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Autor: Theye, Thomas.
Titel: Der geraubte Schatten - Einführung.
Quelle: Thomas Theye (Hrsg.): Der geraubte Schatten. Eine Weltreise im Spiegel der
ethnographischen Photographie. München/Luzern 1989. S. 8-59.
Verlag: C. J. Bucher Verlag.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Thomas Theye
Der geraubte Schatten – Einführung
Die Vermehrung des Wissens durch die Fotografie
Es hatte zu den Intentionen der frühen Fotografie gehört, die Kenntnis möglichst vieler
Menschen von fernen Weltgegenden zu vergrößern und die “Erkenntniss unseres eigenen
Geschlechtes”1 zu vermehren. In diesem Sinne schrieb 1856 ein Anonymus im Journal of
the Photographic Society:
Dank und Lob der glorreichen Sonne, der wir diese neue Freude verdanken, eben der Sonne,
von der Shakespeare sagt: ‘sie scheint über dem Schloß und wendet sich von der Hütte nicht
ab: auf alles scheint sie gleich hinab!’ Und deswegen erscheinen Paläste und Hütten, Tempel
und Ruinen, weite Landschaften und buschige Winkel und jede Abart der menschlichen Rasse
aus allen Klimazonen, aus allen Gebieten vor unseren Augen. Alle Reize der Natur werden vor
uns ausgebreitet, vom Indus bis zum Pol stehen wir in Verbindung mit Millionen von Menschen,
die wir an den entferntesten Orten von Mutter Erde in all ihren Merkmalen und
Erscheinungsformen unterscheiden können.2
Alexander von Humboldt erwähnte zwar in seinem “Kosmos. Entwurf einer physischen
Weltbeschreibung” (1845-1862) nicht ausdrücklich die Fotografie, doch stellte für ihn die
hierin liegende Fortentwicklung der Naturwissenschaft und Technik einen wichtigen
Aspekt in der Geschichte der “Erkenntniß eines Naturganzen”3 dar. Die Fotografie ist
dabei unschwer in die Reihe der Erfindungen einzuordnen, die Humboldt “neue Mittel
1 Fritsch, Gustav: Anthropologisch-Ethnologisches Album in Photographien von C. Dammann in Hamburg.
Rezension. In: Zeitschrift für Ethnologie (abgekürzt ZfE). 6/ 1874, S. 69
2 Anonym: Photography and the Elder Fine Arts. In: Journal of the Photographic Society. 1856, S. 32.
Zitiert nach Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie. Band 1. 1839-1912. München 1980, S. 40
3 Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845-1862). Band 2.
Stuttgart 1869, S. 138
1
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sinnlicher Wahrnehmung”4 nennt und die für ihn “gleichsam die Erfindung neuer Organe
[darstellen, Anm. d. Verf.], welche den Menschen mit den irdischen Gegenständen wie mit
den fernsten Welträumen in näheren Verkehr bringen, welche die Beobachtungen
schärfen und vervielfältigen.”5
Die Hilfsmittel dazu waren die Enzyklopädien, die illustrierten Zeitschriften, Zeitungen und
eben auch die Fotografie. Sie kam dem Anliegen, die Bildung des einzelnen und sein
Wissen von der Welt zu erweitern, in mehrfacher Hinsicht entgegen. Einmal, weil sie,
insbesondere mit der Erfindung des Positiv-Negativ-Verfahrens, die Bildzeugnisse in
vorher nie gekannter Weise verbreitete und ganz neuen Bevölkerungsschichten
zugänglich machte, was Humboldt im oben erwähnten Zitat mit dem Wort “vervielfältigen”
vor Augen hatte. Noch deutlicher wird dies von dem französischen Kunsthistoriker und
Kulturpolitiker Leon de Laborde hervorgehoben, der “die Reproduktionsmittel als die
Hilfstruppen der Demokratie schlechthin”6 bezeichnete. Zudem war die Fotografie in der
Lage, aus bisher nicht oder nur kaum bekannten Weltgegenden zu berichten. Für
Humboldt war dies der “nähere Verkehr”, an dem die Menschen nun teilhaben konnten.
Aus der durch die Fotografie erweiterten Kenntnis fremder Länder glaubte man, ein
stärkeres Zusammenrücken der verschiedenen Völker und ein tieferes Verständnis der
Menschen füreinander erhoffen zu dürfen: “Rastlos fortschreitend wird jede Erfindung zu
einer Brücke, welche die Annäherung der Nationen vermittelt”7, schrieb dazu Ludwig
Schrank am Ende seines “Berichtes über die ‘Erste photographische Ausstellung in
Wien’”, die 1864 stattfand. In ihr waren unter anderem auch die Fotografien zu sehen, die
Carl Ritter von Scherzer von der Weltumsegelung der österreichischen Fregatte “Novara”
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Laborde, Leon de: Die Revolution der Reproduktionsmittel. In: Ders.: De l'union des arts et de l'industrie.
Band 2. Paris 1859, S. 75-77. Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 97
7 Schrank, Ludwig: Bericht über die “Erste photographische Ausstellung in Wien”. In: Photographische
Correspondenz. 1/1864, S. 88.
2
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in den Jahren 1857-1859 aus “Ceylon, Ostindien, Java, Südamerika und Australien”8
mitbrachte.
Die wesentliche Neuerung der fotografischen Bilderzeugung lag jedoch in dem
besonderen Verhältnis der Fotografie zur abgebildeten Wirklichkeit begründet, worauf der
von Humboldt gebrauchte Begriff einer “geschärften Beobachtung” und das Sinnbild eines
“neuen Organs” hinwiesen. Damit ist die Authentizität gemeint, welche die Fotografie in
den Augen der Zeitgenossen vor allen anderen Bilddarstellungen auszeichnete. Sie allein
konnte ein wahrheitsgetreues Abbild an die Stelle der Überlieferung setzen und somit den
aufklärerischen Anspruch auf Entmythisierung der Welt verwirklichen. Im Rückblick auf
diese Entzauberung der Fremde hieß es dazu 1864 im British Journal of Photography:
Diese Zeiten werden zum Glück nicht wiederkehren, da die Ungebildeten, die nie gereist waren,
glaubten, daß die Straßen Londons mit Gold gepflastert seien und daß ein König ein
märchenhaftes Wesen sei, das aus der Ferne verehrt, aber niemals gesehen und gekannt
werden dürfte. Die Verkehrsmittel haben die eine Illusion, die Fotografie hat die andere zerstört.9
Dies galt für die Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften und fremd erscheinenden
Architekturen gleichermaßen. Für den auf archäologische Arbeiten spezialisierten
Fotografen Franz Stolze lag der besondere Wert der Fotografie darin, daß nun “nichts
mehr von der Willkür des Einzelnen abhängig ist; all die Fabeln von wunderschönen
Männern und besonders Weibern, mit denen uns noch die Reisenden aus dem vorigen
und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts beschenkten, sind vor der Photographie in
Nichts zerflossen”.10
Bei der Verifizierung der alten und überlieferten Bilddarstellungen bemerkte man alsbald,
wie unzuverlässig dieselben waren und wie weit sie von der nun fotografisch
8 Anonym: Katalog. Erste photographische Ausstellung in Wien, veranstaltet von der photographischen
Gesellschaft [...] im Mai und Juni 1864. Wien 1864, S. 12. Auf den Seiten 12 bis 15 folgt eine genaue
Aufstellung der von Scherzer beigesteuerten Exponate. Vgl. hierzu die Rezension Schranks, a.a.O., S.
31. Ein Teil dieser Aufnahmen wurde im “Anthropologischen Theil” des offiziellen wissenschaftlichen
Reiseberichts “Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859
[...]. Dritte Abtheilung: Ethnographie [...], bearbeitet von Friedrich Müller, Wien 1868, veröffentlicht.
Scherzers Urheberschaft an diesen Fotografien ist nicht mehr eindeutig festzustellen. Vgl. Mauracher,
Michael: Blick in die Ferne. Frühe österreichische Expeditions- und Reisefotografie. In: Geschichte der
Fotografie in Österreich. Band 1. 1983, S. 55. Wahrscheinlich sind eigene Aufnahmen durch gekaufte
Studiofotografien ergänzt worden, damals allerdings kein ungewöhnlicher Vorgang.
9 Crawford, J.: The Future of Photography. In: The British Journal of Photography. 11/1864, S. 10f. Zitiert
nach Kemp, a.a.O., S. 40f.
10 Stolze, Franz: Wie ich in Persien meine Apparate verpackte. In: Photographisches Wochenblatt. 7/1881,
S. 59
3
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dokumentierten “Wirklichkeit” abwichen. Wenngleich uns heute dieser Fortschritt
bisweilen auch nur als ein eher oberflächlicher bewußt ist – wissen wir doch um die
unzähligen Möglichkeiten der Manipulation fotografischer Aufnahmen11 –, so bleibt doch
der Fortschritt, den die Fotografie nicht nur für das vorige Jahrhundert brachte,
unbestritten.12
Trotz der im vorigen Jahrhundert allerorten geäußerten Wünsche nach authentischen
Abbildungen war die Vorliebe des interessierten Publikums für exotistische
Inszenierungen fremder Kulturen keineswegs gebrochen. Im Gegenteil, fast scheint es,
als lieferte erst die Fotografie die erforderlichen visuellen Versatzstücke für die
Bildkompositionen der Holzschnitte in den seit der Jahrhundertmitte aufkommenden
illustrierten Zeitschriften wie dem Pfennig Magazin (1833), der Leipziger Illustrirten
Zeitung (1843) oder der Gartenlaube (1853).
Dies stand in engem Zusammenhang mit der in jener Zeit gebräuchlichen Drucktechnik:
Um Text und Bild gemeinsam zu drucken, mußten die Fotovorlagen damals noch von
Stechern in eine Druckform aus Holz, Stahl oder Kupfer übertragen werden. Die heute
geläufige Wiedergabe von Papierbild-Fotografien im gedruckten Buch auf dem direkten
Wege der Autotypie wurde erst in den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts
eingeführt.
Die Übertragung der Fotografie in eine von Hand geschnittene oder gestochene
Druckform bot trotz der noch so authentischen Bildvorlage der subjektiven
Gestaltungsmöglichkeit der Zeichner und Stecher allergrößten Spielraum. So konstatiert
der Berliner Anatom und Anthropologe Robert Hartmann, selbst Maler und Zeichner, im
Hinblick auf die in Holz geschnittenen Illustrationen des 1868 erschienenen Werkes
“Natural History of Man”13 von Reverend John George Wood, den “zum Theil sehr guten
Vorrath an Photographien”14, bemängelt aber, daß bei der Herstellung der Holzschnitte
11 Vgl. Steiger, Ricabeth: Fotos schaffen neue Bilder. Über die Nützlichkeit der Fotografie in der Ethnologie.
In: Brauen, Martin (Hrsg.): Fremden-Bilder. Zürich 1982, S. 8092
12 Vgl. Kemp, a.a.O., siehe Anm. 6, S. 39
13 Wood, John George: Natural History of Man; being an account of the manners and customs of the
uncivilised races of man. 2 Bände. London 1868, 1870., Hartmann bezieht sich hier im besonderen auf
den ersten Band “Africa”.
14 Hartmann, Robert: Die Nigritier. Eine Anthropologisch-Ethnologische Monographie. Teil 1. Berlin 1876.
Erschienen als Supplement der ZfE. 11/1879, S. 110
4
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dieser Fundus “nicht immer mit zu wünschender Sorgfalt benutzt ist”15, was er durch
Vergleich mit den Originalfotografien festgestellt hatte. Das Problem der fotografischen
Wahrheitstreue verlagerte sich auf das Feld der Bildvervielfältigung. Ein Beispiel aus der
Gartenlaube 1884 mag dies noch verdeutlichen.
Wilhelm Gentz, ein seinerzeit renommierter Zeichner und Maler orientalischer Szenen,
stellte in einer Zeichnung “Krieger des Mahdi”16 dar, die in der Gartenlaube als Holzschnitt
wiedergegeben ist. Diese Abbildung sollte einen Text illustrieren, der unter dem Titel
“Bilder aus dem Sudan”17 über die kriegerischen Ereignisse im Sudan berichtete. Im Jahre
1881 war dort ein Volksaufstand unter Führung von Mohammed Achmed, eines
Derwischs des Samariya-Ordens aus dem ägyptischen Sudan, des “Mahdi”, arabisch der
“Geleitete”18, gegen die Herrschaft Ägyptens ausgebrochen. In gleicher Weise sozial,
politisch wie auch religiös begründet, richtete sich diese geschwind um sich greifende
Erhebung gegen die ägyptisch-britische Herrschaft und Unterdrückung. Besonderer
Widerstand regte sich gegen das von den Briten durchgesetzte Verbot des
Sklavenhandels, von dem sich die Hirtenvölker in ihrer Lebensgrundlage materiell wie
spirituell bedroht fühlten. Diese Komponenten verschmolzen mit der islamischen
Volkssehnsucht nach einem Erretter aus der Not, eben des Mahdi.19
Die Rebellen konnten sich lange gegen die europäischen Truppen behaupten. Auch der
legendäre und bei der Niederschlagung des chinesischen Taiping-Aufstandes in den 60er
Jahren “immer siegreiche” General Charles Gordon, geradezu ein Heros der bürgerlichen
Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts wie etwa David Livingstone oder Henry Morton
Stanley, konnte trotz anfänglicher Erfolge das Blatt nicht wenden und wurde 1885 von
Truppen des Mahdi getötet. Erst 1898, drei Jahr nach dem Tode des Mahdi, gelang den
Briten die Niederschlagung des Aufstandes bei Omdurman. Die Truppen des Mahdi
galten als tolle und wildgewordene islamische Fanatiker, die die in europäischen Augen
legitime Vorherrschaft des Westens bedrohten. Der Chronist der Gartenlaube bezeichnete
sie als “entfesselte Horden, die man noch dazu durch die Aussicht auf den
15 Ebd.
16 In: Die Gartenlaube. 32/1884, Nr. 13, S.221
17 Ebeling, Adolf: Bilder aus dem Sudan. In: Die Gartenlaube. 32/1884, Nr. 13, S. 216-218
18 Beuchelt, Eno: Die Afrikaner und ihre Kulturen. Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1981, S. 409
19 Vgl. ebd.
5
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Paradieseslohn im Jenseits fanatisirt hat, [und, Anm. d. Verf.] die sich mit einer an
Wahnsinn grenzenden Todesverachtung dem Feuer der Feinde entgegenstellten”.20 Die
westliche Presse entwarf in ihren Berichten das Bild einer furchterweckenden
Schreckensherrschaft des Mahdi, der schleunigst einer “Abreibung”, wie man damals zu
Kolonialkriegen sagte, bedurfte, um dem Guten und Gerechten wieder zur Einsetzung zu
verhelfen. Die Briten verhielten sich in der Bekämpfung des Aufstandes zunächst eher
zögerlich, so daß die Abbildung der Gartenlaube auch im Kontext der öffentlichen
Meinung zu sehen ist, die ein rasches militärisches Eingreifen forderte. Text und Bild
zielen gleichermaßen auf die Schilderung der Bedrohlichkeit und großen Gefahr, die von
den Truppen des Mahdi ausgingen.
20 Ebeling, a.a.O., S. 217
6
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“Krieger des Mahdi [Azande]. Nach einer Originalzeichnung von
Wilhelm Genz”. Holzschnitt aus: Die Gartenlaube, 32, 1884, Nr.
13, S. 221.
Die Abbildung wird wesentlich durch die beiden stilisierten Lanzen gegliedert, die sie in
drei etwa gleiche Teile einteilen. Wichtigstes Bildelement jedes dieser drei Teile ist jeweils
ein Krieger in voller Bewaffnung, die ebenfalls die Vertikale (Lanzen) betont. Neben den
Lanzen sind Schilde, Schwerter, Dolche, Wurfmesser, Pfeile und Bögen, aber nur wenige
Feuerwaffen zu sehen. Mit der Bemerkung “wie vor tausend Jahren”21 unterstreicht der
Text noch die Rückständigkeit der Bewaffnung, das “Handgemachte” des Krieges im
21 Ebd.
7
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Gegensatz zu den modernen Distanzwaffen der europäischen Kriegsmaschinerie. Ganz
im Gegensatz zum Bild weist der Text jedoch an anderer Stelle auch auf die moderne
Bewaffnung einiger Truppenteile des Mahdi22 hin, um deren Bedrohlichkeit für die
westlichen Interessen noch hervorzuheben.
“Niamniam Krieger”. Holzschnitt aus:
Georg Schweinfurth: Im Herzen von Afrika [...].
Um den “wilden Horden” des Mahdi bildkräftige Gestalt zu geben, hatte sich Gentz
vermutlich in der Reiseliteratur seiner Tage über Afrika umgesehen. Als wichtigste Quelle
muß ihm dabei wohl Georg Schweinfurths zweibändiger Reisebericht “Im Herzen von
Afrika [...]”23 aus dem Jahre 1874 gedient haben, denn den darin enthaltenen Illustrationen
in Holzschnitten sind gleich mehrere Bildbestandteile entlehnt. Sie entstammen
demjenigen Teil des Reiseberichtes, der sich mit den von Schweinfurth so genannten
“Niam niam” beschäftigt. Mit dieser Bezeichnung sind die Azande oder Sande gemeint,
ein Volk von Savannenbauern aus der Zentralafrikanischen Provinz, in der Gegend der
Flüsse Bomu und Uelle im Norden des heutigen Zaire. Die Bezeichnung “Niam niam”
stammt aus der Sprache der Dinka, einem Volksstamm des südlichen Sudan, und meint
22 Vgl. ebd., S. 218
23 Schweinfurth, Georg: Im Herzen vor Afrika. Reisen und Entdeckungen im Centralen Aequatorial-Afrika
während der Jahre 1868 bis 1871. 2 Bände. Leipzig/London 1874
8
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eigentlich nur “Fresser, Vielfresser”24, spielt hier aber auf die durch die Nachbarvölker
überlieferten kannibalistischen Bräuche der Azande an.
“Niamniamweiler am Diamvonū”. Holzschnitt aus: Georg
Schweinfurth: Im Herzen von Afrika [...]. Band 1, Leipzig/London
1874, S. 556; Abb. Links, Band 2, S. 11.
Die Figur des Kriegers mit Lanze und Wurfmesser, dem “Trümbasch”, aus dem linken
Bilddrittel bei Gentz, findet sich bei Schweinfurth auf S. 11 des zweiten Bandes mit dem
Titel “Niamniamkrieger”. Schweinfurth, der als einer der ersten Europäer das Innere
Afrikas in den Jahren 1868 bis 1871 bereiste, nimmt diese Darstellung zum Anlaß, das
Wesen der Azande-Krieger zu charakterisieren: “Vergegenwärtigen wir uns [...] die äußere
Erscheinung des Niamniam, wie er im seltsamen Waffenschmuck, die Lanze in der einen,
den mit dem Kreuze gezierten Schild und die Zickzackwaffe in der andern, den Dolch im
Gürtel, um die Hüften mit langschwänzigen Fellen geschürzt und geschmückt mit den
Trophäen, die er der Jagd- und Kriegsbeute entnommen, mit den aufgereihten Zähnen
der Erschlagenen geziert auf Brust und Stirn, in herausfordernder Stellung dem Fremden
entgegentritt, wie die langen Haarflechten ihm wild um Hals und Schultern fallen, wie er
bei weit aufgerissenen Augen die dicken Brauen furcht, im Munde die blendende Reihe
spitzer Krokodilzähne hervorleuchten lässt – so haben wir in seinem ganzen Wesen alle
Attribute einer ungefesselten Wildheit, so recht entsprechend den Vorstellungen, die
9
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unsere Phantasie an die Person eines echten Sohnes afrikanischer Wildheit zu knüpfen
vermag [...].”25
Schweinfurth galten die Azande als Anthropophagen (Menschenfresser), “und wo sie
Anthropofagen sind, sind sie es ganz und ohne Scheu, um jeden Preis und unter jeder
Bedingung. Die Anthropofagen rühmen sich selbst vor aller Welt ihrer wilden Gier, tragen
voll Ostentation die Zähne der von ihnen Verspeisten, auf Schnüre gereiht, wie
Glasperlen am Halse und schmücken die ursprünglich nur zum Aufhängen von
Jagdtrophäen bestimmten Pfähle bei den Wohnungen mit Schädeln ihrer Opfer”.26
Zwar wurde Schweinfurth selbst nie Zeuge kannibalistischer Praktiken und weist seine
Schilderung der Lebensgewohnheiten der Azande auch nicht durch kenntlich gemachte
Aussagen von Einwohnern aus. Dem Anthropologen und unermüdlichen Sammler
menschlicher Gebeine war der Anblick der von ihm als “Votivpfähle”27 bezeichneten
Trophäenbäume Beweis genug. Neben verschiedenen Tierschädeln waren sie “teils in
kompletten, teils in nur fragmentarischen Stücken, Weihnachtsbäumen nicht unähnlich,
aber mit Geschenken nicht für Kinder, sondern für vergleichende Anatomen reichlich
behangen”.28
Schweinfurth gibt einen solchen mit Schädeln behängten Baum oder Strauch auf Seite
556 des ersten Bandes in seiner Darstellung eines “Niamniam-Weilers am Diamwoū” und
auf Tafel II zu Seite 12 des zweiten Bandes wieder. Bei Gentz findet sich im Holzschnitt
der Gartenlaube dieses Bildelement als Darstellung eines vertrockneten Astes im oberen
Teil des rechten Bilddrittels wieder, der mit Schädeln behangen ist. Schweinfurths Tafel II
zu Seite 12 des zweiten Bandes, “Junge Niamniam in Kriegsausrüstung”, ist noch ein
25 Ebd., Band2, S. 12f.
26 Ebd., Band 2, S. 19
27 Ebd., Band 1, S. 556. Die von Schweinfurth so genannten “Votivpfähle” dienten zur Anbringung von
“Votivgaben”. Von lateinisch “votivus”, “geweiht”, stammend, werden damit im Volksglauben Opfergaben
an höhere Mächte bezeichnet, “sei es, um sie zu Erfüllung einer Bitte zu bestimmen, sei es als
Dankerweisung für gewährte Hilfe oder endlich infolge eines Gelübdes (ex voto). Bächtold-Stäubli,
Hanns/Hoffmann-Krayer, Eduard (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, abgekürzt
HddA. Band 8 (1937). Berlin 1987, S. 1760. Der Votivpfahl oder -baum, in diesem Falle ein Baum,
Strauch oder Pfahl, befindet sich an einer spirituell besonders wirksamen Stelle. Die an ihm
aufgehängten Schädel sollen vermutlich Opfergaben im Sinne eines “stellvertretenden Opfers” (ebd., S.
1761) sein, um Herrschaft über Feinde zu erlangen. Dies ist in zweifacher Hinsicht zu sehen: Zum einen
steht die Trophäe für den tatsächlich besiegten Feind und zum anderen gibt der Besitz dieses
Körperteiles dem Sieger die Verfügungsgewalt auch über die Seele seines Feindes.
