Entstehung der Multiplen Sklerose - biomed

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wissenschaft & praxis
verschiedene Mechanismen zur
Entstehung der charakteristischen
Entmarkungherde
führen. Diese unterschiedlichen
pathogenetischen MechanisNeues aus der Pathophysiologie der Multiplen Sklerose. Mechamen führen zu unterschiedlinismen der Gewebeschädigung und Reparaturmechanismen bei
chen neuropathologischen Veränderungen in den EntmarMultipler Sklerose. Wie entsteht MS?
kungsherden. Prof. Hans Lassmann und Mitarbeiter (ZenWeltweit sind über eine Million Menschen an trum für Hirnforschung, Medizinische Universität Wien)
Multipler Sklerose (MS) erkrankt, der häufig- konnten vier unterschiedliche Muster von pathologischen
sten neurologischen Erkrankung des jungen Veränderungen in aktiven MS-Herden differenzieren. Diese
wissenschaft
Erwachsenenalters. Ein chronisch entzündli- Entmarkungsmuster sind unterschiedlich bei verschiedenen
& praxis
cher Prozess im zentralen Nervensystem (ZNS) MS-PatientInnen, jedoch homogen in ein und demselben Paführt bei dieser Erkrankung zur Zerstörung der Markscheiden tienten.
Die Unterscheidung dieser verschiedenen pathologischen
und im weiteren Verlauf auch der Axone. Dadurch entstehen
die für die MS typischen großen Entmarkungsherde im zen- Subtypen mittels paraklinischer Marker (Kernspintomogratralen Nervensystem. Die Ätiologie der Multiplen Sklerose phie, Liquoranalysen, Genotypisierung) stellt ein zentrales
ist bislang nicht völlig geklärt, doch entsprechend dem der- Anliegen gegenwärtiger Multiple Sklerose-Forschung dar. Eizeitigen Wissensstand muss eine autoimmunologische Gene- ne Gemeinsamkeit aller vier Muster ist die entzündliche Rese, bei der eine genetische Disposition und Umweltfaktoren ei- aktion, die hauptsächlich aus T-Lymphozyten und Makrone Rolle spielen, als sehr wahrscheinlich angenommen werden. phagen besteht.
Muster I: Das Entmarkungsmuster I besteht ausschließlich
Autoreaktive T-Lymphozyten, die auch beim gesunden
Menschen Bestandteil des Immunsystems sind, nehmen eine aus der beschriebenen entzündlichen Reaktion. Toxische SubSchlüsselrolle als primäre Auslöser der Krankheit ein. Um stanzen aus zytotoxischen T-Lymphozyten und Makrophagen
das systemische Immunkompartment verlassen zu können verursachen die Zerstörung der Markscheiden.
Muster II: Beim Entmarkungsmuster II kommt es zusätzund durch Überwindung der Blut-Hirn-Schranke in das ZNS
gelangen zu können, müssen diese Zellen durch einen exo- lich zu den T-Lymphozyten und Makrophagen in Arealen mit
genen Faktor (z. B. durch einen Infekt) aktiviert werden. aktiver Markscheidenzerstörung zu Ablagerungen von AntiWenn diese peripher aktivierten T-Lymphozyten ihr spezifi- körpern und Komplementfaktoren an zugrunde gehenden
sches Antigen im ZNS vorfinden und dieses zusammen mit Oligodendrozyten und Markscheiden. Auf der Basis einer THLA-Molekülen und weiteren Signalen von Makrophagen Lymphozyten-mediierten Entzündung führen bei diesem Muspräsentiert wird, beginnt die entzündliche Reaktion. Eine ter entmarkende Antikörper zum Markscheidenuntergang.
