Institut für Entwicklungsgenetik Inge Sillaber1, Wolfgang Wurst1, 2 pidemiologische Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass sowohl Umweltfaktoren als auch genetische Faktoren die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit beeinflussen. Ein wichtiger Umweltfaktor ist Stress – nicht nur in Bezug auf Alkoholmissbrauch, sondern auch bei anderen psychischen Krankheiten wie Angststörungen und Depression. Ebenso hängt es von der genetischen Prädisposition ab, ob jemand alkoholsüchtig wird. Denn nicht jeder „soziale Trinker“ greift nach Stress-Situationen zur Flasche und wird zum Alkoholiker. Mäuse, bei denen die Corticotropin-Releasing-Hormon-Rezeptoren 1 inaktiviert wurden, neigen überraschenderweise zu erhöhtem Alkoholkonsum, nachdem sie physischen oder psychischen Stress-Situationen ausgesetzt waren. E AKTUELLE THEMEN Dem Alkoholismus in Mausmodellen auf der Spur Mouse Models for Alcoholism pidemiological studies carried out over the past years have shown that both environmental and genetic factors contribute to the development of alcoholism. Stress is an important environmental factor, not only with respect to alcoholism but also for other psychiatric diseases such as anxiety disorders and depression. At the same time, genetic predisposition plays an important role in determining whether a person becomes alcoholic or not; not every ‘social drinker’ becomes an alcoholic when exposed to stress. Surprising results were obtained with a mouse model in which the corticotropin releasing hormone receptor Crhr1 is inactivated; these animals tend to increase their alcohol consumption when exposed to physical or mental stress situations. E Stress und Alkohol Es hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, dass eine ganze Reihe von Neurotransmittern, zum Beispiel -Amino-Buttersäure (GABA), Dopamin und Serotonin sowie deren Rezeptoren die Alkoholaufnahme, die Alkoholtoleranz und das Verlangen nach Alkohol beeinflussen. Bisher wurde jedoch keines dieser Neurotransmittersysteme mit Alkoholsucht nach 1 2 Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München, GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Institut für Entwicklungsgenetik stressreichen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Obwohl schon lange bekannt ist, dass stressinduzierte Alkoholsucht und Suchtrückfallverhalten auch genetisch bedingt sind, konnten bisher keine zellulären und molekularen Mechanismen aufgeklärt werden, die diesen Krankheiten zugrunde liegen. Neuere Studien weisen darauf hin, dass das Corticotropin-freisetzende Hormon (CRH) oder Glutamate zur Alkoholsucht beitragen können. CRH steuert nicht 39 GSF Alkoholkonsum (g/kg/Tag) Kontrolle 6 kurze Stressepisoden 5 4 3 2 1 0 CRHR1 –/– Alkoholkonsum (g/kg/Tag) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Monate 4 5 6 7 8 9 Monate 6 kurze Stressepisoden 5 4 3 2 1 0 1 modifiziert von sillaber et al., 2002 2 3 Abb. 1: Auswirkung von physischem und psychischem Stress auf den freiwilligen Alkoholkonsum von Mäusen. Kontrolltiere (oben) ändern ihr Trinkverhalten nicht, während Crhr1-/- Mäuse (unten), deren zentrales Stress-System gestört ist, ihren Alkoholkosum deutlich steigern. nur die hormonelle Antwort auf Stress, sondern koordiniert auch eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die geeignet sind, die Stress-Situation zu bewältigen, beispielsweise Angst- und Fluchtverhalten, Nahrungsaufnahme und Sexualverhalten. Im Gehirn ist CRH im limbischen System (Hippocampus, Amygdala und Neocortex) aktiv, also in Regionen, die das emotionale Verhalten koordinieren (Abb. 1). Zu den Rezeptoren, die das CRH-Signal hauptsächlich im limbischen System aufnehmen und weitertransportieren, gehört der Corticotropin-Releasing-Hormon-Rezeptor Typ 1 (Crhr1). Um die physiologische Funktion dieses Rezeptors zu bestimmen, haben wir so genannte KnockoutMäuse erzeugt, die einen Defekt im Crhr1Gen tragen (Crhr1-/-Mäuse). Anhand dieser Mutanten-Mäuse konnten wir zeigen, dass 40 GSF Crhr1 die Freisetzung von Stresshormon reguliert und auch das Angstverhalten steuert: Crhr1-/-Mäuse sind weniger ängstlich. Deshalb stellen diese Tiere ein ideales Tiermodell dar, um den Zusammenhang zwischen Stress und Alkoholmissbrauch zu untersuchen. Crhr1-Mutanten werden zu Alkoholikern Da beim Menschen Stress zu Alkoholismus führen kann und bekannt ist, dass an stressinduziertem Trinkverhalten auch genetische Faktoren beteiligt sind, haben wir Crhr1-Mäuse auf ihr Trinkverhalten hin untersucht. Wildtyp- und Mutanten-Mäuse bekamen jeweils zwei Trinkflaschen angeboten; eine Flasche enthielt Wasser, die andere eine zwei- bis achtprozentige Alko- Hippocampus Amygdala 180kD 140 ** Mutanten-Mäuse plötzlich, Alkohol in großen Mengen zu trinken. Nach ungefähr sechs Monaten nahmen sie mehr als dreimal soviel Alkohol zu sich wie die normalen Mäuse. Interessanterweise behielten sie dieses neue Trinkverhalten auch ein Jahr später noch bei. In einem zweiten Experiment erfuhren wiederum männliche Tiere beider Gruppen physischen Stress: An drei aufeinander folgenden Tagen wurden sie für jeweils fünf Minuten in einen mit Wasser gefüllten Behälter gegeben, so dass sie gezwungen waren zu schwimmen (forced swim test); dies ist für die Tiere sehr unangenehm aber nicht lebensbedrohlich. Während der Experimentierphase blieb der Alkoholkonsum in beiden Gruppen unverändert; drei Wochen nach dem Experiment jedoch stieg er bei den Mutanten erheblich an. Wiederum tranken diese Tiere dreimal soviel Alkohol wie die normalen Mäuse, und wieder war dieses Verhalten auch nach mehr als einem Jahr noch zu beobachten. Diese Experimente zeigen deutlich, dass Crhr1 – vermutlich in Verbindung mit anderen Genen – AKTUELLE THEMEN hollösung. Ergebnis: Tiere beider Linien tranken gelegentlich etwas Alkohol (soziale Trinker), bevorzugten jedoch Wasser, und beide Linien nahmen auch die gleiche Menge an Flüssigkeit auf. Nachdem die Mäuse acht Wochen lang an die freie Wahl zwischen Alkohol und Wasser gewöhnt worden waren, wurden sie Stress-Situationen ausgesetzt, und zwar psychischem und physischem Stress (Abb. 2). Um psychischen Stress geht es im „sozialen Unterwerfungs“-Paradigma: Ein Männchen (Besucher) wird in den Käfig eines anderen Männchens (Resident) gebracht. Sofort attackiert der Resident den Besucher – er verteidigt sein Revier. Dieses Experiment wird an drei aufeinander folgenden Tagen mehrmals wiederholt. Danach setzt man beide Mäuse in einen Käfig, wo sie nur durch einen Maschendraht voneinander getrennt sind. So können sie sich gegenseitig wahrnehmen, aber der Besucher wird nicht weiter angegriffen. Direkt nach diesem Test zeigte sich im Trinkverhalten beider Gruppen keine Veränderung. Einige Wochen später jedoch begannen die Nucleus Accumbens 180kD 180kD * OD grey values (%) 120 100 80 60 40 20 0 Abb. 2: NR2B-Expressionsniveau in den Hirnbereichen Hippocampus, Amygdala und Nucleus accumbens, quantifiziert durch Westernblot-Analysen (grün: Kontrolltiere, rot: Crhr1-/-mutante Mäuse). Die Ergebnisse wurden durch optische Intensität der Banden dargestellt, indem die Expression der Kontrolltiere als 100 Prozent angenommen wurde. 