28 Schweinfurth, a.a.O., Band 1, S. 556
10
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weiterer Bildteil entlehnt, nämlich der stehende Krieger, der in der Mitte des rechten
Bilddrittels abgebildet ist. Interessanterweise griff bereits Schweinfurth in der
Holzschnittdarstellung dieser beiden Krieger seiner Tafel auf zwei Fotografien mit dem
Titel: “O.(tto) Schoefft, ‘Photographe de la cour’: Amber, ein Sandeh (Niam niam), Kairo
1873”29 zurück. Diese Fotografien zeigen jeweils einen unbekleideten Mann, der einen
Schild und eine Lanze als Waffen mit sich führt. Seine äußere Erscheinung deckt sich in
keinem Punkt mit der von Schweinfurth gegebenen Beschreibung: Die Haare sind nicht zu
der sonst üblichen Tracht geflochten, es sind keine Ziernarben oder Tätowierungen zu
erkennen und es fehlt dem Abgebildeten auch an den so malerisch vom Gürtel
herabhängenden Fellen. Besonders auffällig weicht die Form des Schildes von derjenigen
ab, die Schweinfurth als typisch für die Azande beschreibt. Auch Körperhaltung und
Gesichtsausdruck deuten in keiner Weise auf die so eindringlich geschilderte
Gefährlichkeit dieses ‘Wilden’ hin.
“Junge Niamniam
In
Kriegsausrüstung
[Azande]”.
Holzschnitt aus:
G. Schweinfurth:
Im Herzen von
Afrika [...]. Bd. 2,
Leipzig 1874.
Die einzige Übereinstimmung mit Schweinfurths Bericht liegt in den menschlichen
Knochen und dem Schädel. Beides soll die Neigung des Dargestellten zur
Anthropophagie belegen. Dieses Bildattribut wurde schon in den frühen Berichten über die
11
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Entdeckungsfahrten in die Neue Welt verwendet. Der abgeschlagene Menschenkopf oder
die Schädel stellten damals stets die Insignien des Kannibalismus dar.
Beide Fotografien fanden sich in einem größeren Konvolut der von Schweinfurth auf
seinen Reisen erworbenen Fotografien im Berliner Museum für Völkerkunde. Vermutlich
sind sie nach Schweinfurths Rückkehr aus Zentralafrika 1873 in Kairo entstanden, wo
Schweinfurth mit Unterbrechungen dreizehn Jahre seines Lebens verbrachte.
“Amber”, so der Name des abgebildeten Azande, begleitete Schweinfurth auf seiner Reise
zu den Azande als Dolmetscher und wurde wahrscheinlich von ihm bei arabischen
Sklavenhändlern eingetauscht. Schweinfurth ließ ihn nach Beendigung der Expedition
1871 bei einem befreundeten Arzt in Kairo zurück.30 Es ist zu vermuten, daß sich der
Fotograf einiger zusammengesuchter Requisiten bediente, um so der von Schweinfurth
gegebenen Beschreibung der Azande nahezukommen. Damit dem Krieger trotz seiner
augenscheinlichen Friedfertigkeit doch etwas ‘kannibalische Wildheit’ anhaftete, wurden
ihm vermutlich die menschlichen Gebeine zur Seite gegeben.
Die beiden Fotografien Ambers dienten dem Holzschneider als Vorlagen zu seiner Arbeit.
Die Körperhaltungen, die Amber jeweils in den Fotografien einnahm, sind auch auf dem
Holzschnitt Schweinfurths wiederzufinden. Beide Fotografien wurden in einem Holzschnitt
wiedergegeben, eine damals durchaus gängige Methode, um die Dramatik des Bildes zu
steigern. Hier stimmen nun die äußere Erscheinung und die Bewaffnung mit der
Beschreibung, wie sie Schweinfurth im Text gibt, überein. Auch führt der linke AzandeKrieger bei Schweinfurth ein “Trumbasch” genanntes Wurfmesser mit sich, das jener zu
den charakteristischen Waffen der Azande zählt. Einige dieser Waffen sind bei Gentz im
oberen Teil des mittleren Bilddrittels wiederzuerkennen, wobei auch hier auf
Schweinfurths Werk31 zurückgegriffen wurde.
Allerdings ist auch die Darstellung der beiden Azande-Krieger im Holzschnitt bei
Schweinfurth noch nicht dazu angetan, beim Betrachter jenen Eindruck von “thierischer
Wildheit [und, Anm. d. Verf.] kriegerischer Entschlossenheit”32 hervorzurufen, den der Text
forderte. So wurde in die Montage der beiden Fotografien noch ein drittes Motiv eingefügt,
30 Vgl. Schweinfurth, a.a.O., Band 2, S. 507f.
31 Vgl. ebd., S. 10f.
32 Ebd., S. 5
12
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ein Strauch, der wohl einen Trophäenbaum darstellen sollte. An seinen Ästen sind unter
anderem auch menschliche Schädel zu erkennen. Wiederum wird also durch das gleiche
Zeichen die beabsichtigte Information über die kannibalistischen Praktiken der Azande
übermittelt.
Warum griff Gentz nun aber ausgerechnet auf die Bilddarstellungen der Azande in
Schweinfurths Reisebericht zurück, obwohl der Text des Artikels der Gartenlaube die
Azande als Mitstreiter des Mahdi gar nicht erwähnte?
Dieser beschreibt vielmehr in der Darstellung der Kampfesweise die Truppen des Mahdi
als grausame, entfesselte ‘Wilde’, welche “fast durchweg [...] die Leichen der gefallenen
Feinde [und, Anm. d. Verf.] leider auch oft die blos Schwerverwundeten zu verstümmeln
pflegen; sie schmücken sich sogar selbst mit einzelnen Gliedertheilen und hängen auch
wohl die Schädel neben einem Heiligengrabe auf, wenn sich dort zufällig ein Baum
vorfindet”.33 Diese Rohheit nimmt bei Gentz im rechten Bilddrittel durch die über den
Erdboden verstreuten, abgehauenen Köpfe und den mit Schädeln geschmückten Ast
deutlich Gestalt an. Von solch ruchloser Grausamkeit schien es in der Vorstellungswelt
der Zeitgenossen nicht mehr weit zum Kannibalismus und zur Menschenfresserei, also
der Negation jedweder Regeln menschlichen Zusammenlebens. Der Mahdi und seine
Truppen erscheinen somit nicht mehr als anzuerkennender, “ritterlicher” Feind, dessen
Motive den Zeitgenossen erklärlich waren, ja nicht einmal mehr als menschliches Wesen,
sondern als bloße Verkörperung des Wilden und Bestialischen.
Gentz ignoriert, um diesen Eindruck zu verstärken, auch die erbeutete und teilweise
moderne europäische Ausrüstung der Truppen des Mahdi und rückt stattdessen das
“Handgemachte” dieses Krieges in den Vordergrund. Um die Krieger des Mahdi als
grausame Bestien und Menschenfresser zu charakterisieren, fügten sich die von
Schweinfurth gegebenen Darstellungen der Azande genau in die Vorstellungswelt von
Gentz.
Wie das Beispiel von den Azande in der Gartenlaube zeigt, vermochte man auch mit Hilfe
der Fotografie die westlichen Bildwünsche und -vorstellungen durch das
“wahrheitsgetreue” Medium zu verwirklichen. Was dem vorigen Jahrhundert die
Überzeichnung, Dramatisierung und Montage bei der Übertragung der Fotografien in den
33 Ebeling, a.a.O., S. 218 und vgl. Anm. 27
13
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Holzschnitt war, erlebte in unserem Jahrhundert seine Wiederkehr, wenn nicht gar
Fortführung in Ausschnittvergrößerungen, Retusche oder Fotomontage, wie sie
insbesondere in der Gestaltung der mit gedruckten Fotografien illustrierten Zeitschriften
der zwanziger und dreißiger Jahre üblich wurden.
Die Wahrheit der Fotografie
Die “unnachahmliche Treue”34 und der mechanische Charakter des neuen Mediums
Fotografie nährten von Beginn an die Hoffnung, die Fotografie werde zu einer
unverfälschten Darstellung der Wirklichkeit verhelfen. Die Wirklichkeit komme gleichsam
selbst und ohne Einwirkung des Menschen “zu Wort”. So wurde in dem Dekret vom 15.
Juni 1839, mit dem sich Frankreich zur Zahlung einer Entschädigung an die Erfinder Louis
Jacques Mandé Daguerre und den Sohn Joseph Nicéphore Niépces verpflichtete, die
Entstehung der Fotografie folgendermaßen geschildert: “[...] die von der Natur selbst
abgedruckten Bilder, die durch die Macht des Lichtes entstandenen Zeichnungen von
Gegenständen, die mathematisch genau ihre Formen bis in die kleinsten Details behalten,
sind ein wahrhaftes Faksimile und entstehen, indem man sich einige Augenblicke vor dem
kompliziertesten Monumente, vor der ausgebreitetsten Landschaft aufhält”.35
Die Beobachtung, daß die auf einer Fotografie abgebildeten Gegenstände selbst bei
starker Vergrößerung, wie es schon im oben erwähnten Dekret heißt, “mathematisch
genau ihre Formen bis in die kleinsten Details behalten”, beruht nach Heinz Buddemeier36
darauf, daß Fotografien im Gegensatz zu Gemälden, die sich in Pinselstriche und
Farbpartikel auflösen, selbst durch die Lupe besehen keine Spuren ihres
Herstellungsprozesses aufweisen. “Wie man die Fotografien auch betrachtet, sie
präsentieren immer nur die dargestellte Sache. Genau dies gab den Zeitgenossen das
Gefühl, der Wirklichkeit endlich habhaft geworden zu sein.”37
34 Humboldt, Alexander von: Brief an die Herzogin Friederike von Anhalt-Dessau vom 7. Januar 1839.
Zitiert nach Neite, Werner: Die frühen Jahre der Photographie – Dokumentarisches zu den Anfängen in
Deutschland. In: “In unnachahmlicher Treue”. Ausstellungskatalog. Köln 1979, S. 28
35 Auszug aus dem Dekret vom 15. Juni 1839. Zitiert nach Stenger, Erich: Die Photographie in Kultur und
Technik. Leipzig 1938, S.95
36 Buddemeier, Heinz: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19.
Jahrhundert. München 1970,S.81.
37 Buddemeier, a.a.O., S. 81
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Spuren dieser Auffassung, mit einer Fotografie auch ein Stück Realität nach Hause tragen
zu können, finden sich ebenfalls in den verschiedenen Bezeichnungen, die man der
Fotografie und dem Fotografieren im 19. Jahrhundert gab: Da ist zunächst der Begriff des
Typus, der im Wort Daguerreotypie enthalten ist. Ursprünglich vom Griechischen typos
stammend, das heißt Schlag, Gepräge, Form, Gestalt, Abbild, Vorbild, Muster, Modell,
wurde das Wort über den lateinischen Begriff Typus seit dem 18. Jahrhundert auch in
unserer Sprache geläufig. Als Stammwort wird das griechische týptein, schlagen, hauen,
angenommen38, was noch in den Bedeutungen “Schlag, das durch einen Schlag
hervorgebrachte, die Spur eines Eindrucks”39 deutlich wird. Der fotografische Prozeß wäre
danach, vergleichbar der Prägung von Münzen oder dem Abdruck einer Gipsmarke, so
vorzustellen, daß die Wirklichkeit einen Schlag, einen Eindruck oder Abdruck in der
fotografischen Schicht hinterläßt. Und eben in diesem Sinne haben die Zeitgenossen
auch das umständliche und lange Wort Daguerreotypie abgekürzt und stattdessen Typ
verwendet.40 Als Verb war typen, studentisch-salopp für fotografieren, noch bis in unser
Jahrhundert hinein gebräuchlich41 und verdeutlichte ebenfalls die Vorstellung von der
Fotografie als einem Eindruck, Abguß oder Faksimile von der Wirklichkeit. Vor dem
Hintergrund dieses Verständnisses der Fotografie als eines “wahren Abbildes”42, so der
Bericht des französischen Physikers und Chemikers Joseph-Louis Gay-Lussac an die
Pairs-Kammer (1839), verlieren die Bezeichnungen, die im vorigen Jahrhundert zur
Beschreibung dieses gänzlich neuen Mediums üblich waren, viel von ihrer heutigen
Kuriosität. So schrieb der Ethnologe Paul Ehrenreich in einem Brief aus Rio de Janeiro
vom 16.7.1885, dem er Fotografien beigefügt hatte: “Ich hoffe, dass meine Photographien
Interesse erregen werden. Ich glaube der erste zu sein, der völlig nackte wilde Botocuden
im Urwald selbst abgenommen hat.”43 Im Verb abnehmen wird nochmals die Nähe zum
38 Grebe, Paul (Bearb.): Duden. Band 7. Etymologie. Darmstadt 1963, S. 726
39 Schulz, Hans (Begr.): Deutsches Fremdwörterbuch. Band 5. Berlin/New York 1981, S.546
40 Grimm, Jacob und Wilhelm (Begr.): Wörterbuch der deutschen Sprache. Band 11, 1. 2. Leipzig 1952, S.
1957
41 Weigand, Friedrich (Bearb.): Deutsches Wörterbuch. Gießen 51910. Reprint: Berlin 1968, S. 1092. Vgl.
Grimm, a.a.O., S. 1958
42 Gay-Lussac, Joseph-Louis: o.T. Ansprache vor der “Kammer der Adligen” am 30. Juli 1839. Zitiert nach
Weibel, Peter: Foto-Fake. In: Camera Austria. 4/1980, S. 92
43 Ehrenreich, Paul: Brief an den Vorsitzenden d. d. Rio de Janeiro, 16. Juli (1885), betreffend die
brasilianischen Wilden. In: Verh. der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und
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Abguß und zur Maske deutlich, in die sich ebenfalls die Spuren des Abgebildeten
eindrücken44 und einprägen.
Im englischen Ausdruck to take a photograph, das wörtlich übersetzt gleichfalls das
Nehmen, Abnehmen einer Fotografie bedeutet, werden diese Vorstellungen von der
Fotografie als identischer Kopie oder gar eines Teils der Wirklichkeit auch heute noch
bewahrt. Susan Sontag hat auf den Doppelcharakter der Fotografie hingewiesen, der zum
einen auf der Interpretationsmöglichkeit des Wirklichen beruht. Zum anderen ist jede
Fotografie aber auch “eine Spur, etwas wie eine Schablone des Wirklichen, wie ein
Fußabdruck oder eine Totenmaske. Während ein gemaltes Bild – selbst wenn es den
fotografischen Normen von Ähnlichkeit entspricht – niemals mehr als eine Interpretation
bietet, ist eine Fotografie nie weniger als die Aufzeichnung einer Emanation (Lichtwellen,
die von Gegenständen reflektiert werden) – eine materielle Spur ihres Gegenstandes wie
es ein Gemälde niemals sein kann.”45 Diese Eigenschaft machte die Fotografie in den
Augen des vorigen Jahrhunderts zum wissenschaftlichen Beweis. Sie vermochte es, eine
vorher gefaßte Hypothese im Bild zu verifizieren oder zu widerlegen.
So unternahm zum Beispiel der Konstanzer Fotograf August Salzmann 1854 im Auftrage
des Pariser Ministère de l‘instruction publique eine Studienreise nach Palästina. Dort
fotografierte er zahlreiche Baudenkmäler des Heiligen Landes und verhalf mit diesen
Abbildungen den Forschungserkenntnissen des Altertumsforschers und Orientalisten Felix
de Saulcy über das Alter jener Bauwerke zum Durchbruch. Dieser hatte 1850 Palästina
bereist und war jedoch in seinen Zeichnungen und Plänen stark angezweifelt worden.
Aufgrund der später von Salzmann vorgelegten fotografischen Beweisstücke schrieb de
Saulcy dann triumphierend: “Heute ist nun, dank der Photographie, die Reihe an mich
gekommen. [...] Herr Salzmann war bemüht, an Ort und Stelle alle meine Behauptungen
zu bewahrheiten, mit Hilfe eines sehr geschickten Zeichners, den zu beargwöhnen
schwer fallen dürfte, nämlich der Sonne!”46 Die Fotografien galten den Amateuren wie den
Urgeschichte, abgekürzt BGAEU. In: ZfE. 17/1885, S. 376
44 Das Wort “eindrücken” hatte schon Goethe benutzt, um das gezielte Speichern der in Italien gesehenen
Bilder zu verdeutlichen: “Ich halte die Augen nur immer offen und drücke mir die Gegenstände recht ein”,
schreibt er am 27. Oktober 1786 auf der italienischen Reise.
45 Sontag, Susan: Über Fotografie. München/Wien 1978, S. 142
46 Saulcy, Felix de: Besprechung von August Salzmanns Werk “Jérusalem [...]”. Lille 1855. In: Constitutionel
vom 24. März 1855, wiederholt im Bulletin de la Société Française de la Photographie. Paris 1/ o. J., S.
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Wissenschaftlern als “factische Documente, welche jeden Zweifel an die Wahrheit der
Darstellung ausschließen”.47 Gegen die Arbeit des Fotografen, so Franz Stolze in einem
Bericht über seine archäologische Expedition nach Persepolis in den Jahren von 1875 bis
1878 “giebt es keine Möglichkeit der Appellation, hier kann nicht schön gefärbt, hier kann
Nichts übersehen werden; das Resultat ist da, und jede Einrede schweigt”.48
Auch im Hinblick auf anthropologische und ethnographische Forschungsreisen kommt
Paul Güssfeldt 1879 in seinem Bericht über die Loango-Expedition von 1873 bis 1876 in
Abwägung der beiden Aufzeichnungsverfahren, der Zeichnung oder der Fotografie, zu
dem Schluß: “Die Zeichnung vermag sich selten vom Idealisiren ganz frei zu halten, und
wenn sie es wirklich thut, so kann sich doch der Beschauer nicht ganz der Zweifel
erwehren, ob wohl die Natur treu nachgebildet sei; er wird sich bei Allem, was ihm auf
einem Bilde fremdartig erscheint, doch nur schwer überzeugen lassen, dass dies getreu
der Natur abgelauscht sei. Anders bei der Photographie, die unbeirrt von den Regeln der
Schönheit und Aesthetik Vorzüge und Fehler objectiv reproducirt und deshalb am
geeignetsten erscheint, klare Anschauungen über fremde Gegenden zu erwecken.”49
Solche Gedanken zur Fotografie machen zugleich die Zeitströmung deutlich, die unter
dem Leitmotiv “Wir wollen nicht glauben, sondern schauen”50 versuchte, das Unbekannte
durch Beobachten und Inventarisieren, durch Zergliedern und Vermessen zu
durchdringen. Von den Reisenden wurde keine Darstellung theoretischer
Zusammenhänge erwartet. Vielmehr sollten dem Leser die einzelnen Fakten klar vor
Augen geführt werden, so als könne er selbst an die Stelle des Reisenden treten. Dadurch
sollte er in die Lage versetzt werden, selbst seine Schlüsse aus dem Material zu ziehen.
In dem für die deutschen Forschungsreisenden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
maßgeblichen, 1875 von Georg Neumayer herausgegebenen Handbuch “Anleitung zu
Wissenschaftlichen Beobachtungen Auf Reisen” wird dieser dem Positivismus Auguste
84. Zitiert nach Baier, Wolfgang: Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie. München 1980, S.
453
47 Pizzighelli, Giuseppo: Handbuch der Photographie für Amateure und Touristen. Band 2. Die Anwendung
der Photographie für Amateure und Touristen. Halle a. S. 1887, S.147
48 Stolze, a.a.O., S. 413
49 Güssfeldt, Paul: Die Loango-Expedition. Leipzig 1879, S. 63f.
50 Meitzen, August: Politische Geographie und Statistik. In: Neumayer, Georg (Hrsg.): Anleitung zu
Wissenschaftlichen Beobachtungen Auf Reisen. Berlin 1875, S. 154
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Comtes entlehnte Forschungsansatz vielfach betont. Im Kapitel über “Politische
Geographie und Statistik” von August Meitzen heißt es: “Er, der selbst als Fremder mit
fremden Augen sieht, beabsichtigt Anderen neue Vorstellungen zu geben oder alte zu
berichtigen. Diesen Zweck, dessen muss er sich bewusst bleiben, vermag eine aus der
Gesammtheit der Eindrücke gewonnene Ueberzeugung oder ein souverain
ausgesprochenes Urtheil nicht zu erfüllen.
Vielmehr müssen wir wünschen, dass er verstehe, die einzelnen Elemente, die sein
Urtheil vor ihm selbst begründen, auch uns gegenüber auszudrücken [...]. Der Erfolg liegt
wesentlich in der richtigen Angabe der bestimmenden Gründe, statt der, wenn auch noch
so wohl durchdachten Abstraction des subjectiven Endurtheils. [...] Der Reisende möge
uns genau sagen, was er sieht, wir werden selbst ahnen, was daraus folgt.”51 Comte hatte
die “positiven Forschungen”52 ausdrücklich auf das Tatsächliche und die “systematische
Beurteilung dessen, was ist”53, beschränkt und darauf verzichtet, den “ersten Ursprung
und letztliche Bestimmung”54 eines Untersuchungsgegenstandes zu ergründen.
Stattdessen forderte Comte die “ständige Unterordnung der Einbildungskraft unter die
Beobachtung [...] als erste Grundbedingung jeder gesunden wissenschaftlichen
Theorie”.55 In dieses Konzept fügte sich die Fotografie nahtlos ein. Sie vermochte die
vorgefundenen Welten in eine unendliche Vielzahl von Ausschnitten und Ansichten zu
zerlegen, ja geradezu zu atomisieren. Dies waren dann die “einzelnen Elemente”, die
Meitzen vom Forschungsreisenden vorgeführt zu bekommen erwartete.
Die der Fotografie innewohnende Möglichkeit, alle im Bildausschnitt befindlichen Details
durch die fotochemische Fixierung der von ihnen reflektierten Lichtstrahlen gleichermaßen
abzubilden, stellte in den Anfangsjahren der Fotografie eine kaum versiegende Quelle der
Neugierde dar: Man betrachtete die Fotografien mit dem Vergrößerungsglas, zählte
Blätter und Ziegelsteine und begann so, ganz wie Humboldt es geschrieben hatte, “mit
51 Ebd., Hervorhebung durch den Verf.
52 Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus (Paris 1844). Hrsg. v. Iring Fetscher. Hamburg
1956, S. 29
53 Ebd.
54 Ebd.
55 Ebd., S. 33
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den irdischen Gegenständen wie mit den fernsten Welträumen in näheren Verkehr”56 zu
treten, kurz, seine Welt neu und detailliert zu entdecken.
Fenster zur Zeit
Fotografien fixieren nicht nur einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt, sondern auch die
Zeit. Sie stellen den Augenblick still. Die Fotografie ergreift gewissermaßen, wie Robert
Castel schreibt, “rationale Vorsichtsmaßregeln gegen das Entschwinden der Zeit, indem
sie dieser ihre Spuren entreißt”.57 In demselben Moment, in dem der Auslöser betätigt
wird, ist das Geschehene vorbei, wird es bereits zur Vergangenheit. Der verflossene
Moment kann nun, im Foto konserviert, wieder und wieder neu betrachtet werden – fast
unendlich oft, wenn nicht auch die Vergänglichkeit fotografischen Materials auf einer
anderen Zeitebene dem Aufbewahren von Eindrücken ein Ende setzen würde.
Die Fotografie erlaubt uns so Blicke auf längst vergangene Zeiten, Situationen und
Ereignisse. Sie zeigt uns Menschen und dingliche Welten, wie sie heute nicht mehr leben,
bestehen oder verwendet werden. Indem sie das räumlich und zeitlich voneinander
Getrennte nebeneinanderstellt, die fernen Menschen und Gegenstände aus ihrer
zeitlichen wie räumlichen Distanz zu uns hereinholt, zu ‘Anwesenden im Bild’ macht, hebt
sie die Ungleichzeitigkeit der einzelnen Bilder auf und ermöglicht eine Vielzahl privater wie
wissenschaftlicher Nutzungen.