Muster III: Das Entmarkungsmuster III ist charakterisiert
entscheidende Rolle bei den nachfolgenden Ereignissen spielen verschiedene Botenstoffe des Immunsystems (Zytokine, durch den Verlust von bestimmten Markscheidenproteinen,
Chemokine), die von hämatogenen und lokalen Zellen des wohingegen andere Markscheidenproteine kaum oder nicht
ZNS gebildet werden. Diese Botenstoffe bewirken z. B. die betroffen sind. Ein weiteres Merkmal sind apoptotische OliAufregulierung von Molekülen an der Blut-Hirn-Schranke, die godendrozyten, woraus geschlossen werden kann, dass die
die Adhäsion von Zellen erleichtern, wodurch weitere, nicht Oligodendrozyten das primäre Angriffsziel der Zerstörung
aktivierte Entzündungszellen an den Ort der Entzündung ge- sind und die Markscheiden konsekutiv zugrunde gehen. Als
diesem Muster zugrunde liegender pathogenetischer Mechalangen können.
Eine genetische Disposition, die die Entstehung einer Au- nismus wird eine hypoxische Gewebszerstörung angenomtoimmunerkrankung begünstigt oder das ZNS-Gewebe emp- men, da ebensolche Veränderungen auch bei der akuten Ischäfindlicher für „Attacken“ des Immunsystems macht, spielt bei mie der weißen Substanz vorkommen.
Muster IV: Das herausragende Merkmal des Entmarder Auslösung der Multiplen Sklerose eine wichtige Rolle.
Nach jüngstem Wissensstand besteht ein Zusammenhang kungsmusters IV ist die primäre Degeneration von Oligodenbestimmter genetischer Defekte mit schwererer Erkrankung. drozyten. Oligodendrozyten und Markscheiden werden naIm Tiermodell der MS zeigen Tiere, denen das CNTF (ciliä- hezu vollständig zerstört und Remyelinisierungsvorgänge fehrer neurotropher Faktor)-Gen fehlt, vorzeitiges Sterben der len. Die genauen, diesem Entmarkungmuster zugrunde lieStammzellen der Oligodendrozyten (= Markscheiden-bil- genden Mechanismen sind derzeit noch nicht bekannt. Genedende Zellen), früheren Erkrankungsbeginn und progre- tisch bedingte Veränderungen könnten die Oligodendrozyten
dienten Verlauf. Ebenso erkranken MS-PatientInnen mit ei- empfindlicher für immun-mediierte Zerstörung machen.
nem genetisch inaktiven CNTF früher und schwerer. Rezente kernspintomographische Erkenntnisse belegen eine ausAxonschaden
geprägtere Gewebezerstörung bei MS-PatientInnen mit dem
Der chronisch entzündliche Entmarkungsprozess führt
ApoE-epsilon4 Allel.
primär zu einer Zerstörung der Markscheiden, jedoch im
weiteren Verlauf des Entmarkungsprozesses werden die AxoViele Wege führen zur Entmarkung
ne ebenfalls geschädigt. Nach Überschreiten einer kritischen
Ein wesentlicher Erfolg der MS-Forschung der letzten Schwelle ist die Axonschädigung irreversibel. Das Ausmaß des
Jahre ist die Erkenntnis, dass die Zerstörung der Markschei- Axonschadens korreliert mit den bleibenden neurologischen
den keine einheitliche Ursache hat. Im Verlauf der von T- Ausfällen und variiert sehr stark zwischen den einzelnen MulLymphozyten gesteuerten entzündlichen Reaktion können tiple Sklerose-PatientInnen. Am ausgeprägtesten ist die Axon-
Entstehung der Multiplen Sklerose
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zerstörung in der akuten MS sowie in
aktiv entmarkenden Herden. Aber auch
in chronischen Läsionen schreitet der
Prozess der Axonschädigung kontinuierlich fort, wodurch die klinische Progredienz der Erkrankung bei Fehlen von
Aktivitätszeichen erklärt werden kann.
