unterschleißheim 3 Synulox ad us. vet., Pfizer GmbH, Karlsruhe 2 Literatur 1. Andersen, J.T. und W.E. Bradley, (1976): The syndrome of detrusor-sphincter dyssynergia. J. Urol. 116, 493-495. 2. De Groat, W.C. und A.M. Booth (1980): Physiology of the bladder and urethra. Ann. Intern. Med. 92, 312-315. 3. DeLahunta, A. (1983): “Veterinary Neuroanatomy and Clinical Neurology”. 2nd edition. Kap. 6, 123-125. Saunders Company, Philadelphia. 4. Frenier S.L. (1992): Urethral response to alpha-adrenergic agonist and antagonist drugs in anesthezised male cats. Am. J. Vet. Res. 53, 1161-1165. 5. Hoerlein, B.F. 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Verlag Paul Parey, Berlin und Hamburg. 12. O´Brien, D. (1988): Neurogenic disorders of micturition. Vet. Clin. North. Am. 18, 529544. 13. Oliver, J.E., W.E. Bradley, T.F. Fletcher (1969): Identification of preganglionic parasympathetic neurons in the sacral spinal cord of the cat. J. Comp. Neurol. 137, 321325. 14. Osborne, C.A. und D.R. Finco (1995): “Canine and Feline Nephrology and Urology”, Kapitel 37, 697-698, Williams & Wilkins Verlag 15. Sugaya, K., O. Nishizawa, H. Noto, T. Suzuki, T. Tuskada, T.Kohama, N. Shimoda, S. Tsuchida (1991): Experimental and clinical studies of urethral anesthesia on etiology and treatment of detrusor-sphincter dyssynergia. Nippon Hinyokika Gakkai Zasshi 82 11331141. Anschrift des Verfassers: Oliver Lautersack, Chirurgische Veterinärklinik (Kleintierchirurgie) der Justus-LiebigUniversität Gießen, Frankfurter Str. 108, 35392 Gießen 7