Der Wunsch, mit Hilfe der Fotografie ein historisches Archiv von Zeitdokumenten
aufzubauen, gleichsam die Fotografie an die Stelle geschriebener Quellen zu setzen, war
im 19. Jahrhundert “beinahe Allgemeingut”.58 Diese Auffassung sah die Fotografie als
Dokument eines Ereignisses, jedoch nicht als Dokument einer Zeitspanne, einer
Entwicklung oder eines Prozesses. Sie korrespondiert daher mit dem auch heute noch
verbreiteten Verständnis von Geschichte als einer Folge von bedeutsamen ‘historischen’
56 Humboldt (1869), a.a.O., S. 138
57 Castel, Robert: Bilder und Phantasiebilder. In: Bourdieu, Pierre et al.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen
Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt/M. 1981, S. 259
58 Ortoleva, Peppino: Photographie und Geschichtswissenschaft. Teil 1. In: Photographie und Gesellschaft.
1/1989, Nr. 1, S. 5. Vgl. dazu auch in Kemp, a.a.O., S. 119f. die Zukunftsvision des Bostoner Arztes und
Essayisten Oliver Wendell Holmes aus dem Jahre 1859 von einer großen Sammlung fotografischer
Negative; er spricht im Rückgriff auf die Abbildungstheorie des griechischen Philosophen Demokrit von
Abdera von Häuten oder Formen, in der – wie in einer Bibliothek die Bücher – nunmehr die Fotografien
Auskunft über alle Phänomene dieser Welt geben werden.
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Momenten. Eine solche Dokumentation der Oberfläche einer Kultur, gleichsam des
Sichtbaren und visuell Darstellbaren im Gegensatz zur nur schwerlich fotografisch
festzuhaltenden Struktur einer Gesellschaft, findet sich auch in den frühen
ethnographischen Fotografien. Sie “bewahren in illustrativer Weise verschwindende oder
unbeschreibbare Einzelereignisse oder Individuen”59 für die Nachwelt auf. So wie jeder
Mensch in seinem Privatleben “darangehen kann, dem Werden einige Fetzen zu
entwinden”60, um ein eigenes Privatmuseum zu installieren, richtete die Völkerkunde sich
ein imaginäres Weltmuseum in Form eines unendlich großen Fotoarchivs – ein Museum
der Menschheit – ein. So wie die Privatsammlung dem einzelnen Menschen, so konnte
diese Sammlung von Fotografien im Sinne der musealen Forschung “jedem einzelnen
[Volk, Anm. d. Verf] eine Art Garantie auf seine Vergangenheit geben”.61 Castel spricht in
diesem Zusammenhang auch von “einer immensen Anstrengung, sich der Zeit zu
versichern”.62 Dieser Gedanke impliziert zugleich eine Dokumentationsform, welche die
Fotografie an die Stelle des Objektes setzte, in der Abbildung das Analogon zur
Wirklichkeit sah, oder wie es der Bostoner Arzt und Essayist Oliver Wendell Holmes 1859
ausdrückte: “Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes, aus
verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann
das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.”63 Diese Stellungnahme hatte für die
Völkerkunde eine besondere Bedeutung, da man mit fotografischen Mitteln durch
Inventarisierung dem Wandel der Kulturen zuvorkam und so den gefürchteten “Verlust der
ethnischen Originalität”64 für die Forschung scheinbar in Grenzen halten konnte. Solchen
Wünschen nach einem Aufhalten der Zeit und deren Vergänglichkeit kam die Fotografie in
den Augen der Zeitgenossen, besonders entgegen, wie Walter Benjamin in seiner
“Kleinen Geschichte der Photographie” 1931 schrieb, denn “alles an diesen frühen Bildern
war angelegt zu dauern [...] – selbst die Falten, die ein Gewand auf diesen Bildern wirft,
59 Mead, Margaret: Anthropology and the camera. In: Morgan, Willard D. (Hrsg.): Encyclopedia of
photography. New York 1963
60 Castel, a.a.O., S. 263
61 Ebd.
62 Ebd.
63 Holmes, Oliver Wendell: Das Stereoskop und der Stereograph. In: Atlantic Monthly. 3/1859, S. 738-748.
Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 119
64 Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin 1881. Reprint in:
Schmitz, Carl August (Hrsg.): Kultur. Frankfurt/M. 1963, S. 62
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halten länger”.65 Was Benjamin hier mit Blick auf ein Porträt des Philosophen Friedrich
Wilhelm Joseph von Schelling schrieb, gilt ebenfalls für den Federschmuck eines
Stammesoberhauptes; dieser konnte ebenfalls “recht zuversichtlich mit in die
Unsterblichkeit hinübergehen”.66
Kulturelle Austauschvorgänge hatte es zwar immer in der menschlichen Geschichte
gegeben, doch die Erscheinungen des Kulturwandels bedrohten seit der Kolonialzeit
unzählige Völker in ihrer Existenz mit nie zuvor gekannter Radikalität. Die Erweiterung
des westlichen Horizonts und die gleichzeitig rapide einsetzenden Veränderungen in den
überseeischen Kulturen trugen dazu bei, daß die Völkerkunde ihre institutionalisierte
Gestalt annahm. Zu ihren “Glaubensbekenntnissen” gehörte es von Beginn an, warnend
die Stimme vor der drohenden Auslöschung unberührt gebliebener Kulturen zu erheben,
wie dies Margaret Mead noch 1975 in einem flammenden Appell über die Notwendigkeit
visueller Dokumentation deutlich machte: “Anthropologie [im weiten, die physische
Anthropologie, Ethnologie, Volkskunde und Vorgeschichte umfassenden
angelsächsischen Sprachgebrauch, Anm. d. Verf.] hat die Verantwortung für das Anlegen
und Bewahren von Aufnahmen der im Verschwinden begriffenen Sitten und Gebräuche
und der menschlichen Wesen dieser Erde, gleichgültig, ob es sich dabei um eingeborene
Völker, schriftlose Kulturen, isoliert in einem tropischen Dschungel oder in den Tiefen
eines Schweizer Kantons [...] handelt.”67
Wenn auch unter etwas gewandelten Ausgangsbedingungen, so kann doch eine gewisse
“Urfurcht” der Ethnologie vor der Zeitlichkeit, der Vergänglichkeit und dem Verschwinden
ihrer “Forschungsobjekte” beobachtet werden. Anders als noch bei Adolf Bastian geht es
heute jedoch nicht nur darum, die Kulturen lediglich museal zu dokumentieren oder dem
Traum von Fortbestand autochthoner Kulturen nachzuhängen, sondern auch darum,
durch Wahrung kultureller Vielfalt die Menschen vor dem Einerlei einer trivialisierten
Massenkultur zu bewahren.
65 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie (1931). In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. 1963, S. 75
66 Ebd.
67 Mead, Margaret: Visual Anthropology in a Discipline of Words. In: Hockings, Paul (Hrsg.): Principles of
Visual Anthropology. Den Haag/Paris 1975, S. 3
21
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Neben die räumliche und zeitliche “Abwesenheit” des Menschen in der Fotografie tritt in
der ethnographischen Fotografie zumindest des 19. Jahrhunderts noch eine weitere
Zeitdimension: Indem man viele Stammeskulturen als untere, erhalten gebliebene Stufen
einer evolutionären Entwicklung begriff, die auf unsere westliche Kultur folgerichtig
zustrebte, waren die Abbildungen zugleich auch für die Forscher und das Publikum ein
Fenster zur Zeit, und zwar auf vergangene Zustände der eigenen kulturellen Entwicklung
gerichtet. Seit Charles Darwin68 betrachtete man zum Beispiel die australischen
Ureinwohner auf den Fotografien beim Feuerbohren eben auch als stellvertretend für die
hiesigen Steinzeitmenschen und sah somit, in der Sprache der Zeit gesprochen, in die
Kinderstube der Menschheit hinein. Die abgebildeten Riten, Masken, Körperverzierungen
– kurz alles, was augenfällig von der bürgerlichen Kultur des Westens stark abwich –
erschienen den Zeitgenossen als Rückständigkeit, Primitivität und Begrenztheit, aus der
man sich selbst befreit glaubte.
Aber auch andere Blicke sind durch dieses Fenster möglich und spielen immer wieder in
das evolutionistische oder wissenschaftliche Bild hinein: aus dem “Unbehagen an der
Kultur” richtet man gern den Blick nach draußen auf die natürliche Lebensweise der
fremden ‘ursprünglichen’ Kulturen, ihr Leben im Einklang mit der Natur, ihre Sozialformen
und Religiosität, in denen uns der Einzelne nicht so sehr atomisiert wie in unserer
Industriekultur, vielmehr in seine Existenz eher spirituell eingebunden erscheint. Das
Betrachten solcher Fotografien löst ganz im Sinne von Rene Descartes’ Äußerung, “es ist
gut, die Sitten verschiedener Völker ein wenig zu kennen, um über die unseren eigenen
angemessener zu urteilen”69, eine Reflexion über uns selbst aus. Diese Bilder stellen den
Fortschritt des westlichen Menschen infrage – als Weiterentwicklung oder als FortEntwicklung, weg von einem besseren Ursprung. Sie fragen nach der Berechtigung dafür,
unsere Lebensform als Maßstab anzusetzen und, wie allzuoft geschehen, diese anderen
Kulturen ihrer Existenzgrundlagen zu berauben.
68 Wenngleich Darwin auch nicht der alleinige Urheber des Evolutionsgedankens ist, da dieser vielmehr auf
die schottischen Aufklärer zurückgeht, so ist doch der Gedanke einer allmählichen Entwicklung allen
Lebens von einfachen zu immer komplexeren Formen untrennbar mit seinen Werken verbunden: On the
origin of species by means of natural selection (1859) und The descent of man and selection in relation
to sex (1871). Vgl. zu Darwin das Kapitel “Das Zauberwort Entwicklung” in: Dolf Sternberger: Panorama
oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Hamburg 31955, S. 94-131
69 Descartes, Rend: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen
Forschung (1637). Hamburg 21969,S. 11
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Ethnographie, Ethnologie, Anthropologie, Völkerkunde – die Begriffe
Ethnographie, von ethnos, griechisch, Volk und graphein, griechisch, schreiben, bedeutet
im Wortsinne “die Erforschung und Beschreibung fremder Völker und Kulturen”70, kurz
Völkerbeschreibung. Die Ethnographie stützt sich heute in der Regel auf längere
Forschungsaufenthalte bei fremden Völkern, auf die sogenannte stationäre
Feldforschung. Als Arbeitstechniken gelten dabei die teilnehmende Beobachtung,
Interviews, Befragungen und das Sammeln von Gegenständen, sogenannten
Ethnographica. Die hierbei gewonnenen Eindrücke können in Form schriftlicher Berichte,
von Filmen, Videoaufzeichnungen oder in Form von Fotografien dokumentiert werden.
Neben dem selbst erarbeiteten Material stützt sich die Ethnographie vielfach auch auf
historische Quellen, zu denen unter anderem auch die Fotografie zählt.
Ethnologie, von ethnos, griechisch, Volk und logos, griechisch, Kunde, Wissen oder
Lehre, bedeutet im Wortsinne Völkerkunde. Sie beginnt dort, wo “bewußt Erklärungen der
Erscheinungen in systematisch zusammenhängender Form geliefert werden. [...] Die
Erklärung von Verschiedenheiten und Übereinstimmungen in den Kulturen der Völker ist
Ziel der Ethnologie.”71 Claude Lévi-Strauss beschreibt diesen Teilaspekt der Forschung
als “einen ersten Schritt zur Synthese”.72 Dies gilt in geographischer Hinsicht für den
Vergleich verschiedener Ethnien, die unter ähnlichen oder auch gegensätzlichen
Bedingungen leben, in historischer Hinsicht für die Rekonstruktion der Geschichte eines
oder mehrerer Völker und in systematischer Hinsicht, wenn ein Merkmal der Technik oder
des Brauchtums ähnlichen Merkmalen aus anderen Kulturen gegenübergestellt wird. Bei
allen solchen Synthetisierungen “umfaßt die Ethnologie die Ethnographie als
Anfangsschritt und bildet” nach Levi-Strauss “deren Fortführung”.73 Die Fotografie kann
hierbei als visueller Beleg für Verschiedenheiten, aber auch für Gemeinsamkeiten
herangezogen werden.
70 Schott, Rüdiger: Aufgaben und Verfahren der Völkerkunde. In: Trimborn, Hermann (Hrsg.): Lehrbuch der
Völkerkunde. Stuttgart 41971, S. 6, Hervorhebung Schott
71 Fischer, Hans: Anfänge, Abgrenzungen, Anwendungen. In: Ders.: Ethnologie. Eine Einführung. Berlin
1983, S. 12
72 Levi-Strauss, Claude: Die Stellung der Anthropologie in den Sozialwissenschaften und die daraus
resultierenden Unterrichtsprobleme (1954). In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Band 1. Frankfurt/M.
1978, S. 379
73 Ebd.
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Ethnographie und Ethnologie werden im deutschen Sprachraum heute meist unter dem
Begriff Völkerkunde zusammengefaßt. Häufig wird Völkerkunde auch synonym mit
Ethnologie gebraucht. Bernhard Streck führt die Begriffe Ethnographie und Völkerkunde
auf den Göttinger Historiker und Slawisten August Ludwig Schlözer (1772) zurück. Der
Terminus Ethnologie wurde hingegen von dem Schweizer Joseph Chavannes (1787)
geprägt.74 Die eingangs dargestellte strikte Trennung zwischen Sammlung und
Beschreibung, das heißt Ethnographie und theoretischer Verarbeitung, das heißt
Ethnologie, findet sich im heutigen Sprachgebrauch zwar noch als übliche
Sprachregelung, wird jedoch immer mehr in ein kritisches Licht gerückt, weil sie vorgibt,
Arbeitsbereiche voneinander zu trennen, die in Wirklichkeit eng miteinander verknüpft
sind. Dies gilt für explizit festgelegte Beobachtungsanleitungen, die aufgrund eines
bestimmten wissenschaftlichen – eben ethnologischen – Interesses bestimmte Aspekte
der fremden Kultur als beobachtenswert definieren und andere hingegen nicht. Aber auch
der Forschungsreisende, der sich ohne Anleitung auf den Weg macht, unterliegt
bestimmten, zum Teil unbewußt getroffenen Vorentscheidungen, die sein
Beobachtungsfeld eingrenzen. Schließlich ist “jede Ethnographie als Beschreibung der
Lebensweise eines (fremden) Volkes immer auch Vergleich. Vergleich der beobachteten
mit der eigenen Lebensweise des Ethnographen. Festgestellt werden Unterschiede und
Ähnlichkeiten”75, so daß man eigentlich schon jetzt in den Bereich der Ethnologie gerät.
Bemerkenswert ist jedoch, daß trotz dieser vielerorts erhobenen Einwände, in den
gängigen Einführungen wie auch den gebräuchlichen Lexika an der eingangs umrissenen
Aufteilung der Völkerkunde in einen eher beschreibenden und einen eher theoretischvergleichenden Teil festgehalten wird. Die Verwendung der Begriffe Ethnographie und
Ethnologie folgt daher auch im vorliegenden Buch diesem Grundsatz.
Als Forschungsgegenstand der Völkerkunde werden heute zumeist die sogenannten
Naturvölker, Stammeskulturen, schriftlosen Völker oder vorindustriellen Gesellschaften
angesehen, wobei sich hinter diesen Bezeichnungen auch immer
wissenschaftsgeschichtlich zu erklärende Grundannahmen und Problemstellungen
verbergen. Demgegenüber stehen Ansätze, die den Forschungsgegenstand der
Völkerkunde ausschließlich von seiner Fremdheit her bestimmt sehen. Dies bedeutet, daß
74 Streck, Bernhard: Wörterbuch der Ethnologie. Köln 1987, S. 10
75 Fischer (1983), a.a.O., S. 12
24
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sich die Völkerkunde mit allen fremden Völkern und Kulturen außerhalb des eigenen
westlichen Kulturkreises zu beschäftigen habe und nicht nur mit denjenigen, denen es
qua Definition an technischer Entwicklung, Emanzipation von der Natur, staatlicher
Gliederung oder an bestimmten Kulturmerkmalen mangelt.
Historisch gesehen waren zunächst alle fremden Völker und Kulturen Gegenstand der
Völkerkunde, die von Reisenden aufgesucht und beschrieben wurden. Bis in die 80er
Jahre des 19. Jahrhunderts hinein findet hauptsächlich der Terminus Ethnographie als
Begriff für die Wissenschaft von fremden Völkern und Kulturen Verwendung. Die
Wörterbücher und enzyklopädischen Lexika weisen bis etwa zur Mitte des vorigen
Jahrhunderts die Ethnographie zudem noch als einen Teil der Erdkunde aus, die wie die
Geographie die Erdgestalt, die Gestalt der Menschen, ihre Sitten und Gebräuche zu
beschreiben suchte. So ist dem Brockhaus “Conversations-Lexikon” in der 8. Auflage von
1833 zu entnehmen: “Ethnographie, das heißt Völkerbeschreibung oder Völkerkunde,
heißt der Theil der Geographie, welcher von den Bewohnern der verschiedenen Länder
handelt, sie in Hinsicht ihrer Körperbildung und ihrer geistigen Kräfte betrachtet und ihre
Sitten, Gebräuche und Eigenthümlichkeiten beschreibt.”76 Hinter dieser für unseren
heutigen Sprachgebrauch überraschenden Zuordnung verbirgt sich die Tatsache, daß die
wissenschaftliche Erforschung fremder Völker und Kulturen erst etwa in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts als Völkerkunde oder Ethnologie institutionalisierte Gestalt annahm.
Wissenschaftliche Gesellschaften77 und Museen78 wurden gegründet und Lehrstühle an
den Universitäten79 eingerichtet. Im deutschen Sprachraum wurde 1869 die “Berliner
Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte” (abgekürzt BGAEU) im
76 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon). (Brockhaus).
Band 3. Leipzig 81833, S. 721f.
77 In London 1838 die “Society for the Protection of Aborigines”; in Paris 1839 die “Société Ethnologique”. In
den folgenden Jahren kamen hinzu: 1842 die “American Ethnological Society”, 1843 die “Ethnological
Society of London”, 1859 die “Société d’Anthropologie” in Paris, 1863 die “Anthropologische Gesellschaft
in Moskau” und die “Anthropological Society of London” und dortselbst 1871 das “Royal Anthropological
Institute”. Vgl. Streck, a.a.O., S. 10, Fischer (1983), a.a.O., S. 23 und Mühlmann, Wilhelm Emil:
Geschichte der Anthropologie. Wiesbaden 1984, S. 96
78 St. Petersburg (1837), Dresden (1843), Kopenhagen (1848), Berlin (1873), Wien (1876), Bremen (1878),
Hamburg (1879), Stuttgart (1911), München (1917). Vgl. Streck, a.a.O., S. 10, Fischer (1983), a.a.O., S.
23, Mühlmann, a.a.O., S. 93
79 An den Unversitäten wurden Lehrstühle für Adolf Bastian (Berlin 1864), Johannes Ranke (München
1886), Edward Burnett Tylor (Oxford 1896), Franz Boas (New York 1899), Rudolf Martin (Zürich 1901),
James Frazer (Liverpool 1906) eingerichtet. Vgl. Streck, a.a.O., S. 10
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Vorgriff auf die später folgende “Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und
Urgeschichte” gegründet. Die BGAEU stellte mit einer einzigartigen Versammlung von
Forschern aus allen drei Disziplinen das für das letzte Jahrhundertdrittel bedeutendste
Forum völkerkundlicher Forschung im deutschen Sprachraum dar.
Mit der Gründung der BGAEU war von 1869 an auch die Herausgabe eines Organs,
nämlich der Zeitschrift für Ethnologie und ihre Hülfswissenschaften als Lehre vom
Menschen in seinen Beziehungen zur Natur und zur Geschichte (abgekürzt ZfE)
verbunden. Sie wurde von Adolf Bastian und Robert Hartmann herausgegeben und
beinhaltete neben Veröffentlichungen aus dem breiten Forschungsgebiet der BGAEU
auch die Sitzungsprotokolle der Gesellschaft, die sogenannten “Verhandlungen der
BGAEU” (abgekürzt Verh. d. BGAEU. In: ZfE).
Martin Gusinde (?) “Paul Schebesta. Der Forscher beim
Mittagessen mit einem Zwerg”, Ituri-Gebiet, Belgisch-Kongo,
heutiges Zaire, um 1934/35. Anthropos-Institut, St. Augustin.
Bevor dieses Podium geschaffen wurde, waren Wissenschaftler, die über fremde Völker
und Kulturen berichten wollten, auf die im weitesten Sinne erdkundlichen oder eher noch
26
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länderkundlichen Publikationen angewiesen.80 “Als länderkundlich wird hier eine
Beschreibung verstanden, die umfassende Informationen zu einem Land oder Gebiet gibt,
wobei eine Trennung in einzelne Fachwissenschaften, wie sie heute besteht, zwar noch
nicht vollständig ausgebildet, und so geographische, botanische, zoologische,
ethnologische und ökonomische Fakten eines Landes [...] zusammengeführt werden.”81
Ähnlich wie diese Zeitschriften und die darin enthaltenen Aufsätze waren auch viele
Buchveröffentlichungen angelegt, welche die Beschreibung von Land und Leuten zum Ziel
hatten.
Von ähnlich großer Bedeutung wie die Beziehung zur Erdkunde war für die Völkerkunde
die Nähe zur physischen Anthropologie, die die Vielgestaltigkeit des Menschen in seiner
körperlichen Erscheinung nach verschiedenen Rassen klassifizierte.
Aus dem Griechischen kommend – von anthropos, Mensch und logos, Kunde, Wissen
oder Lehre, bedeutet Anthropologie wörtlich eine allgemeine Wissenschaft vom
Menschen. Dieser Begriff wurde bereits 1501 in Magnus Hundts “Anthropologium de
hominis dignitate”82 zum ersten Male verwendet und umschloß die kulturelle, soziale,
biologische und naturgeschichtliche Dimension des Lebewesens Mensch. Zu den
Forschungsgegenständen dieser Wissenschaft zählte neben den vorgeschichtlichen und
fremden Kulturen auch die eigene. Im englischen und französischen Sprachraum wird der
Begriff Anthropologie auch heute noch in diesem umfassenden Sinne verwendet, nicht so
dagegen im deutschen. Hier hat sich die ebenfalls bereits im 16. Jahrhundert beginnende
Aufspaltung der Anthropologie in eine physische und eine psychische durchgesetzt.
Derjenige Teil der Wissenschaft, der sich mit der Kultur und den Formen des
Zusammenlebens der Völker befaßte, die sogenannte psychische Anthropologie, wurde
zur Ethnologie oder Völkerkunde gezählt. Der andere Teil, die physische Anthropologie,
wurde seit dem 19. Jahrhundert zur beherrschenden Teildisziplin. Unter physischer
Anthropologie versteht man “die Erforschung und Darstellung der physischen
80 So unter anderem Das Ausland, Stuttgart und Tübingen 1828 bis 1893; Das Ethnographische Archiv,
Jena 1818 bis 1829 und den Globus, Braunschweig 1862 bis 1910.
81 Junge, Peter: Ethnologische Zeitschriften. Deutschland, Österreich, Schweiz. Berlin 1987, S. 17
82 Vgl. Krech, Hartmut: Lichtbilder vom Menschen. Vom Typenbild zur anthropologischen Fotografie. In:
Fotogeschichte. 4/1984, H. 14, S. 4
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Eigenschaften des Menschen”83 mit dem Ziel, den Gang der menschlichen
Entwicklungsgeschichte im biologischen Sinne zu erforschen. Im deutschen
Sprachgebrauch wird Anthropologie synonym mit physischer Anthropologie verwendet.