Die genauen molekularen Mechanismen der Axonschädigung sind derzeit noch unbekannt, doch großteils
dürften toxische Substanzen, welche aus
den Entzündungszellen freigesetzt werden, für die Entstehung des Axonschadens verantwortlich sein. Die Störung
des Ionenkanalsystems durch diese entzündlichen Mediatoren führt in weiterer
Folge zur Akkumulation von intrazellulärem Kalzium mit konsekutiver Aktivierung von Enzymen und dem Abbau des Zytoskeletts. Die dadurch hervorgerufene Störung des axonalen
Transports führt zur Ausbildung eines
(reversiblen) Leitungsblocks. Bei Fortbestehen der schädigenden Einflüsse
entsteht durch Durchtrennung der Axone mit Degeneration der distalen Anteile irreversibler Axonverlust. In chronisch inaktiven Herden dürfte einem
Mangel an trophischen Faktoren eine
entscheidende Rolle beim Fortschreiten
des Axonschadens zukommen.
Reparaturmöglichkeiten
Durch Remyelinisierung werden
demyelinisierte Herde „repariert“: Axone werden durch Wiederumscheidung
mit Markscheiden vor Schädigung
durch toxische Substanzen geschützt
und sichere Nervenleitungen nach einem Leitungsblock wiederhergestellt.
Insbesondere im Frühstadium des
Krankheitsverlaufs können entmarkte
Herde durch Remyelinisierung repariert werden. In späten Stadien der chronischen MS fehlen remyelinisierte Herde meist völlig oder sind auf schmale
Areale, die den entmarkten Herd umgeben, beschränkt.
Generell weisen Entmarkungherde,
in denen viele Oligodendrozyten vorhanden sind, Remyelinisierung auf. Der
Verlust von Oligodendrozyten in den
Entmarkungsherden ist durch eine geringe oder fehlende Remyelinisierung
gekennzeichnet. Remyelinisierende Oligodendrozyten stammen in erster Linie
von undifferenzierten Stammzellen ab.
Oligodendrozyten, die in den entmarkten Arealen überlebt haben, könnten jedoch auch eine Rolle bei Reparationsvorgängen spielen. Neben der Anzahl
der zur Verfügung stehenden Markscheiden-bildenden Zellen und dem
Folie 1
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Pathogenese der Multiplen Sklerose
Blut
Exogener Triggerfaktor
z. B. Infekt
autoreaktive T-Zellen
Aktivierung
Regulation der Autoimmunität
HLA-DR
HLA-A
T-Zell-Rezeptor
Zytokine/Chemokine
Komplementfaktoren
Immunglobuline
BHS
ZNS
spezifisches AG
Entzündung
Entmarkung
Regulation der Suszeptibilität
des ZNS Gewebes
CNTF
APO-E
mitochondriale DNA
mögliche Risikogene
Folie 2
Pathogenese von Entmarkungsherden
Autoimmunität
T-Zell Mediierte Entzündung
(T-Lymphozyten, Makrophagen)
Heterogene Mechanismen der Entmarkung (4 Hauptmuster)
Zytotoxische T-L,
Makrophagen +
Mikroglia
Toxische
Mediatoren
Entmarkende Ak
Makrophagen +
Mikroglia
Komplementkaskade
Hypoxische
Gewebeschädigung
Gefäßschädigung?
MitochondrienDysfunktion?
Genetisch
Bedingte Erhöhte
Vulnerabilität
Des Zns Gewebes
Entmarkungsherd
Folie 3
Selbstreparatur-Programm des Gehirns
Entzündung
Selbstreparatur-Programm des Gehirns
„protektive Autoimmunität“
Neurodegeneration
Rekapitulation von Signalpfaden
der Embryonalentwicklung
lokale Zellen des ZNS
(Neurone, Gliazellen)
Entzündungszellen
• Neurotrophine und Wachstumsfaktoren
• regenerative Zytokine und Chemokine
• Regulatormoleküle der Embryonalentwicklung
• Extrazelluläre Matrixproteine
Regeneration
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wissenschaft & praxis
Axonpathologie, akute Multiple Sklerose:
Immunzytochemie für Neurofilament zeigt zahlreiche durchtrennte
und geschwollene Axone als Ausdruck akuter Axonschädigung.