41 GSF beim stressinduzierten Alkoholkonsum und bei der Alkoholabhängigkeit eine wichtige Rolle spielt. Am Mausmodell der Crhr1mutanten Mäuse lässt sich die Genetik der Alkoholabhängigkeit hervorragend untersuchen. Weitere Studien, die tiefere Einblicke darüber geben könnten, wie der Verlust von Crhr1 das Trinkverhalten der Tiere beeinflusst, werden derzeit vorgenommen. Erste Hinweise lassen jedoch vermuten, dass neben Crhr1 auch der Rezeptor für N-methylD-Aspartat (NMDA), im Besonderen seine NR2B-Untereinheit an Alkoholsuchtverhalten beteiligt ist. Denn in Crhr1-Mutanten wird die NR2B-Untereinheit in den Hirnbereichen Hippocampus und Nucleus accumbens verstärkt exprimiert. In der Tat ließ sich in Assoziationsstudien mit alkoholsüchtigen Patienten eine veränderte Expression von NMDA/NR2B-Rezeptoren mit Alkoholsuchtverhalten in Verbindung bringen. Um die molekularen Interaktionen von Crhr1 und dem NMDA-Rezeptorkomplex im Hinblick auf Alkoholsuchtverhalten aufzuklären, müssen weitere molekulargenetische und proteinchemische Untersuchungen an Tiermodellen und an Patienten vorgenommen werden. Ausblick Unsere Untersuchungen im Tiermodell zeigen klar, dass der Crhr1-Rezeptor mit Stress-induziertem Alkoholismus in Verbindung steht. Die Erkenntnisse lassen vermuten, dass auch beim Menschen die Aktivität von Crhr1 beziehungsweise die im Crhr1-Signaltransduktionsweg aktiven Gene verändert sein können und zum Entstehen von Alkoholismus nach Stressexposition beitragen. Alternativ dazu könnte eine Kette stressreicher Ereignisse die Crh/Crhr1-Aktivität verändern und somit die Regulation der Stresshormone stören. In der Tat führen stressvolle Erfahrungen in den ersten Lebensmonaten zu einer lebenslang bleibenden Veränderung der Stresshormonregulation. Weitere molekulargenetische Untersuchungen des Crhr1-Signaltransuktionsweges im Zusammenhang mit Stress und anderen Suszeptibilitätsgenen im Tiermodell und beim Menschen könnten Aufschluss über die molekularen Zusammenhänge dieser Krankheit geben. Auf der Basis dieser Erkenntnisse ist es vorstellbar, neue Behandlungsmethoden für Alkoholismus zu entwickeln. Danksagung Unser Dank gilt den Mitarbeitern des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie, München, und der Klinischen Kooperationsgruppe Molekulare Neurogenetik, die zum Gelingen dieser Arbeiten wesentlich beigetragen haben. Ausgewählte Veröffentlichungen Crabbe, J.C. und Phillips, T.J.: Genetics of alcohol and other abused drugs. Drug Alcohol Depen. 51, 61–71 (1998). Sillaber, I., Rammes, G., Zimmermann, S., Mahal, B., Zieglgänsberger, W., Wurst, W., Holsboer, F. und Spanagel, R.: Enhanced and delayed stress-induced alcohol drinking in mice lacking a functional CRH-R1 receptor. Sience 296, 931–933 (2002). Müller, M.B., Preil, J., Renner, U., Zimmermann, S., Kresse, A.E., Stalla, G.K., Keck, M.E., Holsboer, F. und Wurst, W.: Expression of CRHR1 and CRHR2 in mouse pituitary and adrenal gland: implications for HPA system regulation. Endocrinology 142, 4150–5153 (2001). 42 GSF Preil, J., Müller, M.B., Gesing, A., Reul, J.M.H.M., Sillaber, I., van Gaalen, M.M., Landgrebe, J., Holsboer, F., Stenzel-Poore, M. und Wurst, W.: Regulation of the hypothalamic-pituitary-adrenocortical system in mice deficient for corticotropin-releasing hormone receptors 1 and 2. Endocrinology 142, 4946–4955 (2001). Timpl, P., Spanagel, R., Sillaber, I., Kresse, A., Reul, J.M.H.M., Stalla, G.K., Blanquet, V., Steckler, T., Holsboer, F. und Wurst, W.: Impaired stress response and reduced anxiety in mice lacking a functional corticotropin-releasing hormone receptor 1. Nature Genetics 19, 162–166 (1998).