Der Anstoß zur Gründung der BGAEU ging so auch nicht zufällig von der Sektion für
Anthropologie und Ethnologie der “Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte”
1869 in Innsbruck aus. Die von der physischen Anthropologie angewandten
somatoskopischen, das heißt den Körper beschreibenden und somatometrischen, den
Körper vermessenden Verfahren zur Ermittlung von Rassenunterschieden lagen den
häufig medizinisch ausgebildeten Anthropologen nahe. Denn eine große Zahl der
Mitglieder der BGAEU, angefangen mit ihrem langjährigen Vorsitzenden und spiritus
rector Rudolf Virchow, kam von der Pathologie, Physiologie oder Anatomie zur
Anthropologie. Bei der Erforschung und Beschreibung fremder Völker und Kulturen
bestand die Dualität von physischer Anthropologie und Völkerkunde noch lange Zeit bis in
unser Jahrhundert hinein. Im Kreis der BGAEU bildeten bis zur Jahrhundertwende noch
alle Völker dieser Erde den Gegenstand der Forschungen. Dies galt sowohl für die
rezenten Kulturen mit ihren Sitten und Gebräuchen, die fremden wie die eigene
inbegriffen, für die körperliche Erscheinung der Völker, als auch für die
kulturgeschichtliche und naturgeschichtliche Entwicklung des Menschen. Um die
Jahrhundertwende begann sich dieser Zusammenhang, der vielfach auch von einzelnen
Forscherpersönlichkeiten verkörpert wurde, aufzulösen, und einzelne Teildisziplinen
bildeten sich stärker heraus. Sowohl die physische Anthropologie,
Archäologie/Urgeschichte und Volkskunde als auch die Ethnologie gingen mit der
Begründung eigener Fachorgane und wissenschaftlicher Schulen eigene Wege.
Zum Forschungsgegenstand der Völkerkunde wurden seit dem ausgehenden 19.
Jahrhundert immer mehr die sogenannten ‘Naturvölker’, die man aus evolutionistischer
Sicht als Überbleibsel früherer Entwicklungsstufen ansah und an denen man die
komplexen Formen menschlichen Zusammenlebens in vereinfachter Form studieren zu
können glaubte. Die weite länderkundliche Dimension der Reiseberichte trat in den
differenzierten ethnographischen Arbeiten zur Sprache, zu Sitten und Gebräuchen und
zur “materiellen Kultur” der “Naturvölker” zunehmend in den Hintergrund. Kulturhistorische
Fragen bestimmten nunmehr die Forschung, die Entstehung und Verbreitung bestimmter
83 Virchow, Rudolf: Anthropologie und prähistorische Forschungen. In: Neumayer, a.a.O., S. 571
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Kulturmerkmale, aber auch die Abstammung, Wanderungsbewegungen und die
Vermischung verschiedener Völker.
Diese Fragestellungen wurden bevorzugt an den “Naturvölkern” untersucht, um an die
ursprüngliche und unverfälschte Herkunft der im Laufe der Geschichte immer komplexer
werdenden Kulturmerkmale zu gelangen. In Ermangelung von Schriftzeugnissen als
historischen Quellen wurden in den Völkerkundemuseen vornehmlich Ethnographica
gesammelt und ausgedeutet, um zu historischen Schichtungen zu gelangen.
Trotz dieser Differenzierungen, die in der historischen Entwicklung der Völkerkunde
stattfanden, gaben und geben die Völkerkundemuseen sowohl Zeugnis von den Kulturen
der “Naturvölker” als auch von nicht-europäischen Hochkulturen und verkörpern damit
immer auch die Idee einer “Gesammtschau” aller Völker und Kulturen dieser Erde (Adolf
Bastian). Diese Vorstellung ist sicher als Fortbestehen der kosmographischen
Sammeltraditionen der Wunderkammern und Raritätenkabinette zu sehen, aus denen sich
im 19. Jahrhundert die Völkerkundemuseen entwickelten.
Fotografie auf Reisen: Ein Überblick. Die fotografische Frühzeit bis zur
Einführung der Trockenplatte
Der “Auswärtigen Correspondenz” des von Paul E. Liesegang in Berlin herausgegebenen
Photographischen Archivs vom 16. April 1864 ist die Stellungnahme eines nicht
genannten französischen Kunsthistorikers zu entnehmen, der sich über die Dienste
äußert, welche die Fotografie der Malerei leistet: “Eine berserkerhafte Reiselust, ein
bachantischer Taumelzug durch alle Lande, nur von großer Nüchternheit begleitet, hat
sich vieler Maler bemächtigt, daß sie wie Entdecker die Welt umkreisen. Schneller als der
Hippogryph der Fabel bringt sie der Dampf im Fluge der Räder und Schrauben nach allen
Himmelsgegenden, und so fleißig als sonst die Modellsäle und Umgebungen der
Hauptstadt besucht waren, werden jetzt Algier, Ägypten, Syrien, Palästina von Malern
bereist und ausgebeutet. ”84
Diese Auffassung gibt einen interessanten Aufschluß über jene einschneidenden
Veränderungen, die mit der kolonialistischen Expansion der westlichen Welt im 19.
Jahrhundert und dem Aufkommen des neuen Bildmediums Fotografie einhergingen. Es
84 Schrank, Ludwig: Auswärtige Correspondenz, Wien. In: Photographisches Archiv. 5/1864, Nr. 59, S. 249
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werden nämlich die beiden Hauptaspekte der Erweiterung des westlichen Blickfeldes auf
die Welt deutlich: Im Gefolge der sich weiter ausdehnenden westlichen Kolonialherrschaft
und des gleichzeitigen Aufkommens der als rasend schnell empfundenen modernen
Verkehrsmittel werden eine allgemeine Beschleunigung des Lebens und ein Verringern
der Distanzen – das Näherrücken nicht bloß der überseeischen Welt -für Europa
erfahrbar. Der Gründer des Berliner Museums für Völkerkunde, Adolf Bastian – er
verbrachte von seinen 79 Lebensjahren allein fast ein Vierteljahrhundert auf Reisen in
Übersee85 – charakterisierte diese schwunghaften Veränderungen mit dem Ausdruck “des
ringsum, im allgewaltigen Gewoge, heranbrausenden Weltverkehrs”86, der alle Menschen
erfaßt und sämtliche Lebensbereiche durchdrungen habe. Diese Veränderungen
entfalteten ihre Wirkung für Deutschland mit der Reichsgründung, der Schaffung einer
Kriegsmarine und der starken Hinwendung des Handels zur überseeischen Welt. Die
unter kolonialistischen Vorzeichen erfolgte Öffnung zur Welt wurde von Bastian
rückblickend geradezu euphorisch als Erweiterung des Blicks gefeiert: “Der Horizont
unserer sogenannten Weltgeschichte (auf westlichem Culturbereich) ist durchbrochen, die
ihn bisher umschränkenden Grenzpfosten bröckeln zusammen, frei schweift der Blick
über die Weiten der Erde dahin, aus deren früher wenig nur beachteten [...] fernen
Fragestellungen fremdartiger Ausschau von allen Richtungen heranzutreten beginnen[...].”
87
Dieser “Taumelzug” führte die europäischen Forschungsreisenden in viele
eingezeichnete Regionen im Inneren der Erdteile, brachte daneben aber auch eine
Vielzahl von Kolonialbeamten, Offizieren, Kaufleuten, Missionaren oder auch nur
“globetrotters” genannten Touristen an die bereits bekannten Hafen- und Handelsplätze in
Übersee. Das Reisen schien den Zeitgenossen dabei zum kinderleichten Vergnügen zu
werden, dessen man in allergrößter Sicherheit teilhaftig werden konnte.
Den anderen Aspekt neben der räumlichen Erweiterung des europäischen Blicks stellte in
den Augen der Zeitgenossen die Fotografie dar, deren man sich zur Dokumentation eben
jener neu erschlossenen fremden und exotischen Welten bedienen konnte.
85 Vgl. Kramer, Fritz: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M.
1977, S. 74
86 Bastian, Adolf: Zur heutigen Sachlage der Ethnologie in nationaler und socialer Bedeutung. Berlin 1899,
S. 25
87 Ebd.
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Dieser neue fotografische Blick der Reisenden zeichnete sich vor allem durch “große
Nüchternheit”88 aus. “Die deutliche mathematisch genaue Art, wie die Photographie das
schnell Verschwindende in einem Moment günstiger Beleuchtung [...] abbilden und
festhalten [...] läßt”89, beabsichtigte das Fremde möglichst wahrheitsgetreu ins Bild zu
setzen, ganz im Gegensatz zu den malerischen Schilderungen romantischer
Empfindsamkeit und exotischer Märchenwelten.
Der Bilderhunger nach positiven fotografischen Belegen setzte im Laufe des 19.
Jahrhunderts einen ungeheuren Strom fotografischer Berichterstatter verschiedener
Herkunft und von verschiedenen Motiven angetrieben in Bewegung. Der Genfer Professor
für Ästhetik, Rodolphe Töpffer, selbst auch Zeichner und Schrifsteller, schrieb bereits
1839 warnend zu diesem “Taumelzug” der Fotografen, “daß, wenn unsere ganze Erde
bald auf Metallplatten aufgenommen sein wird, man dann nicht weiß, woher man eine
neue nehmen soll, um durch Daguerreotypien die außerordentlich aufgestachelte
Neugierde der ganzen Menschheit zu befriedigen”.90
Töpffer bezog sich in seinen kritischen Anmerkungen auf das 1841 erschienene
Albumwerk der “Excursions Daguerriennes”91, der ersten Publikation, deren Stahlstiche
auf fotografischen Bildvorlagen beruhten. Nur kurze Zeit nach der Vorstellung des
fotografischen Verfahrens Louis Jacques Mande Daguerres hatte der Pariser Verleger
Nöel-Marie Payma Lerebours den Maler Horace Vernet und dessen Neffen Frederic
Goupil-Fresquet beauftragt, die bedeutendsten baulichen Sehenswürdigkeiten des Orients
zu fotografieren. Obwohl man aus drucktechnischen Gründen die dabei entstandenen
Daguerreotypien noch nicht auf direktem fotomechanischen Wege wiedergeben konnte,
fand das Werk genügenden Absatz, um 1842 einen zweiten Band92 folgen zu lassen. Die
Abbildungen der “Excursions Daguerriennes” zeigen zumeist Architekturdarstellungen aus
verschiedenen Ländern, so den hier wiedergegebenen “Harém de Méhémet – Ali À
88 Schrank, vgl. Anm. 84, a.a.O., S. 249
89 Ebd.
90 Töpffer, Rodolphe: Über die Daguerreotypie (1841). Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 71
91 Lerebours, Noel-Marie Payma: Excursions Daguerriennes. Collection de 50 planches reprdsentant les
vues et les monuments les plus remarquables du globe. Paris 1841
92 Ders.: Nouvelles Excursions Daguerriennes. Paris 1842
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Alexandrie”, aber auch allerlei andere Sehenswürdigkeiten aus Europa, zum Beispiel das
Bremer Rathaus, und sind insofern eher topographischer oder länderkundlicher Art.
In wesentlich entferntere Regionen führt uns hingegen der französische Zollbeamte Jules
Itier, der sich zwischen 1842 und 1846 in Westafrika, Südamerika, Südost- und Ostasien
und in Ägypten aufhielt. Er widmete, soweit dies die technischen Beschränkungen des
Verfahrens zuließen, auch den Menschen der bereisten Länder sein fotografisches
Augenmerk. Seine Porträts zeigen die Dienerschaft und die Angehörigen der
französischen Gesandtschaft in China. In einigen Fällen geben die Bilder auch näheren
Aufschluß über die Physiognomie der fremden Menschen und weisen so bereits auf die
wissenschaftlich angeregten Arbeiten E. Thiéssons hin. Dieser hatte in Paris zwei sich
dort vom Sommer 1844 bis zum März 1845 aufhaltende Botokuden, eine Frau und einen
Mann aus dem Nordosten Brasiliens, fotografiert. Die dabei entstandenen
Daguerreotypien gelten als erste anthropologische Fotografien und wurden vom
Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, Etienne-RenaudAugustin Serres, am 2.
September 1844 der Akademie vorgelegt.93 Über den damit von Serres verfolgten Plan
eines “photographischen Museums der Menschenrassen”94 wird noch an anderer Stelle
ausführlich berichtet.
In den Fotografien Thiessons findet sich bereits der Ansatz der späteren standardisierten
anthropologischen Aufnahmen. Das zu fotografierende Individuum sollte aus seiner
Umwelt herausgelöst, in gerader, ‘soldatischer’ Haltung vor einen neutralen Hintergrund
gestellt beziehungsweise gesetzt werden. Die Aufnahme sollte ihr ‘Objekt’ möglichst
entblößt, also auf das Physische beschränkt, frontal und im Profil und vor allem unter
gleichbleibenden Bedingungen präsentieren, damit die Fotografien auch nach der
Rückkehr zu nachträglichen Untersuchungen und Vergleichen zu verwenden waren.
Diesen Vorgaben genügen hingegen die Daguerreotypien, welche der “Chef de
Timonerie”, der Steuermann der französischen Brigg “Ducouëdic” namens Vernet95 unter
der Aufsicht des Leiters der Expedition, des späteren Konteradmirals Charles Guillain
93 Vgl. Krech, a.a.O., S. 9
94 Serres, Etienne-Renaud-Augustin: Observations sur l'application de la photographie ä l'etude des races
humaines. In: Comptes Rendus de lAcaddmie des Sciences. 21/1845, S. 243
95 Guillain, Charles: Documents sur l'histoire, la géographie et le commerce de l'Afrique Orientale. 2 Teile in
3 Bänden und ein Atlas. Paris 1856-1857. Vgl. Teil 1, Vorwort, S. XIX
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aufnahm, nur zum Teil. Die Brigg “Ducouëdic” unternahm in den Jahren 1846 bis 1848
eine Forschungsreise mit länderkundlichen und handelspolitischen Zielen um Madagaskar
herum, entlang der ost- und nordostafrikanischen Küste und hinüber bis ins indische
Bombay und Goa. Über die auf der Reise entstandenen Daguerreotypien gibt der
Tafelband des Expeditionsberichts Auskunft. Dieser enthält auf insgesamt 54
lithografischen Tafeln neben Seekarten, Stadtplänen und -ansichten, auch 18 Tafeln mit
zum Teil mehreren “Eingeborenenporträts, die mit der Daguerreotypie aufgenommen
wurden”.96 Vernet bildete zwar ähnlich wie Thiésson seine Gegenüber frontal und im Profil
ab, doch entblößte er sie nicht, gestand ihnen in der Mehrzahl eine beliebige
Körperhaltung zu und beließ ihnen gerade auch die ethnographisch so interessanten
Details wie Schmuck, Kleidung oder Bewaffnung. Viele der nach “Daguerre’schen
Abdrücken” angefertigten Tafeln geben hierin eher den Blick des Fotografen auf Habitus
als auf die reine körperliche Gestalt wieder.97 Eine solche Sichtweise findet sich später
besonders in vielen Studiofotografien des 19. Jahrhunderts wieder und weist auf die
später übliche Gestaltung ethnographischer Fotografien voraus.
Anders als es sich Dominique François Arago in seiner Vorstellung der Fotografie vor der
Pariser Deputiertenkammer am 3. Juli 183998 gewünscht hatte, dienten die
Daguerreotypien nur in wenigen Fällen zur Dokumentation archäologischer Forschungen.
Eine der wenigen Ausnahmen auf diesem Gebiet stellen die Arbeiten des deutschen
Fotografen Adolph Schaefer dar, welche dieser im Auftrage des Holländischen
Kolonialministeriums im Jahre 1845 von den Bas-Reliefs der Tempelanlage von
Borobudur auf Java aufgenommen hatte. Schaefer scheiterte an dem Problem, die
großen Reliefs als Ganzes auf seine Platten zu bekommen, denn der Bau der
Tempelanlage ließ es nicht zu, den fotografischen Apparat in der nötigen Entfernung
aufzustellen. Die Architekturdetails der seinerzeit bei Probeaufnahmen erzielten Resultate
erschienen aber den Auftraggebern keineswegs als befriedigend und die von Schaefer
dafür veranschlagten Kosten als zu hoch und so entließ man den Fotografen wieder.99 Es
sollte noch bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts dauern, ehe mit weiterentwickelten
96 Ebd.
97 Das Werk Guillains fand in der zeitgenössischen Kritik eine recht positive Aufnahme, so auch in
Hartmanns Überblick über bildliche Darstellungen von Afrikanern, “Die Nigritier”, a.a.O., S. 106.
98 Vgl. Arago, Dominique François: Bericht über den Daguerreotyp (1839). Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 51f.
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Kameras, Objekten und mit Papier- beziehungsweise Glasnegativen fotografische
Verfahren zur Verfügung standen, welche diejenige Beschleunigung archäologischer
Arbeiten ermöglichten, die sich Arago seinerzeit von dem neuen Medium erhofft hatte.
Besonders Maxime Du Camp in den Jahren 1849 bis 1851 und der Konstanzer August
Salzmann, um 1854, trugen mit den fotografischen Ergebnissen ihrer Reisen in den Orient
zu einem authentischen Bild der archäologischen Stätten bei und verhalfen damit der
Wissenschaft zu den nötigen visuellen Beweisstücken. In der Folgezeit wurde daher die
Fotografie für diesen Zweig der Wissenschaft zu einem unersetzlichen
Dokumentationsverfahren. Über die Arbeiten Desire Charnays in Mexiko (1857-1861),
Hermann Wilhelm Vogels und Gustav Fritschs im Niltal (1868), Heinrich Schliemanns in
Troja (1870-1872) sowie Franz Stolzes in Persepolis (1875-1878) ist bereits von anderen
ausführlich berichtet worden.100
Eine andere Art fotografisch dokumentierter Reisen stellten die etwa seit der Mitte des
vorigen Jahrhunderts entsandten Expeditionen dar, welche die politischen und
kommerziellen Interessen der westlichen Nationen in Asien demonstrieren sollten. Bereits
die amerikanische Schwadron von Kriegsschiffen unter Befehl von Commodore Matthew
Calbraith Perry, welche im Jahre 1854 die ‘Öffnung’ Japans für westliche
Handelsniederlassungen erzwang, hatte einen Zeichner, den Deutschen Wilhelm Heine,
aber auch einen Daguerreotypisten, den Amerikaner Eliphalet Brown jr., an Bord, die sich
die Arbeit der Bildberichterstattung teilten. Aufgrund der langen Belichtungszeiten beim
Verfahren Daguerres konnte Brown nur solche Personen aufnehmen, die sich allein oder
in Gruppen zu einer längeren ‘Sitzung’ entschließen konnten. Heine hingegen skizzierte
das Leben und Treiben der Japaner. In manchen Abbildungen des mit Lithographien
illustrierten Werks “Narrative Of The Expedition Of An American SquadronTo The China
Seas And Japan, Performed In The Years 1852, 1853 And 1854”101 finden sich solche
99 Vgl. Baier, a.a.O., S. 450f. In letzter Zeit hat hat besonders Herman J. Moeshart auf diesen in
Vergessenheit geratenen Fotografen hingewiesen. Vgl. Moeshart, Herman J.: Daguerreotypieren unter
der Tropensonne. Adolph Schaefer in Niederländisch-Indien. In: Dewitz, Bodo von/Matz, Reinhard
(Hrsg.): Silber und Salz: Zur Frühzeit der Photographie im deutschen Sprachraum (1839-1860). Köln
1989, S. 458-479
100Vgl. Baiers Kapitel “Die Fotografie auf Forschungsreisen”, a.a.O., S. 449-466 und Adam, Hans Christian:
Photographie auf Forschungsreise – Reisende Photographen im 19. Jahrhundert. In: In unnachahmlicher
Treue, a.a.O., S. 115-128
101Hawks, Francis L.: Narrative Of The Expedition Of An American Squadron To The China Seas And
Japan, Performed InThe Years 1852, 1853, And 1854, UnderThe Command Of Commodore M. C. Perry
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Zeichnungen mit den daguerreotypierten Einzel- und Gruppenporträts in einer Darstellung
vereint. Die Expeditionen verfolgten neben der Durchsetzung politischer Ziele, der
‘Öffnung’ von Handelsgebieten, der Vereinbarung von Handelsrechten und der
Einrichtung exterritorialer Herrschaftsgebiete auch immer das vordringliche Ziel,
umfassende Informationen über die politische und soziale Situation der jeweiligen Länder,
über die dortigen kommerziellen Gegebenheiten, das heißt über den möglichen Erwerb
von Rohstoffen und von Rohprodukten, aber auch über die Absatzmöglichkeiten für
westliche Waren zu erlangen.
Besonders nach dem erfolgreichen Eindringen der großen westlichen Kolonialmächte in
China und Japan um die Mitte des 19. Jahrhunderts suchten auch die kleineren Staaten
Europas ihre Chance, ein Stück aus dem kolonialen “Kuchen” zu erhaschen: Flagge zu
zeigen, daneben aber auch ein umfangreiches wissenschaftliches Programm zu
absolvieren, in dem unter anderem auch die Anthropologie, Ethnographie und
Sprachwissenschaft den ihnen gebührenden Platz einnahmen, war Ziel der
Weltumsegelung der österreichischen Fregatte “Novara” in den Jahren 1857 bis 1859. Mit
von der Partie waren auch hier bereits des Fotografierens Kundige, wie zum Beispiel Dr.
Ferdinand von Hochstetter, Karl Ritter von Scherzer oder der Deutsche Bruno Hamel. Mit
Bestimmtheit ist allerdings nur von dem Letztgenannten zu sagen, daß er seine
fotografischen Kenntnisse auch in die Tat umgesetzt hat, denn von ihm stammt ein Teil
der Abbildungen in Hochstetters 1863 veröffentlichtem Buch “Neuseeland”102.
Die “Preussische Expedition nach Ost-Asien” der Jahre 1860 bis 1862, auch bekannt
unter dem Namen ihres Leiters, des Gesandten Graf Friedrich zu Eulenburg (“EulenburgMission”), war im wesentlichen auf die Erlangung von Niederlassungs- und
Handelsrechten und den Abschluß diesbezüglicher Verträge mit Japan, China und
Thailand gerichtet. Daneben wird in dem vierbändigen Expeditionsbericht das starke
Interesse an Informationen über die Bestände in den Ländern der neuen Handels‘partner’
deutlich. An dieser Reise waren wiederum der Zeichner Wilhelm Heine und der Maler A.
[...]. New York 1856. Die Abbildungen entstammen der mit farbigen Lithographien ausgestatteten
Ausgabe gleichen Titels von 1857, die hier angeführte Ausgabe von 1856 ist weniger aufwendig
ausgestattet und mit einer kleineren Zahl von Abbildungen in Holzschnitt und Kupferstich illustriert.
102Vgl. Hochstetter, Ferdinand von: Neuseeland. Stuttgart 1863, Vgl. Anmerkung 109 meines Aufsatzes
“Wir wollen nicht glauben, sondern schauen” im vorliegenden Band.
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Berg sowie ein Fotograf namens Bismark beteiligt. Das neben den Textbänden103
erschienene Tafelwerk “Ansichten aus Japan, China und Siam”104 gibt mit seinen
landschaftlichen Darstellungen allerdings nur wenig Aufschluß über die vorgefundenen
Lebensverhältnisse in diesen Ländern, sondern vermittelt eher Eindrücke von der
Landschaft und der Tempelarchitektur des alten Japan.