Tiermodell der Multiplen Sklerose, remyelinisierende Läsion.
Expression des embryonalen Regulatormoleküls Sonic Hedgehog an
Axonen. Immunzytochemie für Sonic Hedgehog.
Ausmaß des Axonschadens beeinflussen noch weitere Faktoren wie das Ausmaß der gliösen Narbenbildung und das
Vorhandensein von Wachstumsfaktoren in dem Entmarkungsherd eine erfolgreiche Remyelinisierung. Rezente Studien belegen, dass ausreichend Oligodendrozyten-Stammzellen in chronischen MS-Läsionen vorhanden sind, diese jedoch nicht in der Lage sind, die entmarkten Axone mit ihren
Fortsätzen wieder zu umscheiden. Dieses Unvermögen zu
remyelinisieren dürfte auf fehlende „Signale“ aus der Umgebung der Oligodendrozyten-Stammzellen zurückzuführen
sein.
Als Antwort auf Entzündung oder Neurodegeneration wird
ein „Selbstreparatur-Programm“ des Gehirns ausgelöst. Dieses
induziert zwei Systeme: die so genannte „protektive Autoimmunität“ und das Wiederauftreten von regenerativen Molekülen, die in der Entwicklung des ZNS eine Rolle spielen.
Die „protektive Autoimmunität“ ist sozusagen die „gute
Seite“ der Entzündung und befindet sich mit „der schlechten
Seite“ der Entzündung, die für die Gewebszerstörung verantwortlich ist, in einem sensiblen Gleichgewicht. Aktuelle
Untersuchungen zeigen, dass aktivierte T-Zellen und andere
Entzündungszellen in MS-Läsionen neuroprotektive Faktoren wie z. B. BDNF produzieren (brain derived neurotrophic
factor), welche das Überleben von Neuronen und Axonen
sowie die Proliferation von Oligodendrozyten fördern. Diese duale Rolle der Entzündung
kann auch die unbefriedigenden
Behandlungserfolge mit nicht se-
lektiven Immunsuppressiva in der Langzeittherapie der MS erklären.
Moleküle, die in der Embryonalzeit die Ausbildung von
ZNS-Strukturen regulieren und steuern und normalerweise im
gesunden Gehirngewebe nach der Geburt nicht mehr vorhanden sind, können unter pathologischen Bedingungen wieder neu gebildet werden und zur Regeneration beitragen. So
wurden kürzlich Faktoren, die in der Entwicklung der Oligodendrozyten und Axone eine Rolle spielen, sowohl in remyelinisierenden Herden der MS als auch in denen des Tiermodells gefunden.
Durch die Aktivierung des Reparaturprogramms setzen
Entzündungszellen und lokale Zellen des ZNS Wachstumsund Überlebensfaktoren frei, die die Regeneration fördern.
Darüberhinaus hat das Reparaturprogramm des ZNS auch
immunmodulierende Funktionen, wie die Hemmung der Aufregulierung von HLA-Molekülen.
Im Verlauf chronisch entzündlicher oder chronisch degenerativer Erkrankungen erschöpft sich offenbar die Reparaturkapazität des ZNS. Um therapeutische Strategien zur exogenen Stimulierung dieser Reparaturmechanismen zu entwickeln, wird die weitere Erforschung der genauen molekularen Mechanismen der regenerativen Prozesse des ZNS nötig
sein.
n
Univ.-Prof. Dr. Maria Storch
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Graz
[email protected]
Literatur zum Thema bei den
Verfasserinnen.
Prof. Helene Breitschopf
Biomedizinische Analytikerin am
Zentrum für Hirnforschung
Medizinische Universität Wien
[email protected]
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