Wilhelm Burger hingegen gelang es, in seinen Fotografien ein einfühlsames,
respektvolles, aber auch kühles und nüchtern-sachliches Bild der Menschen Japans zu
geben. Burger nahm in den Jahren 1868 bis 1870 als offizieller Expeditionsfotograf an der
“K. K. Mission nach Ostasien und Südamerika” teil.105 Zu seinen Aufgaben gehörte die
umfangreiche Dokumentation von kunsthandwerklichen Gegenständen für die heimischen
Initiatoren der Expedition. Daneben vermittelte er den Betrachtern trotz der
weitverbreiteten Abneigung gegen die europäischen Fremden, einen sehr nahen und
intimen Einblick in die japanische Gesellschaft zur Zeit der großen politischen und
sozialen Umwälzungen der Meiji-Restauration des Jahres 1869 und der Öffnung des
Landes zum Westen hin.
Die koloniale Durchdringung der überseeischen Welt und die neuen Verkehrsmittel
setzten ab der Mitte des vorigen Jahrhunderts verschiedene Reisende in den Stand, ihre
wissenschaftlichen, geschäftlichen oder auch nur touristischen Reisen zu verwirklichen.
Dabei gehörte für viele die fotografische Ausrüstung zum unverzichtbaren Bestandteil
ihres Gepäcks. Zumeist wurde in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts noch mit
Papiernegativen, in den 60er Jahren bereits mit Glasplatten gearbeitet, die jedoch beide
Male vom Fotografen vor der Aufnahme beschichtet beziehungsweise lichtempfindlich
gemacht und im Anschluß an die Belichtung an Ort und Stelle entwickelt werden mußten.
Die dazu nötige technische Ausrüstung hatte beträchtliche Ausmaße, und die
Schwierigkeiten, unter widrigsten Umständen und unter den Mißhelligkeiten des
tropischen Klimas zu akzeptablen Bildresultaten zu gelangen, waren enorm. Kein Wunder,
103Die Preussische Expedition Nach Ost-Asien. Nach Amtlichen Quellen. 4 Bände. Berlin 1864-1873
104Berg, A. (Hrsg.): Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Ansichten aus Japan, China und Siam. 10
Hefte. Berlin 1865-1873
105Burger nahm bis zum 31. Oktober 1869 an der Expedition teil, mußte dann aber krankheitshalber in
Yokohama aus dem Dienst scheiden. Nach seiner Wiederherstellung hielt er sich noch bis Anfang 1870
in Japan auf und langte im Frühjahr 1870 wieder in Europa an. Vgl. Rosenberg, Gert: Wilhelm Burger.
Ein Welt- und Forschungsreisender mit der Kamera. 1844-1920. Wien/München 1984, S. 27f.
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daß Reisende, wie der Berliner Physiologe und Anthropologe Gustav Fritsch, im Rückblick
auf ihre fotografischen Reiseerfahrungen – Fritsch bereiste in den Jahren 1863 bis 1866
das südliche Afrika zu anthropologischen Zwecken – etwas heroisierend bemerkten:
“Solche unliebsame Überraschungen der afrikanischen Natur reizen die Energie des
echten Reisenden zum erhöhten Widerstand an; wer sich dadurch einschüchtern läßt,
gehört nicht nach Afrika. ”106
In den Jahren 1854 bis 1857 bereisten die Brüder Hermann, Adolph und Robert
Schlagintweit im Auftrag der “Britisch-Ostindischen Compagnie” Indien und die HimalajaRegion bis hinein nach Zentralasien. Die Ziele der naturwissenschaftlichen Forschungen
bestanden in Untersuchungen des Erdmagnetismus, in Höhenmessungen,
kartographischen Arbeiten sowie in meteorologischen Beobachtungen. Daneben
erbrachte die Forschungsreise, die auf besondere Vermittlung Alexander von Humboldts
zustande gekommen war107, eine Fülle von botanischen und zoologischen
Sammlungsgegenständen sowie Ethnographica in großer Zahl. Das auf Humboldt
verweisende universale Forschungsinteresse der Reisenden richtete sich daneben auch
in starkem Maße auf die physische Anthropologie des indischen Subkontinents und die
Vielzahl der dort lebenden ethnischen Gruppen, ihre Unterschiede, Herkunft und
Verwandtschaft. So befanden sich nach der Heimkehr unter den
Sammlungsgegenständen 400 Menschenskelette und Schädel108 sowie die
Gipsabformungen, die man auf der Reise von den Köpfen, Händen und Füßen lebender
Menschen angefertigt hatte. Diese Masken dienten wiederum zur Herstellung von
Abgüssen in Gips und Metall, die dann von 1858 an in mehreren Ausgaben als “Von
Schlagintweit’sche Sammlung ethnographischer Köpfe aus Indien und Hochasien” – so
der Titel des ‘Prospectus’ der Ausgabe von 1862109 – zur Subskription angeboten wurden.
106Fritsch, Gustav: Fünfundvierzig Jahre Reisephotograph. In: Goerke, Franz (Hrsg.): Denkschrift
Anlässlich Des Zwanzigjährigen Bestehens Der Freien Photographischen Vereinigung Zu Berlin. Halle a.
S. 1910, S. 50
107Kick, Wilhelm: Alexander von Humboldt und die Brüder Schlagintweit. In: Müller, Claudius C./Raunig,
Walter (Hrsg.) Der Weg zum Dach der Welt. Innsbruck 1982, S. 75f.
108Körner, Hans: Die Brüder Schlagintweit – Hermann, Adolph, Robert und Emil – Familie, Forschungsreise
in Indien und Hochasien, Werke, Sammlungen und Nachlaß, Bibliographie. In: Müller/Raunig, a.a.O., S.
67
109Auskunft über den Sammlungsbestand des Nachlasses der Brüder Schlagintweit in der Bayerischen
Staatsbibliothek München gibt das Bestandsverzeichnis “Schlagintweitiana”. Es verzeichnet unter der
Signatur VI. 5.6.1. drei solcher gedruckter Kataloge der Abformungen. Eine umfangreiche Sammlung der
37
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Daneben hatte sich Robert von Schlagintweit noch an einer anderen Art von ‘Abdrücken’
erfolgreich versucht, nämlich an der Fotografie. Insgesamt betrug die Zahl der auf der
Reise nach Indien und Hochasien angefertigten Fotografien rund 400 Stück.110 Die heute
noch erhaltenen etwa 100 Fotografien sind zum größten Teil Darstellungen von Menschen
und stellen neben anthropologisch interessanten Typen aus den verschiedenen Gruppen
der Ureinwohner des indischen Subkontinents, einige als typisch betrachtete Vertreter der
wichtigsten Kasten Indiens und aus der Bevölkerung der Himalaja-Region vor. In vielen
Fällen geben sie auch interessante ethnographische Details wieder. Zuweilen sind die
Abzüge stark übermalt, was den fotografischen Charakter der Abbildungen fast verdrängt
und sie in die Nähe der zahlreichen Zeichnungen und Aquarelle rückt, die gleichfalls in
großer Zahl auf der Reise entstanden. Als mediengeschichtliches Kuriosum müssen noch
diejenigen Fotografien aus dem Nachlaß erwähnt werden, die man von
Landschaftsaquarellen Hermann und Adolph Schlagintweits anfertigte und anschließend
wiederum kolorierend übermalte, um dem Aussehen der Aquarelle nahezukommen. Diese
Fotografien dienten, in einem Album zusammengefaßt, als Muster zu dem
nichtrealisierten Buchprojekt mit dem Titel “Coloured photographs from India and High
Asia selected from 750 original drawings [...]”111.
Als ein weiterer Forschungsreisender, der mit fotografischen Mitteln über die Länder,
Völker und Kulturen berichtete, die er bereiste, ist der Berliner Ethnograph und
Forschungsreisende Fedor Jagor zu erwähnen, der bereits 1849 mit dem damals gerade
von Abel Niepce de St. Victor erfundenen Verfahren der Fotografie auf Glasplatten mit
einer Eiweißemulsion gearbeitet hat.112 Auf seiner Reise nach Südostasien in den Jahren
Schlagintweit'schen Abgüsse befindet sich heute noch im Museum für Völkerkunde Berlin SPMK.
110Vgl. Schlagintweit-Sakünlünski, Hermann von: Reisen in Indien und Hochasien. Band 1. Jena 1869, S.
XXXVI. Weitere wichtige Informationen über die Schlagintweit’schen Fotografien gibt Hans Körners Text:
Photographieren auf Forschungsreisen. Robert Schlagintweit und seine Brüder erforschen die Alpen,
Indien und Hochasien (1850-1857). In: von Dewitz/Matz, a.a.O., S. 310-333. Heute enthält der
Sammlungsbestand der Bayerischen Staatsbibliothek in München insgesamt 96 Fotografien, das heißt in
der Abteilung IV.2 83 fotografische Darstellungen von Menschen und in der Abteilung IV.3 13
Abbildungen von Gebäuden in Bombay.
111Schlagintweit, Hermann und Adolph: Coloured photographs from India and High Asia selected from 750
original drawings executed during the years 1854-1857 by M. M. de Schlagintweit. Leipzig (Brockhaus)
1860. Dieses Muster, Signatur IV.1, enthält 28 Abbildungen.
112Vgl. Photographische Rundschau. 10/1896, S. 260 und Baier, a.a.O., S. 455, der darauf hinweist, daß
dieses Bild neben anderen Fotografien Jagors 1896 in der “Photographischen Ausstellung” in Berlin zu
sehen war. In ähnlicher Weise wurden Jagors Bilder, “Madonna della sedia (Glasbild auf Eiweißschicht,
von Dr. Jagor 1849 aufgenommen), Palazzo zu Venedig (1850 von Dr. Jagor auf Jodsilberpapier
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1857 bis 1861 fotografierte Jagor in Singapur und in Malakka und nahm mit Hilfe von
Papiernegativen vornehmlich topographische Ansichten, Kanalbilder, Uferszenen und
fremde Architektur auf. Zum Porträtieren verwendete er hingegen meistens als
Zeichenhilfe die Camera lucida.
Die Photographische Rundschau brachte im Jahrgang 8/1894 als Autotypie die
Wiedergabe einer Jagor’schen Ansicht von “Singapore im Jahre 1857”. Der Herausgeber,
Richard Neuhauss, äußerte sich in seinem Begleittext voller Lob über die Qualität dieser
Aufnahme und schloß, nicht ohne Seitenhieb auf die modernen Amateure, mit der
Bemerkung: “Reisende, die heutzutage mit ‘Kodak’ und Gott weiß welchen Hilfsmitteln
Indien durchstreifen, ohne auch nur eine einzige brauchbare Aufnahme heimzubringen,
mögen sich am vorliegenden Bilde ein Beispiel nehmen.”113 Jagor selbst indes schien die
Fotografie als Vorlage für die Illustration seines 1866 erschienenen Buches “Singapore –
Malacca – Java. Reiseskizzen”114 allein nicht ausreichend. Vielleicht mangelte es ihm im
Vordergrund des Bildes an einem spannungsreichen Gegenpol zur Reihe der Pfahlbauten
auf dem gegenüberliegenden Ufer. Die Tafel zu Seite 50 des Buches zeigt jedenfalls statt
der Sandbank der Fotovorlage ein breiteres Gewässer, auf dessen sanfter Dünung sich
ein Segelschiff mit Beiboot wiegt. Dieses Schiff ist, wie Jagors Vorwort ausweist, “Dumont
d’Urville’s Atlas”115 entnommen. Damit ist vermutlich der Tafelband zu einer allerdings
nicht näher angegebenen Ausgabe des Berichts über die Forschungsreise des
Konteradmirals Jules-Sébastien-César Dumont d’Urville in den Jahren 1837 bis 1840
nach Ozeanien und in die Antarktis mit den Schiffen “Astrolabe” und “Zélée” gemeint. In
ganz ähnlicher Weise, nur ohne diesbezügliche Quellenangabe, wurden der Tafel zu Seite
101 die Schiffe am rechten Rande des Kanals beigegeben, wohl weil man in der rechten
Hälfte der Fotografie durch Bewegungsspuren und Unschärfen eine die Harmonie des
Bildes störende Unruhe sah, welche der Illustrator des Buches ausglich. Dieser Umgang
aufgenommen), das alte Berlin bei der Charité (wie vorher) [und, Anm. d. Verf.] Malayisches Pfahldorf
(1857 von Dr. Jagor auf Papier aufgenommen)” in einer Sitzung der “Freien photographischen
Vereinigung zu Berlin” am 17. November 1899 neben denen anderer Fotografen vom Vorsitzenden
Gustav Fritsch (sic!) als Inkunabeln der Fotogeschichte präsentiert. Vgl. Photographische Rundschau.
14/1900, H. 4, o. S. Jagor selbst wird in der Festschrift Goerkes, a.a.O., S. 152 im Jahre 1910 als
verstorbenes Ehrenmitglied der “Freien photographischen Vereinigung zu Berlin” angeführt.
113Photographische Rundschau. 8/1894, Tf. VI und S. 99. Vgl. Neuhauss, Richard: Die Neuordnung der
Photographiesammlung der Berliner Anthropologischen Gesellschaft. In: ZfE. 40/1908, S. 99.
114Jagor, Fedor: Singapore-Malacca-Java. Reiseskizzen. Berlin 1866
115Ebd., S. 2
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mit den Bildvorlagen ist noch stark einer malerischen Sicht der fremden Welten
verpflichtet, die zwar einerseits Bildbestandteile durchaus richtig wiedergibt, ihren
Gesamteindruck andererseits durch Kombination verschiedener Versatzstücke erzielt.
Hermann Schlagintweit dachte wohl kritisch an ähnliche Beispiele, als er sich 1869 im
ersten Band “Indien” der “Reisen in Indien und Hochasien”116 mit den bildlichen
Darstellungen aus Indien befaßte. Für ihn kam es vor allem darauf an, “daß das Bild in
seinen Eigentümlichkeiten reell und richtig sei, und ferner ist als ebenso wichtig von
landschaftlicher Darstellung zu verlangen, daß sie den allgemeinen Bedingungen des
Schönen oder des Großen entspreche, was aber nicht durch Komposition, sondern durch
passende Wahl des Standpunktes, sowie der Tageszeit für Beleuchtung und Staffage,
anzustreben ist”.117 In späteren Zeiten, und dazu gehört auch schon die bereits erwähnte
Veröffentlichung der Ansicht von “Singapore [...]” in der Photographischen Rundschau des
Jahres 1894, waren Jagors Fotografien hingegen bereits Dokumente mit “hervorragender
geschichtlicher Bedeutung”118. Einer solchen Bewertung wäre die malerische
Überarbeitung der fotografischen Druckvorlagen vermutlich eher zuwidergelaufen, da es
hier bereits galt, fotohistorische Inkunabeln möglichst authentisch zu präsentieren.
Mit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts begann überall auf der Erde die große Zeit der
Fotostudios. Die für den Westen erfolgreichen Kolonialkriege brachten die Fotografen
entweder direkt als Bildberichterstatter oder offizielle Dokumentatoren – wie etwa den
Venezianer Felice Beato – an die Kriegsschauplätze. Beato gelangte 1858 nach dem
Ende des Krimkrieges nach Indien und fotografierte dort die Verwüstungen des “Großen
Aufstandes” von 1857/58 und die nachfolgenden seiner blutigen Niederschlagung durch
die britischen Truppen. Die dabei entstandenen Fotografien konnten die Angehörigen der
Truppen und die westlichen Residenten der Handelsplätze erwerben. In ähnlicher Weise
dokumentierte Beato 1860 auch den letzten der sogenannten “Opiumkriege” der Briten
und Franzosen gegen China, in dessen Verlauf der kaiserliche Sommerpalast geplündert
und zerstört wurde. Im Anschluß an seinen China-Aufenthalt begab sich Beato um 1864
nach Japan, um dort in Yokohama ein florierendes Fotostudio zu betreiben.
116Vgl. Schlagintweit-Sakünlünski, a.a.O., Band 1. S. 261
117Ebd.
118Neuhauss (1908), a.a.O., S. 99
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Daneben gab es die weit häufiger praktizierte Möglichkeit, daß sich Fotografen, ähnlich
anderen Geschäftsleuten, auf den Weg in die Fremde machten, um sich an den
Handelsplätzen und sogenannten Vertragshäfen niederzulassen. Eine erfolgreiche
Geschäftstätigkeit war dabei einmal an die Anfertigung im Studio gestellter und sorgsam
inszenierter Genreszenen der Menschen der fremden Kulturen geknüpft. Daneben
gehörten aber auch die fotografischen Resultate von Reisen in möglichst unbekannte
ferne Gegenden im Landesinneren sowie die Dokumentation der Sehenswürdigkeiten der
jeweiligen Region zu den gefragten fotografischen Souvenirs der Europäer. Reise- und
Studiofotografie im engeren Sinne standen dabei in einem Wechselverhältnis. Beide Arten
der Fotografie wurden in oder von den Studios für einen bestimmten Kundenkreis
angefertigt und verkauft, daher wird im vorliegenden Buch auch der Begriff
“Studiofotografie” umfassend für die solcherart erwerbsmäßig aufgenommenen und
vertriebenen Fotografien verwendet.
Die fotografischen Reiseergebnisse solcher Fotografen, wie zum Beispiel von Samuel
Bourne aus Indien oder John Thomson aus Südostasien und China, fanden beim
Publikum und bei Ausstellungen großen Anklang, wie die Kritiken aus den
Fotozeitschriften jener Tage belegen.119 Franz Stolze, selbst ein auf archäologische
Dokumentationen spezialisierter Fotograf, schrieb dazu 1881 im Photographischen
Wochenblatt: “Allein die Photographie hat längst die Grenzen der Civilisation überschritten
[...], sie wandert mit den Entdeckungsreisenden durch die fernsten Länder, übersteigt die
unwegsamsten Gebirge, bahnt sich ihren Weg durch Steppen und Wüsten, kurz, wohin
der Fuss des gebildeten Europäerst dringt, begleitet sie ihn als unentbehrliche Helferin.”120
Die Publikumswirksamkeit der Reisefotografie gründete sich zunächst auf die visuelle
Präsentation derjenigen Orte und Regionen, die trotz ‘aufbrausenden Weltverkehrs’ vielen
Europäern auch weiterhin verschlossen blieben: etwa die Bergwelt des Himalaja, die
Samuel Bourne auf seinen Reisen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts fotografisch
festgehalten hat. Der Fotografie als verkaufte Fotografie kam darin auch immer mehr die
Rolle eines Erfahrungsersatzes für diejenigen zu, die auf die tatsächlichen Eindrücke
119So schreibt ein Anonymus im “Repertorium” der Photographischen Correspondenz 4/1867, S. 143 unter
dem Titel “Stimmen über die Pariser Ausstellung” über die dort gezeigten Fotografien Samuel Bournes.
120Stolze, a.a.O., S. 59
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verzichten mußten: “Die Freuden der Reise ohne ihre Beschwerlichkeit”121 hieß es dann
auch geradezu programmatisch als Motto in dem 1893 erschienenen Album von
gedruckten Fotografien, “Art Photographs Of The World [...]”.
Die Fotostudios verkauften neben den Landschaftsdarstellungen in großem Umfang auch
Genredarstellungen der Einheimischen, welche einerseits den Habitus der fremden
Menschen, das körperliche Erscheinungsbild, ihre Kleidung, ihre Haartracht und
Schmuck, Körperhaltung, andererseits aber auch in gestellten Inszenierungen ‘häusliche’
Verrichtungen und gewerbliche Tätigkeiten festhielten. Solche Studioaufnahmen
sogenannter ‘native types’ gibt es aus nahezu allen Winkeln der Erde und bisweilen
tauchen dabei in Alben von verschiedenen Fotografen Abzüge auf, die auf ein
zugrundeliegendes gemeinsames Negativ hindeuten. Die Studioaufnahme eines
annamitischen Bettlers aus Saigon, entstanden um 1869, findet sich sowohl in einem
Album mit Fotografien des Saigoner Studios E. Gsell des Wiener Museums für
Völkerkunde, in einem anonymen Südostasien-Album des Hamburger Museums für Kunst
und Gewerbe und eben auch auf der Tafel “Cochinchina und China” des berühmten
Albums “Siam, China und Japan. Ethnographisch-kosmographische Aufnahmen von
Wilhelm Burger, Photograph und Mitglied der K. K. Mission nach Ostasien (1868-1871)”
wieder, das Burger dem österreichischen Kaiser Franz Joseph nach seiner Rückkehr im
Jahr 1871 schenkte. Die Negative zu den darin enthaltenen Abzügen und eben auch
dasjenige, das den annamitischen Bettler zeigt, finden sich nahezu vollständig in der
Sammlung Wilczek-Burger der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Bildarchiv und
Porträtsammlung. Einige andere Motive der Burgerschen Albumseite “Cochinchina und
China” erscheinen allerdings auch, mit englischen Bildunterschriften und der Bezeichnung
“Thomson phot.” versehen, auf Ausschnitten aus dem China Magazine der Jahre 1868/69.
Diese Zeitschrift wurde in Hongkong produziert und war mit eingeklebten Fotografien
illustriert, von denen einige im Archivbestand des Bremer Überseemuseums erhalten sind.
Thomson betrieb ungefähr von 1868 bis 1870 ein Fotostudio in Hongkong, reiste in
diesem Zeitraum nach Canton und Schanghai und fotografierte in Südchina.122 Burger
121Ragan, H. H.: Art Photographs Of The World And The Columbian Exposition. An Album Of Rare
Photographs Of The Wonders Of The Universe. San Francisco 1893. Einleitung, o. S.
122Thomson arbeitete allerdings nur im Jahre 1868 als freier Fotograf und Schriftsteller für The China
Magazine. Vgl. White, Stephen: John Thomson. London 1985, S. 16, 18. Dort wird berichtet, daß es im
Sommer 1868 zu einem Zerwürfnis zwischen Thomson und dem Herausgeber kam. Grund dafür war,
daß letzterer die zusammengehörenden Texte und Fotografien eines Aufsatzes von Thomson getrennt
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hingegen langte mit der K. K. Mission nach Ostasien am 2. Juni 1869 in Hongkong an und
hielt sich dann für elf weitere Tage dort und in Canton auf.123 Ob damals eine Begegnung
zwischen den beiden Fotografen stattfand, in deren Verlauf Thomson womöglich Abzüge
von Burgers Negativen erhielt beziehungsweise Negative tauschte, kann nur vermutet
werden.124 Wie schon im Falle des “Annamitischen Bettlers aus Saigon” sind die Negative
in der Sammlung Wilczek-Burger der Österreichischen Nationalbibliothek, Bildarchiv und
Porträtsammlung, in Wien archiviert, weshalb Burger als der Urheber dieser Fotografien
gelten kann. Die Fotogeschichte kennt jedoch andere Beispiele, in denen es nicht so
leicht möglich ist, die Fotografien eines Studios, dessen Besitzer mehrfach wechselte,
einem bestimmten Fotografen zuzuschreiben. Meist wurden die Negative vom alten
Besitzer an seinen Nachfolger mitverkauft, der dann erneut Abzüge herstellte und vertrieb.
Dies geschah mit der Negativsammlung von Beato in Yokohama, die im Jahre 1877 von
dem österreichischen Baron Raimund von Stillfried-Ratenicz übernommen wurde, der sein
Atelier bis zum Jahr 1883 betrieb und es dann seinem Assistenten Kusakabe Kimbei
sowie der Firma A. Farsari & Co. verkaufte.
Die große Zeit der Fotostudios in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erbrachte
eine kaum zu überblickende Vielzahl von Fotografien selbst aus den entlegensten
Weltgegenden. Bei aller Würdigung der hohen Bildqualität trugen auch diese
Studiofotografien deutlich die Züge eines, wenn auch mit gewissen Einschränkungen,
reproduzierbaren Massenartikels. Heute sind diese Fotografien dagegen recht selten und
gelten als überaus kostbar, auch wenn sie zur Zeit ihres Verkaufs in großer Zahl
hergestellt und vertrieben wurden. In der damaligen Zeit, die es mit den Urheberrechten
noch nicht so genau nahm, tauchten die Fotografien dann mitunter in anderen
Zusammenhängen wieder auf, wurden reproduziert, auch koloriert, dienten als
Buchillustration in Form eingeklebter Abzüge oder wurden auch als Holzschnitte,
gemeinsam aus mehreren Fotovorlagen zusammenmontiert, gedruckt. Das reiche
Bildangebot der Fotostudios fand einen überaus großen Abnehmerkreis: Da waren
veröffentlichen wollte, “ein Vorgehen, von dem anzunehmen ist, daß Thomson dies nicht akzeptabel
fand.” White, a.a.O., S. 18. Vgl. ebd., S. 17-19 zu Thomsons Aufenthalt in Südchina.
123Rosenberg, a.a.O., S. 21
124Rosenberg wie auch White gehen auf dieses Zusammentreffen der Bilder und ihrer Legenden nicht ein.
In Whites Veröffentlichung sind diese Abbildungen auch nicht enthalten. Denkbar wäre auch, daß Burger
seine Abzüge in Hongkong an das China Magazine verkaufte und daß man dort in der Beschriftung der
Abbildungen irrtümlich oder absichtlich den wohlvertrauten Namen Thomson daruntersetzte.
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zunächst die Forschungsreisenden, die gern darauf zurückgriffen, obwohl der
ethnographische Wert der Studiofotografien bereits damals nicht unumstritten war.
Daneben gab es noch die wohl größere Gruppe der europäischen Residenten und
Touristen, denen die Fotografien als Souvenir und Erinnerungsstücke an die “draußen”,
fern der Heimat unter Fremden verlebte Zeit von großer Wichtigkeit war. Viele dieser
Reisenden gaben dieses Bildmaterial dann an die völkerkundlichen Bildsammlungen
weiter, die sich von etwa 1870 an rapide zu füllen begannen. Adolf Bastian faßte diese
Zeit in der Bemerkung zusammen, daß, “wie für die Betreibung der Ethnologie überhaupt,
auch für die Gewinnung dieser, sie stützenden Beweisstücke [nämlich der Fotografien,
Anm. d. Verf.] der Zeitpunkt im natürlichen Entwicklungsgang ein allmälig günstiger
geworden war. Indem sich die Zahl der Photographen in den außereuropäischen Ländern
mehrte, indem Uebung darin häufiger in den Vorbereitungen der Reisenden mit
aufgenommen wurde, kamen auch bereits häufiger typische Darstellungen nach Europa,
es erschienen bereits locale Prachtwerke, wie Watson’s und Kay’s People of India, und
als die Anthropologische Gesellschaft in Berlin bald darauf ihre Arbeiten begann, öffneten
sich allmählig verschiedene Wege, auf denen die Photographien ihrer Sammlung sich
vermehren ließen.”125
Amateure
Die große Zeit der Fotostudios, in denen Fotografien und Fotoalben wie heute Postkarten
als Reiseandenken verkauft wurden, ging in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zu
Ende. Einige hielten sich noch bis in die 20er und 30er Jahre unseres Jahrhunderts,
indem sie auf andere Publikationsformen der Fotografien, auf Postkarten oder gedruckte
Alben, auswichen. Daneben war seit dem Aufkommen der Trockenplatten, Filme, der
kleineren Kameras und besonders mit der ab 1888 produzierten Kodak-Kamera ein neuer
Amateurmarkt entstanden, den es mit Negativmaterial, Kameras und durch Übernahme
der Laborarbeiten zu versorgen galt. Besonders der letztgenannte Aspekt erleichterte das
Fotografieren erheblich, indem er die Forscher und Reisenden der Mühsal enthob,
fototechnische Arbeiten in unwirtlichen Gegenden und unter primitivsten
Arbeitsbedingungen selbst ausführen zu müssen. Daß diese Bequemlichkeit, nicht zuletzt
durch Werbeslogans wie “You press the Button, we do the rest!” geradezu angestachelt
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wurde, fand bei den ‘alten’ Reisefotografen, wie zum Beispiel Gustav Fritsch oder Richard
Neuhauss, durchaus keine uneingeschränkte Zustimmung: “Die Bequemlichkeit ist ja
doch, wie schon die Eastman-Kompagnie richtig erkannt hatte, der gefeierte Götze, vor
dem die große Masse der Liebhaberphotographen andächtig im Staube liegt, die
Apparate können gar nicht leicht und handlich genug hergestellt, das Material gar nicht
einfach und kompreß genug sein.”126 Nur selten hielt die zwar zahlenmäßig enorm
angestiegene Bildmenge, die ein Reisender nun mit nach Haus brachte, einem Vergleich
mit den in größter Sorgfalt angefertigten Aufnahmen der Naßkollodiumzeit stand. Kam es
damals doch noch auf jedes einzelne Bild an, dessen Herstellung von Anfang bis Ende in
den Händen des Fotografen lag, wurde mit den modernen Kameras ein neuer
Aufnahmeversuch durch das einfache Weitertransportieren des Filmes möglich.
Neuhauss hatte 1894 das technische und bildnerische Unvermögen vieler
Amateurfotografen in seinem Anleitungsbuch “Die Photographie auf Forschungsreisen”
auf die Ungeduld und Hast der Reisenden zurückgeführt, die sich eben nicht mehr vor der
Reise mit der Kamera vertraut machten und eingehende Proben anfertigten.127 Auch
Fritsch bedauerte diese Leichtfertigkeit und forderte “eine Rückerinnerung an den
einstigen nassen Photographen im trockenen Lande, [die, Anm. d. Verf] wohl geeignet
wäre, die gesunkene Energie des Liebhaberphotographen zu stärken”.128
Eine ganze Weile – etwa von 1880 bis 1920 – kombinierten Forscher und Reisende, wohl
aus Einsicht in ihre eigenen technischen Unzulänglichkeiten und da ihnen die
professionellen Aufnahmemöglichkeiten der Fotografen versperrt blieben, eigene
Schnappschüsse mit den in Studios vertriebenen Fotografien. Der Marinearzt,
Anthropologe und Ethnologe Augustin Krämer brachte zum Beispiel von seinen
zahlreichen Reisen nicht nur die eigenen Negative, sondern auch eine stattliche Anzahl
von Studiofotografien und große Mengen von Postkarten heim. Unter den Reisenden sei
nur Hermann Hesse erwähnt, der in seinem Fotoalbum, das an die Reise nach Indien und
Indonesien im Jahre 1911 erinnert, gleichfalls eigene Schnappschüsse vom Bordleben auf
dem Dampfer, von Hafenansichten, von Kanalbildern und von Eindrücken des Lebens in
126Fritsch (1910), a.a.O., S. 58
127Neuhauss, Richard: Die Photographie auf Forschungsreise und die Wolkenphotographie. Halle a. S.
1894, S. 1
128Fritsch (1910), a.a.O., S. 58
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der fremden Kultur, wie einem Besuch im chinesischen Theater in Singapur, mit
professionell angefertigten Fotografien, unter anderem von der Firma G. R. Lambert & Co.
in Singapur kombinierte. Solche Mischformen setzten sich bis in die Buchpublikationen
hinein fort. Der Ethnograph und Forschungsreisende Wilhelm Joest gab 1895 in dem
Bericht “Weltfahrten” von seinen zahlreichen Reisen unumwunden zu, aufgrund
technischer Schwierigkeiten nicht viele eigene Fotografien publizieren zu können: “Unter
etwa hundert mißlungenen Aufnahmen befanden sich kaum mehr, die einem Zeichner als
Vorlage dienen konnten; die mechanische Vervielfältigung war ausgeschlossen.”129 Joest
war so auf das zahlreiche Fotomaterial angewiesen, das er im Verlaufe seiner Reisen
erworben hatte. Diese vielfach nicht ausgewiesene Provenienz “seiner” Fotografien tat
dem Lob jedoch keinen Abbruch, das die “Weltfahrten” bei Rezensenten wie Bastian
fanden: “Und darauf kommt es an: auf nutzdienlich verwerthbare Erwerbungen [...] aus
Weltfahrten, aus Durchspähung des über den Globus erweiterten Horizontes der
Umschau, wenn, durch seine Weiten ungeblendet, das Auge geübt und geschärft bleibt,
die Einzelheiten jedesmal in den richtigen Focus der Betrachtung einzustellen.”130
Forschungsreisende und Bildjournalisten
Seit der Jahrhundertwende konnte jeder fotografieren, so die Werbung der Fotoindustrie,
und fast jeder Reisende, der es sich leisten konnte, tat es auch. Aus einem Fotografen
waren viele geworden; bei Expeditionen war nicht mehr nur ein offizieller Fotograf mit von
der Partie, sondern “mit jedem Teilnehmer kamen zahlreiche photographische Kästen an
Bord. Von dem spulenfressenden Kodak [...] bis zum feinsten Präzisionsinstrument mit
einer vermögenschluckenden Linse war jede Type von Kamera vertreten. Es
photographierten Passagier und Kapitän, Matrose und Steward [...].”131
In der Zeit zwischen den Weltkriegen verlagerte sich für den deutschsprachigen Raum die
Berichterstattung über fremde Völker und Kulturen von den großen völkerkundlichen
Expeditionen der Vorkriegszeit, wie zum Beispiel der “Hamburger Südsee-Expedition”
(1908 bis 1910), der “Innerafrika-Expedition” des Herzogs Adolf Friedrich zu Mecklenburg
129Joest, Wilhelm: Weltfahrten. Band 3. Berlin 1895, S. 214
130Bastian, Adolf: Joest, Wilhelm: Weltfahrten. 3 Bände. Berlin 1895. In: ZfE. 27/1895, S. 115
131Miethe, Adolf: Mit Zeppelin nach Spitzbergen. Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen
Zeppelin-Expedition. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart 1911, S. 20
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(1907 bis 1908) oder der “Kaiserin-Augusta-Fluß-Expedition” (1912/13) an den Sepik im
heutigen Papua-Neuguinea auf ein anderes Feld. Zwar wurden, allerdings mit
bescheideneren Mitteln ausgestattet, auch weiterhin Forschungsreisen unternommen, zu
deren Ausbeute auch große Mengen von Fotomaterial zählte – man denke nur an die
verschiedenen Expeditionen des Frobenius-Instituts nach Afrika, Südostasien und
Australien oder auch an die Arbeiten einzelner Forschungsreisender wie der Schweizer
Ethnologen Felix Speiser, Alfred Bühler oder Paul Wirz. Im ganzen gesehen konzentrierte
sich jedoch besonders die deutsche Ethnologie seit dem Ersten Weltkrieg auf die
sogenannten kulturhistorischen Forschungen, die darauf abzielten, auch in die
Untersuchung der Kulturen der ‘Naturvölker’ eine geschichtliche Dimension einzuführen.
Lange Zeit hatte man die ‘Naturvölker’ als ‘Völker ohne Geschichte’ angesehen, die den
kulturellen Zustand der Steinzeit gleichsam bis auf die moderne Zeit bewahrt hätten.
Durch Ethnologen wie Fritz Graebner oder Leo Frobenius wurde aber bereits um die
Jahrhundertwende versucht, anhand bestimmter Kulturmerkmale, sowohl des materiellen
Kulturinventars als auch der Sprache und der Gebräuche, sogenannte Kulturkreise zu
konstruieren und die Verbreitung (Diffusion) und historische Entwicklung einzelner
Kulturmerkmale zu verfolgen. Durch den Verlust der Kolonien des Untersuchungsfeldes
beraubt, wandte man sich dann zusehends den reichen Sammlungsbeständen der
Völkerkundemuseen zu, so daß die Feldforschungen auch aus diesem Grund eher in den
Hintergrund traten. Allerdings wurden aus dem Kreis der Wiener kulturhistorischen Schule
um die von Pater Wilhelm Schmidt 1906 begründete Zeitschrift Anthropos und des Ordens
“Societas Verbi Divini” (SVD), auch bekannt als “Steyler Mission”, eine Vielzahl von
Forschungsreisen unternommen. So reiste unter anderem Pater Martin Gusinde (SVD) in
den Jahren 1918 bis 1924 zu den Feuerland-Indianern und Pater Paul Schebesta (SVD)
1924/25 und 1938/39 zu den kleinwüchsigen Bevölkerungen Südostasiens, 1929/30 und
gemeinsam mit Gusinde 1934/35 zu denen Zentralafrikas. Als Ethnologen und
Anthropologen haben beide von ihren Forschungsreisen ein umfangreiches fotografisches
Werk hinterlassen, das nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern seinerzeit
auch in illustrierten Reiseberichten132 veröffentlicht wurde. Dieses Genre des
132Dies mögen Schebestas Veröffentlichungen zu den kleinwüchsigen Ethnien Südostasiens verdeutlichen:
Als wissenschaftliche Publikation ist von ihm zu erwähnen: Die Pygmäenvölker der Erde. Teil 2. Die
Negrito Asiens. Band 1. Mödling 1952. Band 2. 1. Ebd. 1954. Band 2. 2. Ebd. 1957. In rascher Zeit nach
der Reise nach Malaya erschienen die populären Reiseberichte: Bei den Urwaldzwergen von Malaya.
Leipzig 1927 und Orang Utan. Bei den Waldmenschen Malayas und Sumatras. Leipzig 1928. Eine
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populärwissenschaftlich gehaltenen Reiseberichtes wurde besonders von einigen
Verlagen, etwa Brockhaus in Leipzig, gepflegt und bot den Wissenschaftlern eine
günstige Gelegenheit, mit ihren Arbeiten ein größeres Lesepublikum zu erreichen und
eine zusätzliche Finanzierungsquelle für die kostspieligen Reisen zu erschließen. Viele
der damaligen Ethnographen und Forschungsreisenden betätigten sich gleichfalls in
diesem Spannungsfeld zwischen ethnographischer Forschung und Reiseschriftstellerei,
wissenschaftlicher Dokumentation und Bildjournalismus. So berichteten Hugo Adolf
Bernatzik aus Afrika, Südostasien und der Südsee, Südost- und Nordeuropa, Wilhelm
Filchner aus Tibet und Zentralasien, Sven Hedin aus Zentralasien und von seiner
Weltreise sowie Ernst Schäfer aus Tibet.
Ergänzend zu den vorgenannten Wissenschaftlern sind die Bildjournalisten zu erwähnen,
die für die seit der Mitte der zwanziger Jahre aufkommenden illustrierten Zeitschriften wie
die Berliner Illustrirte Zeitung, die Münchner Illustrierte Presse, die Zürcher Illustrierte und
besonders auch für die länderkundlich-literarische Zeitschrift Atlantis arbeiteten. Sie
wandten sich gleichfalls in populärer Weise ethnographischen Themen zu: Martin
Hürlimann berichtete aus Indien, dem Himalaja und Südostasien, Walter Bosshard aus
Tibet, Indien, China und der Mongolei, Harald Lechenperg aus Nordafrika, Indien,
Vorderasien und Arabien, Bernd Lohse aus dem Orient, Gotthard Schuh aus Indonesien
und Wolfgang Weber aus Afrika, Indien und Südostasien, um nur einige der Namen und
Reiseziele anzuführen. Von den genannten Fotografen und Journalisten wiesen manche
bereits durch ihr Studium der Ethnologie, Kunstgeschichte oder Geschichtswissenschaft133
eine gewisse Hinwendung zu den exotischen Welten und fremden Kulturen auf, die sie
dann bereisen sollten. Berichte über die Lebenswelten fremder Völker gehörten in den
20er und 30er Jahren zum festen Bestandteil des Themenprogramms einer jeden großen
Illustrierten. Häufig wurden den Reportagen aus aller Herren Länder mehrseitige Plätze
und Titelblätter eingeräumt. Die dabei angewandten neuartigen gestalterischen
Prinzipien134 können hier nur kurz umrissen werden: Gleichrangigkeit von Text und Bild in
den Montagen der Illustriertenseiten; hohe Erzählqualität der verwendeten Fotografien,
Auswahl der in den beiden Reiseberichten veröffentlichten Fotografien diente dann später zur Illustration
des wissenschaftlichen Werkes.
133Vgl. Pohl, Klaus: Die Welt für Jedermann. Reisephotographie in deutschen Illustrierten der zwanziger
und dreißiger Jahre. In: Ders.: Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850-Heute. Gießen 1983, S. 127
134Vgl. ebd., S. 97-103, 116-124
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das heißt, die Fotos mußten die aufgenommene Situation möglichst klar verdeutlichen;
möglichst hohe Authentizität in der Berichterstattung, Verzicht auf inszenierte oder
gestellte Bilder: stattdessen galt es den Bildjournalisten als wichtigste Aufgabe, im
Schnappschuß dem Leben den “entscheidenden Augenblick” zu entreißen, in dem das
beobachtete Geschehen kulminierte; Seriencharakter der Bildreportage, in der nicht mehr
nur ein einziges Bild alle Aspekte des Darzustellenden einfangen sollte, sondern eine
Folge von Einzelbildern, die entweder als Abfolge eines Geschehens oder von mehreren
Vorgängen montiert, über eine Situation oder Ereignis berichteten. In den Artikeln und
Bildserien wurde die Person des Bildjournalisten miteinbezogen, das Geschehen aus der
subjektiven Erzählperspektive dargestellt. Oft genug wird dieses Erleben, die Reise selbst
mit ihren Gefahren und Hindernissen, zum Thema, wie zum Beispiel in Lechenpergs
Bericht “Auto-Reise wie noch nie. Auf schwierigsten Pfaden von Bombay nach Berlin”135 in
der Berliner Illustrirten Zeitung von 1933. Gerade in der Form dieser abenteuerlichen
Einzelreisen mit Auto, Motorrad oder Flugzeug, wenn nicht gar zu Fuß, ist auch die
Abneigung dieser Individualisten gegen die Kultur des Massentourismus und seine
ausgetretenen Pfade deutlich zu spüren. Wie im Falle der Autoreise Lechenpergs ging es
ihnen wohl eher um das Erlebnis der Reise als solcher und weniger um den bloßen
Transport an ein vorher festgelegtes Ziel. Der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum hatte
sich um die Jahrhundertwende die Möglichkeit eben solcher Reisen von dem noch jungen
Verkehrsmittel erhofft und geschrieben: “Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um
zu reisen, hat Goethe zu Karoline Herder gesagt. Darin liegt es. Die Eisenbahn aber
transportiert uns – und das ist der direkte Gegensatz des Reisens. [...] Die Eisenbahn
spannt uns in den Fahrplan, macht uns zu Gefangenen des Reglements, sperrt uns in
einen Käfig, den wir nicht einmal öffnen, geschweige denn verlassen dürfen, wenn wir
wollen.”136 Diesem Käfig zu entfliehen, sich in der Reiseform deutlich von der auch damals
bereits üblichen Sicherheit des Massentourismus abzusetzen und sich selbst erst in
Extremsituationen wieder einmal spüren und kennen zu lernen, war wohl die
tieferliegende Motivation vieler solcher Reisender. Diese Absicht war bereits von Sven
135Lechenperg, Harald: Auto-Reise wie noch nie. Auf schwierigsten Pfaden von Bombay nach Berlin. In:
Berliner Illustrirte Zeitung. 42/1933, Nr. 6, 5.180-183. Die Fotografien dieses Bildberichtes wurden nicht
bloß in der BIZ veröffentlicht, sondern über einen längeren Zeitraum in immer wieder anderen
Zeitschriften, unter anderer Überschrift, mit neuen Bildlegenden und auch in jeweils anderer Bildauswahl.
Vgl. Pohl, a.a.O., S. 118-120.
136Bierbaum, Otto Julius: Mit Der Kraft Automobilia. Berlin 21906, S. 13 f.
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Hedin um die Jahrhundertwende formuliert worden: “Doch ich muß ehrlich gestehen, daß
ich mich nach den zwei Jahren ruhiger friedvoller Wanderungen durch unbewohnte Teile
des Kontinents und nach all meiner strebsamen Arbeit nun einmal nach einem wirklich
haarsträubenden Abenteuer sehnte. Ich fühlte das unwiderstehliche Bedürfnis, meine
Person in eine Lage zu bringen, in der das Leben auf dem Spiel stand, eine Situation, die
Geschicklichkeit und Umsicht erforderte, wenn sie nicht zu einer Niederlage werden sollte
[...].”137
Die Brücke, die den heimischen Leser und Betrachter der Illustrierten mit dem gefahrvoll
reisenden Abenteurer verband, war in diesen Fällen das Verkehrsmittel, nämlich ein
Automobil aus der gewöhnlichen Serienproduktion. Der Leser der Illustrierten sollte etwa
beim Bericht Lechenpergs die indischen Bilder und Eindrücke so vor Augen haben, wie er
sie mit seinem eigenen Fahrzeug auch selbst erfahren könnte. Der Perspektive des
gewöhnlichen Verkehrsmittels, gewissermaßen das Gewöhnliche im Außergewöhnlichen,
entsprachen die Gegenstände, welche die Bildjournalisten in den Sucher nahmen. Das oft
beklagte “Ende des Vordergrundes”138, der Verlust der “Tiefenschärfe vorindustrieller
Wahrnehmung [bei Fuß- und Kutschenreisen, Anm. d. Verf.], indem durch die
Geschwindigkeit [der Eisenbahn, Anm. d. Verf] die nahegelegenen Objekte sich
verflüchtigen”139, wurde nunmehr durch die Reiseerfahrungen dieser empfindsamen
Einzelgänger wettgemacht: “Am Rande der indischen Straße”140 ist eine weitere
Reportage Lechenpergs aus dem Jahre 1934 überschrieben. Dabei ging es Lechenperg
wie den meisten anderen Bildjournalisten nicht nur um das aufregend Exotische, sondern
darum, das Naheliegende, Gewöhnliche und Alltägliche durch das Zeigen beim Fremden
neu zu entdecken und ähnliche Gefühle, Sorgen und Freuden der Menschen deutlich zu
machen: Über das Leben und Treiben von ebenso gewöhnlichen Menschen wie den
Lesern selbst, nicht von Fremden, sondern von Mitmenschen zu berichten, war das Ziel,
wie dies auch Bernd Lohse in seinem persönlichen Bekenntnis zur Fotografie ausdrückte:
137Hedin, Sven: Im Herzen von Asien. Zehntausend Kilometer auf unbekannten Pfaden. Band 2. Leipzig
1903, S. 270
138Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im
19. Jahrhundert. Frankfurt am Main/Berlin 1981, S. 61
139Ebd.
140Lechenperg, Harald: Am Rande der indischen Straße. In: Berliner Illustrirte Zeitung. 43/1934, Nr. 17, S.
606f.
50
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“Immer dasTypische – bloß keine Sensationen!”141 Freilich drohte dieses “Typische” auch
damals bereits durch die starken Einflüsse der westlichen Kultur zerstört zu werden, was
einen ungenannten Autor in der Berliner Illustrirten Zeitung von 1924 zu der Überschrift
bewegte: “Sehen Sie sich die Welt an! Die nächste Generation sieht sie nicht mehr so
malerisch!”142 Solche Warnungen bewirkten wohl eher das Gegenteil, indem sie noch
mehr Menschen dazu brachten, nach Übersee zu reisen. Dieser Tendenz des Tourismus,
auch die entferntesten Winkel der Erde zu erschließen, die “letzten Paradiese” vor ihrem
Ende noch einmal zu erleben und sie gerade dadurch um so schneller zu zerstören, galt
die Kritik Wolfgang Webers in einem Reisebericht aus Bali im Jahre 1939: Aus der
persönlichen Perspektive des eigenen Erlebens berichtet er in der Ich-Form weniger über
die Insel und die Kultur ihrer Bewohner als über die Reise- und Umgangsformen seiner
westlichen Mitreisenden. Er charakterisiert deren Verhalten mit dem Motto “Sehen –...
Kommen –... Knipsen!”143, distanziert sich selbst aber davon, indem er sich als
alleinreisender Entdecker144 darstellt. Indes trifft er doch immer wieder auf Touristen in
ihrem “Touristenpferch”145, unter denen eine ihm als Bildmotiv diente, die ihm wohl
besonders gut bekannt gewesen sein muß – nämlich seine Ehefrau Gertrud, wie der
Bildvergleich mit dem Fotoalbum eines Mitreisenden, F. Wortmann, aus dem Bildarchiv
des Überseemuseums Bremen zeigt.
Das “Verderben” einheimischer Kulturen durch die Berührung mit der westlichen
Zivilisation, ein seit dem 19. Jahrhundert viel geäußerter Topos – der Westen wirke wie
ein medizinischer Todeskeim – wurde in den Bildreportagen mit Reiseberichten ebenfalls
von einigen Berichterstattern gepflegt. Diese Einstellung führte bei Hugo Adolf Bernatzik
sogar zur Forderung einer gewissermaßen zweigeteilten Welt, zwischen deren Hälften es
keinerlei Berührungen geben dürfte: Auf der einen Seite die weißen “Herrenvölker”, die
sich technisch und zivilisatorisch weiterentwickeln sollten, während auf der anderen Seite
die ‘Naturvölker’ nur ja authentisch in ihrer geschichtslos gedachten Ursprünglichkeit zu
51
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verharren hatten. Die nicht unbegründete Furcht vor dem verderbenbringenden Einfluß
der westlichen Zivilisation auf die überseeischen Völker wurde darin allerdings von einer
sie ‘schützenden’ Überlegung zu einer Legitimation der weißen Vorherrschaft.
Furcht und Schrecken
Leider besitzen wir kaum authentische Zeugnisse von Fotografierten aus fremden
Kulturen über ihre Empfindungen während der Aufnahmen, sondern zumeist nur
Aufzeichnungen der westlichen Fotografen und Forschungsreisenden. In diesen
ethnographischen Quellen finden sich allerdings deutliche Schilderungen des
Unbehagens am fotografischen Aufnahmeprozeß. So berichtet der Ethnologe Paul
Ehrenreich 1887 von der zweiten Xingü-Expedition in Zentralbrasilien, daß dort “das
Photographieren keine Schwierigkeiten machte, ausser dass die Leute dabei vor Angst
heftig zitterten und so den natürlichen Gesichtsausdruck verloren”.146 Ähnliches teilt auch
Karl Sofus Lumholtz 1903 von den Tepehuanes aus Mexiko mit: Sie “standen der Kamera
in tödlichem Schrecken gegenüber, und eine fünftägige Überredung war notwendig, um
sie dazu zu bewegen, vor der Kamera für eine Aufnahme zu posieren. Als sie am Ende
einwilligten, sahen sie aus wie Verbrecher unmittelbar vor ihrer Hinrichtung.”147 Auch der
Dresdner Naturforscher und Schriftsteller Kurt Boeck schilderte in seinen
Reiseerfahrungen aus Indien während des ausgehenden 19. Jahrhunderts “jene fatale
Armsündermiene [...], die von dem Bewußtsein des Photographiertwerdens unzertrennlich
scheint.”148
Den Fotografen liefen gelegentlich nicht nur ihre “Aufnahmeobjekte” erschrocken davon,
als sie merkten, daß alsbald die Platte belichtet werden sollte149, zuweilen kam es auch
über das Fotografieren zu regelrechtem Aufruhr und Zusammenstößen, wie im Dorfe
Makaya an der Loango-Küste im Südwesten Afrikas. Paul Güssfeldt, Mitglied der von
146Ehrenreich, Paul: Mittheilungen über die zweite Xingu-Expedition in Brasilien. In: ZfE. 22/1890, S. 97
147Lumholtz, Karl Sofus: Unknown Mexico. London 1903, S. 459f. Zitiert nach: Frazer, James George: The
Golden Bough. A Study In Magic And Religion. Teil 2: Taboo And The Perils Of Soul. London 31911.
Reprint: London 1963, S. 97
148Boeck, Kurt: Indische Gletscherfahrten. Reisen und Erlebnisse im Himalaja. Stuttgart/Leipzig 1900, S.
220
149Vgl. Bürgi, Ernst: Archivalie o. T. des Staatsarchivs Bremen. Sign.: 7, 1025-51/4, S. 298. Zitiert nach
Müller, Hartmut: “So sahen wir Afrika”. Afrika im Spiegel früher Bremer Kolonialfotografie 1882-1907.
Bremen 1984, S. 24
52
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Adolf Bastian geleiteten Expedition nach der Loango-Küste in den Jahren 1873 bis 1876,
berichtete, daß die Dorfbewohner “sich während der Arbeit zusammenrotteten, ihre
Mißbilligung erst einzeln, dann zusammen immer lauter zu erkennen gaben, bis sie in
ihrer Erregung näher und näher herandrängend sogar Hand an das Dunkelzelt zu legen
versuchten, so dass ich aufzubrechen und fast unverrichteter Sache heimzukehren
gezwungen war.”150 Nicht so glimpflich erging es um 1863 dem Hauptmann A. Payer,
“Photograph in Diensten des Vicekönigs von Egypten”151 dem der aufgebrachte
“egyptische Mob seine Blasebalg-Camera als einen verfluchten Cholerakasten zerschlug
[...]”152, oder dem Amateur, “der es in Constantinopel versuchte, den Sultan bei seinem
Freitagsritt zur Moschee auf der Strasse aufzunehmen. Er gerieth durch den Fanatismus
des Volkes in Lebensgefahr, wurde arretirt und des Landes verwiesen.”153 Aus diesen und
anderen Beispielen mag man ersehen, welche Konflikte das Fotografieren hervorrief und
als wie außerordentlich spannungsgeladen dieser Vorgang empfunden worden sein muß.
Seelenvorstellungen154
Die Ursachen für das solcherart geäußerte Unbehagen am Fotografieren liegen zumeist
in der Konfrontation von verschiedenen Vorstellungen der Seele oder im Verstoß gegen
religiöse Vorschriften begründet. Anders als in unserer heutigen, als modern und
fortschrittlich empfundenen westlichen Kultur, die Körper und Seele strikt voneinander
trennt und, wie in der technizistischen Apparatemedizin auf die Spitze getrieben, den
Körper gleichsam nur als Apparat, als Maschine ohne Zusammenhang mit einem
belebenden Prinzip ansieht, gab und gibt es immer auch Vorstellungen, die von einer
150Güssfeldt, a.a.O., S. 17
151Schrank, August Ludwig: O. T. Brief des damaligen Herausgebers der Wiener Photographischen
Correspondenz. In: PhotographischesArchiv. 4/1863, S. 194
152Ebd.
153Vogel, Hermann Wilhelm: Photographie in der Türkei. In: Photographische Mittheilungen. 26/1889/90,
Nr. 411, Märzheft 2, S.361
154Unter dem Begriff “Seele” wird hier im folgenden ein “’spirituelles’, vitales Element im Menschen”,
Haekel, Josef: Religion. In: Trimborn, a.a.O., S. 80, verstanden, ein “Wesenselement des Menschen [...],
das seine psychische und physische Aktivität zum Ausdruck bringt.” Thiel, Josef Franz: Stichwort
“Vitalseele, Körperseele, Hauchseele”. In: Hirschberg, Walter (Hrsg.): Neues Wörterbuch der
Völkerkunde. Berlin 1988, S. 507. Diese Definition auf andere Kulturen zu übertragen, ist naturgemäß
problematisch. Die Seelenvorstellungen anderer Völker und Kulturen, ja bisweilen auch die der eigenen,
sind in abstrakten Begriffen nur unzureichend wiederzugeben, zumal die Berichterstatter sich in der
Schwierigkeit befinden, das Fremde mit Worten für das Eigene darzustellen, gleichsam im Fremden das
Vertraute zu suchen und zu beschreiben.
53
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engen Verknüpftheit von Leib und Seele ausgehen. Die uns so geläufige Dualität ist zum
Beispiel vielen ‘Naturvölkern’155 fremd. In ihren Vorstellungen werden Beeinträchtigungen
des Körpers, Krankheiten und Tod nicht als bloße Funktionsstörungen des Leibes
gedeutet, sondern auf Beeinträchtigungen der Seele zurückgeführt.156 Beeinträchtigung
meint in diesem Zusammenhang “eine Abwesenheit der Seele”157, oder, daß das “Wesen,
dessen Gegenwart das Leben erhalten hat, dem Körper entflohen [...] ist.”158
In den Vorstellungen vieler Völker werden zudem meist mehrere Bestandteile der Seele
angenommen. Der Religionsethnologe Josef Haekel unterscheidet in seiner Typologie
fünf Seelentypen159, von denen hier die Vorstellungen der Vitalseele, der Egoseele und
der Freiseele besonders wichtig sind. Die zuerst genannte Vitalseele stellt die
Bezeichnung “eines belebenden Prinzips”160 dar, das zumeist in Verbindung mit einem
Körperteil oder dem ganzen Körper als Körperseele gedacht wird. Weit verbreitet ist die
Vorstellung von Seele und Atem als Hauchseele, wie sie auch in der Redewendung “das
Leben aushauchen” noch durchschimmert. Mit dem Tode kann die Vitalseele vergehen
oder aber in anderer Form weiterbestehen. Das zeitweilige Verlassen des Körpers hat
Erkrankungen zur Folge.161
155Vgl. Negelein, Julius von: Bild, Spiegel und Schatten im Volksglauben. In: Archiv für
Religionswissenschaft. 5/1902, S. 7: “Wir sehen, dass Seele und Leib [...] sich begrifflich völlig decken.
Das Leben, die Seele, ist nicht etwa ein Zustand des Körpers, sondern ein materiell gedachtes Fluidum,
das sich über alle Teile des Leibes gleichmässig verbreitet und dessen Existenz wie Nichtexistenz an
den letzteren geknüpft ist. Daher kann das Bild des Lebens (sie!), die Seele, nur ein Analogon zum Bilde
des Körpers sein.” Der Gedanke dieses Fluidums - Haekel, a.a.O., S. 82, spricht auch von “feinstofflich
oder ätherisch” - dient gemeinhin als Metapher zur Veranschaulichung eines geistigen, gedachten
Prinzips. Vgl. Levy-Bruhl, Lucien: Die Seele der Primitiven. Wien/Leipzig 1930, S. 136
156Vgl. Tylor, Edward Burnett: Primitive Culture. Researches into the development of mythology,
philosophy, religion, art and custom. London 1871. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die Anfänge der
Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte.
Band 1. Leipzig 1873, S. 429-432.
157Achelis, Thomas: Moderne Völkerkunde, deren Entwickelung und Aufgaben. Stuttgart 1896, S. 250
158Levy-Bruhl, a.a.O., S. 108. Es soll hier im weiteren nicht darum gehen, unterschiedliche Denkstrukturen
zwischen “Wilden” und “Zivilisierten” herauszufinden. Dieser von Levy-Bruhl in die Diskussion getragene
Standpunkt eines prälogischen Denkens der “Primitiven” gilt gemeinhin als überwunden. Vielmehr gilt es,
durchaus im Sinne Tylors, eine fortbestehende “primitive” Schicht im Denken und Fühlen aller Menschen
aufzuzeigen.
159Vgl. Haekel, a.a.O., S. 82-84
160Ebd., S. 82
161Vgl. ebd.
54
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Die Egoseele sieht Haekel “als Zentrum des Denkens, Wollens und der Gefühle, als Kern
der Persönlichkeit [...] im Wachbewußtsein”162 an, der auch nach dem Tode meist weiter
existiert. Mit dem Begriff Freiseele werden von Haekel verschiedene Konzepte wie
Bildseele, Schattenseele, Traumseele, Doppelgänger und Alter ego zusammengefaßt,
denen gemein ist, daß sie “nur lose am Körper haften, oder gar außerhalb desselben
existieren. [...] Die Freiseele gilt manchmal als Art Kopie oder Spiegelbild des lebenden
Menschen [... und, Anm. d. Verf.] betätigt sich vorwiegend im Schlaf [...], bei Ausschaltung
des Oberbewußtseins. Ergebnisse und Erkenntnisse der Freiseele offenbaren sich im
Traum oder in Visionen.”163 In vielen Kulturen stellt man sich so die Träume als bildhaft
gewordene Erfahrungen der eigenen Freiseele auf ihren Wanderungen vor. Lucien LévyBruhl spricht im Hinblick auf die Freiseele von einem “zweiten Ich”164, das aber mit dem
Menschen auf eine so innige Weise verbunden ist, daß es mit ihm lebt und stirbt. Dieser
Teil der Seele “wird abwechselnd als [...] Schatten, Spiegelbild, Echo oder ‘zweites Ich’
(Ebenbild) bezeichnet.”165 Der Schatten eines Menschen oder anderer Lebewesen macht
in vielen Kulturen einen wesentlichen Bestandteil seines Wesens aus. In ihm ist das
Lebensprinzip, die Seele, enthalten.166 Diese Vorstellung mag aus verschiedenen Quellen
herrühren. Zunächst einmal daher, daß sowohl Schatten als auch Hauch und Atem
beweglich sind, mithin das Leben verkörpern. “Das Handwörterbuch des deutschen
Aberglaubens”167 weist in diesem Sinne auf die Herkunft des Wortes Seele vom gotischen
Seiwala, dem sich Bewegenden, hin. Der Religionswissenschaftler Julius von Negelein
vermutet als Ursache für diesen Zusammenhang hingegen, daß man lebende, stehende
oder gehende Personen einen deutlichen Schatten werfen sieht. “Umgekehrt wird der
Tote als der Liegende, derTod als der Dahinbettende bezeichnet [...].”168 Woraus sich
162Ebd., S. 82f.
163Ebd., S. 83
164Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 143
165Ebd.
166Vgl. ebd., S. 134. Tylor, a.a.O., Band 1, S. 422 faßt die Seelenvorstellungen der Naturvölker ganz
ähnlich zusammen: “Es ist ein dünnes, körperloses, menschliches Bild, seiner Natur nach eine Art
Dampf, Häutchen oder Schatten, die Ursache des Lebens und Denkens in dem Individuum, das es
bewohnt”.
167Vgl. HddA. Band 9 (1941). Berlin 1987, S. 132-140 und Grimm, Jacob und Wilhelm (Begr.): Deutsches
Wörterbuch. Band 8. Leipzig 1893, S. 2233f.
168Negelein, a.a.O., S. 12. Dem HddA., Band 9, a.a.O., S. 133 gilt Negeleins Erklärungsversuch lediglich
als “Vermutung” und als “ein Ausgangspunkt unter anderen.”
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ergibt: “Der Tote als der Daliegende besitzt eben keinen Schatten”169, weil er flach am
Boden liegt. Andere Erklärungsversuche weisen in die Richtung, daß Träume,
Wachträume, Halluzinationen und Trance-Erfahrungen die Vorstellungen mit sich
brachten, in den dabei aufscheinenden Bildern sähe man die Erlebnisse der eigenen
Schatten- und Bildseele oder der fremder Menschen, die sich dazu von ihnen gelöst
hätten.170
Wird der Schatten eines Lebewesens verletzt oder gar zum Verschwinden gebracht, so
erkrankt sein Besitzer oder er stirbt. Den Schatten verletzen bedeutet, die Seele und
damit auch den Menschen zu verletzen. In den Glaubensvorstellungen der Völker gibt es
hierfür unzählige Beispiele: “‘Geht ein Basuto unvorsichtigerweise zu nahe dem Wasser
hin, mag ein Krokodil seinen Schatten (seriti oder Seele) erfassen, um mit ihm den Körper
in das Wasser hinabzuziehen.’ Hier zeigt sich besonders klar die begriffliche Einheit von
Schatten und Leben, also auch Schatten und Leib. Man glaubt die Peter Schlemihl-Idee
[...] in der Mitte jener afrikanischen Völker wiederentstanden zu sehen”,171 schrieb
Negelein 1902.
In der Tat scheint “Peter Schlemihls wundersame Geschichte”, von Adelbert von
Chamisso im Jahre 1813 niedergeschrieben und im darauffolgenden Jahr veröffentlicht,
wie eine Übertragung der Ängste der Basuto in die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts.
Schlemihl gibt seinen Schatten, mithin seine Seele, um des bloßen materiellen Vorteils
wegen fort, den sein literarischer Gegenspieler, der “Graue”, für ihn bereithält. Dies hat
den Ausschluß aus der bürgerlichen Welt zur Folge. Thomas Mann hat 1911 den
verlorenen Schatten als “Symbol aller bürgerlichen Solidität”172 gedeutet. Sein Verlust
169Negelein, a.a.O., S. 18
170Vgl. Tylor, a.a.O., Band 1, S. 423, 431-435 und Achelis, a.a.O., S. 248
171Negelein, a.a.O., S. 13. Vgl. auch die vielfältigen Beispiele aus den verschiedensten Völkern und
Kulturen bei Tylor, Band 1, a.a.O., S. 423f.; Bastian, Adolf: Die Vorstellungen von der Seele. In:
Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hrsg. von Rudolf Virchow und Fr. von
Holtzendorff. Berlin NE 10. Serie, 1875, H. 226, S. 9f.; Lubbock, John: The Origin of Civilization and the
primitive Condition of Man. London 1870. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die Entstehung der
Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben
der Wilden. Jena 1875, S. 182ff.; Frazer, a.a.O., Teil 2, S. 77-99
172Mann, Thomas: Chamisso (1911). In: Gesammelte Werke. Band 10. Berlin (DDR) 1965, S. 45. Vgl. auch
Wilpert, Gero v.: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs. Stuttgart 1978, der
Chamissos “Schlemihl” eher in der Tradition von Christoph Martin Wielands Satire “Onoskiamachia oder
der Proceß um des Esels Schatten”, des 1779 veröffentlichten vierten Buchs des Romanes “Geschichte
der Abderiten” (1774-779), als Groteske und Spießersatire sieht.
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bedeute, wenn auch nicht den Verlust der Seele als Lebensprinzip, gleichwohl aber “den
Verlust des ‘sozialen Ich’”173, wie Benno von Wiese schreibt: “Der Schattenlose ist
allein.”174 Der Versuch der Romantiker, den Prozeß der Auflösung überkommener
Sozialformen und der schmerzlichen Herausbildung eines bürgerlichen Selbst-Konzepts
durch die voranschreitende Industrialisierung zumindest literarisch zu bewältigen, scheint
im Zuge des Kulturkontaktes auch in den Stammesgesellschaften zu einer vergleichbaren
Irritation zu führen. So berichtet der Ethnologe Edmund Carpenter von einem
Forschungsaufenthalt bei den Biami, einem Volk im Hochland von Papua-Neuguinea um
1970175, wo er das Verhalten der Einheimischen untersuchte, die zum ersten Mal
Abbildungen von sich in Form von Spiegelbildern und Fotografien zu sehen bekamen.
Dabei kam es immer wieder zu heftigen Reaktionen der Betrachter. Als sich einige
Dorfbewohner zum ersten Male selbst im Spiegel sahen, “waren sie wie gelähmt. Nach
der ersten erschrockenen Reaktion, Bedecken des Mundes und Einziehen des Kopfes,
standen sie wie festgenagelt, starrten auf ihr Abbild und nur die Bauchmuskeln verrieten
große Anspannung. Wie Narzissus waren sie erstarrt, total fasziniert von ihrem
Spiegelbild [...].”176 Bei der Präsentation von Sofortbildern kam es zu ähnlichen
Erscheinungen. Es trat hierbei allerdings eine gewisse Verzögerung auf, die aus dem
anfänglich noch geringen ‘Verstehen’ der Fotografien177 herrührte. Carpenter mußte durch
173Wiese, Benno von: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Band 1. Düsseldorf
1964, S. 109
174Ebd.
175Carpenter, Edmund: The Tribal Terror of Self-Awareness. In: Hockings, a.a.O., S.451-461
176Ebd., S. 452
177Zu den häufig wiederkehrenden Fragestellungen bezüglich der Fotografie gehört es in der Völkerkunde,
ob und in welcher Weise Naturvölker Fotografien zu “lesen”, zu “entziffern” oder eben zu “verstehen”
vermögen. So gibt John Collier jr. in seinem Buch “Visual Anthropology: Photography as a Research
Method”, New York 1967, S. 53, die Meinung von Fachkollegen wieder, derzufolge schriftlose Völker
nicht in der Lage seien, mit Fotografien etwas anzufangen, da sie “nicht zweidimensional zu denken
imstande seien”. Für eine solche Annahme finden sich allerdings nur wenige Belege in den
ethnographischen Berichten oder in den Veröffentlichungen der Fotozeitschriften zur Fotografie auf
Forschungsreisen. Die meisten Reisenden waren sich darin jedoch einig, daß die Fotografierten sich
mehr oder weniger schnell auf den Bildern erkannten. Ehrenreich berichtet von den Bakairi im Gebiet des
Rio Xingü in Zentralbrasilien, “dass sie das Bild auf der Visirscheibe immer sofort deutlich erkannten,
was oft dem ungebildeten Europäer (sic!) das erste Mal nicht gleich gelingt.” Ehrenreich, a.a.O., S. 97.
Auch Max Buchner, ein Münchner Arzt, Ethnograph und späterer Direktor des Münchner
Ethnographischen Museums, berichtet aus Westafrika, daß “[...] die Porträte, nachdem die erste völlige
Unwissenheit über ihren Zweck einmal beseitigt war, doch in der Regel schnell erkannt wurden.”
Buchner, Max: Ein Tag in Mussumba. In: A.E.I.0.U. (Pseudonym): Ethnographie und Photographie. In:
Photographische Correspondenz. 21/1884, Nr. 286, S. 277. Buchner wird hier von dem Herausgeber im
übrigen für seine “beinahe diplomatische Klugheit”, ebd., S. 278, im Umgang mit den Afrikanern gelobt,
57
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Zeigen auf den Körperteil und dann auf dessen Abbildung die Fotografie zunächst einmal
verständlich machen. Dann “wurde das Wiedererkennen im Gesicht des Fotografierten
allmählich deutlich. Plötzlich bedeckte er den Mund, zog den Kopf ein und drehte sich
weg.”178 Die folgende Erstarrung glich derjenigen bei der Betrachtung des Spiegelbildes.
Der Abgebildete zog sich zudem häufig “aus der Gruppe zurück, preßte sein Foto an die
Brust, zeigte es niemanden und verschwand, um es allein zu studieren”.179 Diese
Absonderung von der Gruppe dauerte manchmal bis zu zwanzig Minuten.180
Wie sind diese heftigen Gefühlsreaktionen der Biami zu verstehen, die Carpenter zufolge
im allgemeinen bei Stammesvölkern auftreten181, wenn sie die ersten Fotografien von sich
zu sehen bekommen?
Aus den Seelenvorstellungen vieler Naturvölker ergibt sich, daß sie die Fotografie
gleichsam als Analogon, als Vergegenständlichung ihrer “außerhalb” des Körpers
liegenden Seelenbestandteile, der verschiedenen Formen der “Freiseele” wie Schatten-,
Bildseele, Alter ego, Doppelgänger etc. ansehen. “Ein Spiegel [und auch die Fotografie,
Anm. d. Verf] bestätigt diese Vorstellung und tut noch mehr. Er offenbart das symbolische
Selbst außerhalb der physischen Erscheinung. Das symbolische Selbst liegt plötzlich
offen zutage, ist öffentlich und verletzbar.”182
mit der, er “die Vorurtheile des Volkes zu bekämpfen verstand [...].”Ebd. Auch in neueren
Untersuchungen, wie der von Carpenter bei den Biami im Hochland von Papua-Neuguinea, wird
berichtet, daß “in erstaunlich kurzer Zeit”, Carpenter, a.a.O., S. 454, ein angstfreier Umgang mit dem
fremden Medium gepflegt wurde. Die Dorfbewohner fotografierten sich gegenseitig mit SofortbildKameras: “Nicht mehr verängstigt durch ihre eigenen Porträts, trugen die Männer sie offen an ihrer Stirn.”
Ebd. Collier jr. gelangte selbst zu ähnlichen Ergebnissen bei den Navajo im Südwesten der Vereinigten
Staaten von Amerika: “Es gab keinen Zweifel daran, daß die Navajo zweidimensionale Bilder
interpretieren konnten.” Collier jr. a.a.O., S. 53. Als bemerkenswert hob Collier lediglich hervor, daß sie in
sehr spezifischer Weise über die vorgelegten Fotografien sprachen. Der Lebenswirklichkeit entsprechend
erhielt er “wenig projektives Material, keine Geschichten, über das Universum oder die Zukunft der
Navajo”. Ebd., S. 54. Stattdessen wurden detaillierte Berichte über die Geschehnisse auf den einzelnen
Bildern aus Alltagsleben und Landwirtschaft gegeben. Sie waren vermutlich so spezifisch, als wenn ein
Fischer von der Nordseeküste Fotografien vom Fischfang etc. beschreiben würde. Auch mit Blick auf
andere Beispiele aus den peruanischen Anden und aus Mexiko, vgl. ebd., S. 53-58, äußert Collier jr. die
Hoffnung, daß “viele Menschen aus schriftlosen und wenig entwickelten Kulturen ihre Art der
Wahrnehmung (<native perception>) auf das zweidimensionale Bild der Fotografie zu übertragen
vermögen.” Ebd., S.58
178Carpenter, a.a.O., S. 454
179Ebd.
180Ebd.
181Ebd., S. 451
58
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Als weitere angstauslösende Komponente des fotografischen Kulturkontaktes sind die
Persönlichkeitskonzepte der Naturvölker von sich selbst zu nennen. Lévy-Bruhl hatte,
allerdings in eurozentrischer Weise, die Grenzen der Persönlichkeit bei ihnen als “
ungewiß, schlecht bestimmt und sogar veränderlich”183 bewertet. “Die Individualität des
einzelnen erscheint nicht durch den Umfang seiner Person begrenzt und
abgeschlossen.”184
In vielen Kulturen erscheint das Individuum in unserem westlich-bürgerlichen Sinne nicht
als das Wesentliche, sondern die soziale Gruppe, die Familie, der Clan oder die Sippe als
kleinste soziale Einheit, mit der der einzelne verschmolzen ist. Sie stehen “in einem
geradezu organischen Zusammenhang, so daß der einzelne gleichzeitig die Gesamtheit
und die Gesamtheit gleichzeitig das Einzelwesen vorstellt”.185 Lévy-Bruhl spricht sogar von
einer “Individualität zu mehreren”186, um dieses Selbstkonzept zu charakterisieren. Auch
Carpenter sieht für die von ihm besuchten Biami “ein nahtloses Gewebe von
Blutsverwandtschaft und Verantwortlichkeit. Sie betrachten sich als integraler Bestandteil
der Natur. Sie verschmelzen das Individuum mit der ganzen Gesellschaft.”187 Man muß
dies nicht als besondere Form “primitiven Denkens” deuten, wie dies von Negelein und
Lévy-Bruhl taten, sondern kann in diesen Kennzeichnungen des Selbstbildes Zeugnisse
ausmachen, die eine Lebensweise oder Kultur beschreiben, wie sie sich in Anpassung an
eine spezifische Umwelt in langer Zeit entwickelt und als die adäquate herausgestellt hat.
Nach der Ansicht Carpenters findet in der Konfrontation des “Stammesmenschen” mit
seiner Fotografie somit auch eine harsche Kollision der Selbstkonzepte statt: Auf der
einen Seite das Aufgehobensein des Einzelnen in der Gruppe und auf der anderen der
atomisierende Blick der Fotografie, das Zerlegen in Einzeltatsachen, das den
182Carpenter, a.a.O., S. 453. Die Vorstellungen unseres Volksglaubens von der bösen Wirkung des
Spiegels, wie zum Beispiel das Verhängen oder Umdrehen der Spiegel nach einem Todesfall, weil die
Seele des Toten sonst die im Spiegel frei zutageliegende Seele des Betrachters angreifen könnte, sind
ganz ähnlich begründet. Vgl. HddA., a.a.O., Band 9, 1941/1987, S. 565-569
183Levy-Bruhl, a.a.O., S. 110
184Ebd.
185Karsten, Rafael: Blood revenge, war, and victory feasts among the Jibaro Indians of eastern Ecuador. In:
E. B., o. O. u. J. Bulletin 79, S. 11 f. Zitiert nach Levy-Bruhl, a.a.O., S.100
186Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 83
187Carpenter, a.a.O., S. 458
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Fotografierten aus seiner sozialen Einheit zu reißen droht. Die Fotografie “hebt die
Individualität, die persönliche Identität hervor [...]. Sie bietet Gelegenheit zur
Selbsterkenntnis, Selbstbeobachtung. Sie liefert das zusätzliche Gefühl der
Objektivierung des Selbst.”188 Mit anderen Worten: Die Fotografie zeigte den Biami ein
Bild ihrer Persönlichkeit im westlichen Sinne, einer Individualität, die losgelöst von ihren
sozialen Bindungen erschien. “Wo solche Erfahrung neu ist, kann sie traumatisch sein.”189
188Ebd.
189Ebd., S. 455
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Schatten und Bild als Teile der erweiterten Persönlichkeit
Viele Völker haben, anders als wir in unserer heutigen westlichen Kultur190 keinen so eng
umrissenen Persönlichkeitsbegriff, sondern schließen darin Dinge ein, die uns als
unbelebt und nicht mehr als einer Person zugehörig erscheinen würden. Dazu zählen
etwa Haare, Fingernägel, Ausscheidungen, also Dinge, die zum Körper gehörten,
Fußspuren, Sitzspuren, Speisereste, mithin Dinge, die als Folge von Handlungen einer
Person zurückbleiben, aber auch Kleidung und Gegenstände des persönlichen Besitzes.
Lévy-Bruhl hat diese Dinge mit dem Begriff des “Zubehörs” und als ”Erweiterung der
Persönlichkeit”191 bezeichnet. Das Wort “Zubehör” ist allerdings nicht in unserem Sinne als
Gegenstand zu verstehen, der einerseits getrennt wahrgenommen wird, andererseits aber
einer Person gehört. Vielmehr verschmelzen die verschiedenen Möglichkeiten des
“Zubehörs” mit der Person selbst, sie stellen “integrierende Bestandteile der
Persönlichkeit”192 dar, sie bilden ein Wesen. Diese Identität von “Zubehör” und
Persönlichkeit gilt naturgemäß auch für den Schatten, das Spiegelbild oder andere
Formen von Abbildungen. Sie sind keine außenliegenden Gegenstände, die getrennt von
der Persönlichkeit aufgefaßt werden, sondern in der Anschauung vieler Völker “sind der
Schatten, das Bild usw. von Haus aus in der Persönlichkeit inbegriffen. Sie sind im
vollsten Sinne des Wortes Teile von ihr: die Partizipation ist eine Vollkommene”.193 In
diesem Persönlichkeitskonzept kommt nicht nur der Unversehrtheit des Körpers, dem
Funktionieren der Organe und der Unverletztheit eine Bedeutung für das Leben und die
Gesundheit des Menschen zu, sondern eben auch der Unversehrtheit des “Zubehörs”.
“Die Unversehrtheit dieser Dinge erscheint [als, Anm. d. Verf.] eine Conditio sine qua non
der Sicherheit und des Lebens der Menschen.”194 Wenn es Feinden oder, wie in dem
erwähnten Beispiel, einem Krokodil gelingen würde, dieses “Zubehör” zu erlangen “und
190Es muß hier ausdrücklich betont werden, daß in unserem “Aberglauben” oder Volksglauben die
Vorstellungen des “Zubehörs” als einer “Erweiterung der Persönlichkeit” durchaus noch lebendig sind.
Diese Vorstellungen sind also nicht nur als ausschließliches Spezifikum der Vorstellungswelt der
‘Naturvölker’ anzusehen, wie dies noch Lévy-Bruhl tat.
191Vgl. Ldvy-Bruhl, a.a.O., S. 118
192Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 124
193Ebd., S. 154
194Ebd., S. 125
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das betroffene Individuum darum weiß, wird es sich für unrettbar verloren halten”.195 Dies
gilt um so mehr für solche Dinge des Zubehörs, die in besonderer Weise mit der
Lebenskraft oder der Seele identifiziert werden, wie Schatten oder Abbild.196 Dabei ist in
Erinnerung zu rufen, daß Gesundheit, Wohlbefinden oder Unversehrtheit im Denken vieler
Völker nicht vom reibungslosen Ablauf der körperlichen Funktionen bestimmt werden,
sondern daß vielmehr die Unversehrtheit der Seele den Ausgangspunkt der Überlegungen
über Krankheit oder Gesundheit darstellt: “Solange ‘das Leben’, [...], ‘das Lebensprinzip’,
die ‘Lebenskraft’ oder die ‘Seele’ in ihm vorhanden ist, bleibt der Mensch lebend und
gesund. Wenn es ihm verloren geht [...], muß er mehr oder weniger rasch sterben.”197
Für uns hat unser Bildnis “etwas außerhalb unserer Persönlichkeit gelegenes, von ihr
getrenntes”, schreibt Levy-Bruhl.198 Für uns “drückt es Ähnlichkeit, nicht eine Identität aus.
Mein Bildnis hat ein von dem meinen völlig getrenntes Dasein und sein Los hat gar keinen
Einfluß auf mein Geschick.”199 Anders dagegen in den Vorstellungen vieler “Naturvölker”:
Dort ist es seiner Ansicht nach mehr als eine Abbildung, eine Kopie, sondern “es ist das
Original selbst. [...] Mein Bild, mein Schatten, mein Spiegelbild, mein Echo usw sind
buchstäblich ich selbst.”200 Diese Anschauungen sind allerdings nicht nur, wie Lévy-Bruhl
schrieb, bei den “Naturvölkern”, sondern auch in unserem Volksglauben anzutreffen. Dem
“Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens” zufolge sind Spiegelbild, Abbildung und
Schatten gleichsam “ein Stück erweiteres Selbst, animistisch als Seele gedeutet”201 und
somit “ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit”.202
195Ebd. Vgl. auch Negelein, a.a.O., S. 17, demzufolge “die Vernichtung oder Verletzung des Schattens der
Tötung der Persönlichkeit des Betreffenden dient”, und Frazer, a.a.O., Teil 2, S. 77-79, der in der
Zusammenfassung dazu schreibt: “Die menschliche Seele als Schatten betrachtet, so daß die Verletzung
des Schattens die Verletzung des Menschen bedeutet”.
196Vgl. Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 124: “Das ‘Zubehör’ wird in gewissen Fällen als das ‘zweite Ich’ oder Ebenbild
des Individuums betrachtet, und dieses ‘zweite Ich’ ist wieder das Individuum selbst und kann an dessen
Stelle treten.”
197Ebd., S. 128
198Ebd., S. 154
199Ebd.
200Ebd.
201HddA., a.a.0., Band 9, S. 550
202Ebd. Vgl. auch ebd., S. 134. Dort wird der Schatten ähnlich wie bei Lévy-Bruhl “zur erweiterten Sphäre
der Person” gezählt.
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Schatten und Bild sind also nicht etwa ein “zweites Ich”, das ein vom “ersten” gesondertes
Eigenleben führt, sondern nur Aspekte, “eine andere Auffassung des einen einzigen
‘Ich’”.203 So sehen wir, wie im Bilde die “geistige Wesenheit des Menschen, die
Quintessenz seiner Existenz, festgenagelt erscheint”.204
Diese existentielle Aussage über uns und unser Wesen wünschen wir zuweilen nur
ungern in die Hand anderer Menschen zu legen, zumal, wenn wir wenig darüber wissen,
was mit unserem Bild geschieht. Die Fotografie vermag es durch die Konservierung
winziger Zeitbruchstücke und durch die ihr innewohnenden gestalterischen Möglichkeiten,
ein Bild von uns zu entwerfen, das von unserem Selbstbild mehr oder weniger deutlich
abweicht. Diesem Medium wird daher auch gern eine enthüllende, bisweilen auch
entlarvende Kraft205 nachgesagt.
In den Vorstellungen vieler Völker ist es nicht immer nötig, daß Abbildung und Original
genau übereinstimmen oder sich einander besonders ähnlich sein müssen. “Die
Ähnlichkeit drückt in gewissen Fällen die Partizipation (oder die Wesensgemeinschaft)
aus: sie macht aber nicht deren Wesen aus, ist nicht dazu notwendig.”206 Die besondere
Wirkung des Bildes beruht auf der Gemeinsamkeit des Dargestellten mit seiner Abbildung.
Auch der Bilderzauber des Volksglaubens, das Verwünschen der abgebildeten Person
durch Herbeirufen von Unglück, aber auch das Herbeiwünschen eines geliebten
Menschen und das Bitten um Glück oder Gesundheit, “beruht auf dem Glauben an den
innigen, bis zur Identifikation gehenden Zusammenhang von Bild und Dargestelltem”.207
Lévy-Bruhl nennt dies eine “imaginäre Konsubstantialität”208, die den Betrachter anrührt,
und Negelein spricht im Gegensatz zu Reproduktionen des Originals von den
Abbildungen als “Substituten”209, also von Stellvertretern und faßt zusammen: “An die
Vorbedingung der photographischen Treue ist niemals und nirgend zu denken”210, denn
203Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 155
204Negelein, a.a.O., S. 11
205Vgl. Sontag, a.a.O., S. 20
206Levy-Bruhl, a.a.O., S. 157
207HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 1293
208Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 157
209Negelein, a.a.O., S. 9f.
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die Fotografie kann ihm das menschliche Antlitz nur in “seinem augenblicklichen,
zufälligen Zustande wiedergeben”.211
Max Dauthendey schildert 1912 in seinen Erinnerungen “Der Geist meines Vaters.
Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert” das Erstaunen, das der Anblick der
ersten fotografischen Porträts (Daguerreotypien), die jener angefertigt hatte, bei den
Zeitgenossen hervorrief: “Man getraute sich auch zuerst nicht, so erzählte oft mein Vater,
die ersten Bilder, die er anfertigte, lange anzusehen. Man scheute sich vor der
Deutlichkeit der Menschen und glaubte, daß die kleinen winzigen Gesichter der Personen,
die da auf dem Bilde waren, einen selbst sehen könnten [...].”212 In diesem Bericht
schwingt etwas von dem Motiv des “Spiegels mit Erinnerung” mit, der Furcht vor dem
Doppelgänger, der einem wie das Spiegelbild entgegenblickt, aber darin durch die Kunst
des Fotografen festgehalten wird. Diese Abbildungen erschienen den Zeitgenossen
geradezu als zweites Ich oder als “Quintessenz der Persönlichkeit”213, wie Negelein es
nennt. Auch wenn zur Darstellung dieser “Realität im höheren Sinne”214 nicht unbedingt
fotografische Genauigkeit erforderlich schien, so muß doch das Erstaunen in vielen Fällen
ein um so größeres gewesen sein, je präziser die Abgebildeten dargestellt wurden – wie
eben in der Fotografie: “Je größer die Aehnlichkeit eines Bildes, um so schlimmer ist es
nach ihrer Meinung [der “Naturvölker”, Anm. d. Verf.] für den Abgezeichneten. Nur auf
Kosten des Originals [...] könne eine Copie so lebensvoll sein”215, heißt es unter anderem
1875 in John Lubbocks “Entstehung der Civilisation” als Zusammenfassung von Berichten
über die Reaktionen der nordamerikanischen Indianer auf das Porträtiertwerden.
210Ebd., S. 10. Vgl. HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 1293: “Das Bild braucht natürlich auch nicht
photographisch getreu zu sein; es genügt eine Andeutung, etwa drei Nägel in einen Baum geschlagen,
von denen [beim Bilderzauber, Anm. d. Verf] je einer dem Kopfe, der Brust und dem Bauch gilt.”
211Negelein, a.a.O., S.28. Negelein macht hier einen deutlichen Unterschied zwischen Abbild = Fotografie
und Bild in einem höheren Sinne; im Gegensatz zu der seiner Ansicht nach bloß abbildenden Fotografie
schreibt er der “porträtierenden Kunst”, ebd., “die höhere Wahrheit zu, [die, Anm. d. Verf] das Geheimnis
des individuellen Charakters für Vergangenheit und Zukunft löst.” Ebd.
212Dauthendey, Max: Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert.
München 1912, S. 72
213Negelein, a.a.O., S. 27
214Ebd.
215Lubbock, a.a.O., S. 17
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Die Furcht vor der Fotografie und ihre Ursachen
James George Frazer gibt im zweiten Teil seines Hauptwerkes “The Golden Bough”
(deutsch: “Der goldene Zweig”) unter der Überschrift “Die Gefahren der Seele” einen
eindrucksvollen Bericht von Edward William Nelson216 aus dem Jahre 1899 wieder, der für
die Erklärung der Ängste vor der Fotografie und dem Fotografiertwerden einigen
Aufschluß gibt: Als ein Forscher am unteren Yukon in Alaska seine Kamera mit dem
großen Stativ aufgebaut hatte, um ein Bild des Dorfes und seiner Bewohner
aufzunehmen, rannten ihm die letzteren erst einmal davon. Daher ging er daran, die
Häuser zu fotografieren. Er richtete seine Kamera darauf ein und stellte scharf, wozu er
unter seinem schwarzen Tuch verschwand. Währenddessen erschien der Häuptling und
wollte auch einmal einen Blick unter das Tuch werfen. Die Einheimischen hatten sich
inzwischen wieder aus ihren Häusern hervorgetraut und gingen davor ihren alltäglichen
Verrichtungen nach. Der Häuptling betrachtete dieses Treiben eine kleine Weile auf der
Mattscheibe der Kamera, um dann plötzlich seinen Kopf zurückzuziehen und aus voller
Kehle zu brüllen: “Er hat alle unsere Schatten in diesem Kasten!” Allgemeine Panik
breitete sich in der Gruppe aus und augenblicklich waren alle in ihren Häusern
verschwunden.
Es ist nicht mehr zu ergründen, ob der Häuptling auf der Mattscheibe der Kamera neben
den Dorfbewohnern auch tatsächlich deren Schatten wahrnahm oder ob er die
schemenhaften Abbildungen, in denen sich seine Mitmenschen seitenverkehrt und auf
dem Kopf stehend auf der Mattscheibe abzeichneten, als Schatten bezeichnete.
Gleichwie, der Schatten wie auch das Abbild gehörten in der Vorstellung der Eskimo
untrennbar zu der jeweiligen Person. Wer seinen Schatten und damit seine Seele verlöre,
der würde auch demzufolge vor Gram vergehen und bald sterben. Nun sah der Häuptling
Schemen oder Schatten seiner Mitmenschen unter einem dunklen Tuch verborgen in
einer geheimnisvollen Kiste. Auch wenn die Fotografierten nach wie vor prächtige
Schatten werfen, mußte doch der Eindruck entstehen, als befände sich wenigstens ein
Teil des Schattens und der Seele nunmehr in der Kamera und damit im Besitz des
Fotografen. Dieser Verlust eines Teils der Seele wird vielfach als gravierende Einbuße der
Vitalkraft oder Lebensenergie verstanden. Güssfeldt berichtet zutreffend von dem
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“stummen Staunen, mit dem das Erscheinen des Bildes [beim Entwickeln, Anm. d. Verf.]
auf der Platte betrachtet wurde”217 und der Annahme der Menschen, daß darin “ein Theil
der lebendigen Kraft des Individuums auf jene [die Platte, Anm. d. Verf.] übergegangen,
also für diese verloren sei”.218 Der Gedanke, durch den Verlust dieser Lebenskraft bald
sterben zu müssen, wird auch von Kurt Boeck aus Indien überliefert, demzufolge “die
meisten Hindus eine unbesiegbare Angst vor dem Photographiertwerden bezeigten. Mein
Babu [ein einheimischer Schreiber, häufig ein Bengali, der des Englischen mächtig war,
Anm. d. Verf] hatte mir diese Furcht aus der weit verbreiteten Annahme erklärt, daß der,
der das Bild eines anderen Menschen anfertige und mit sich davontrüge, etwas von der
Seele des Abgebildeten mitnähme.”219
Solche Befürchtungen führten neben dem verständlicherweise nachdenklichen und
erschrockenen Gesichtsausdruck der Fotografierten auf einigen Fotografien zu einer
deutlichen Abwehrhaltung des Körpers. Gelegentlich drehten sich die Fotografierten weg
und warfen den Fotografen über die Schulter hinweg ihrerseits noch einen ziemlich
grimmigen und vielleicht auch “bösen” Blick zu, wie dies das Bild des Schweizer
Ethnologen Alfred Bühler verdeutlicht, das er um 1931 von einer “Frauenversammlung in
Mataworei” auf den Admiralitätsinseln aufnahm.
Eine ähnliche Reaktion zeigen auch die Menschen in zwei Fotografien von Fritz Sarasin
aus Celebes, die um 1902/03 entstanden. In einer Abwehrgeste wird der rechte Arm
schützend vor den Oberkörper gehalten, während die linke Hand zum Mund geführt ist,
um diesen vor dem Auge der Kamera zu verschließen. Auf diese Weise dachte man wohl,
sich vor dem Fremden abzuschließen, den Atem am Ausströmen zu hindern und damit
möglichst die Atem- oder Hauchseele bei sich zu behalten, damit sie nicht von der
Kamera angezogen würde und ihrem Besitzer dann verlorenginge.220 Ebenso bedeutsam
ist die Furcht, daß durch den geöffneten Mund Dämonen und böse Geister, ähnlich dem
217Güssfeldt, a.a.O., S. 16
218Ebd., S. 17
219Boeck, a.a.O., S. 220. Zusammenfassungen ähnlicher Berichte über die Abbildungsfurcht, sowohl
gegenüber Zeichnung und Malerei als auch gegenüber der Fotografie, finden sich bei Lubbock, a.a.O., S.
1719; Andree, Richard: Ethnographische Parallelen und Vergleiche. Neue Folge. Leipzig 1889, S. 18-20;
Negelein, a.a.O., S. 10f., 24, 32f.; Frazer, a.a.O., Teil 2, S. 96-100. Vgl. auch die entsprechenden
Stichworte im HddA: “Photographie”. In: Band 9. 1941/ 1987, S. 19f.; “Bild”. In: Band 1. 1927/1987, S.
1282-1298, und insbesondere ebd., S. 1296 unter dem Stichwort “Abbildungsfurcht”.
220Vgl. HddA., a.a.O., Band 6. 1935/ 1987, S. 623f.
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“bösen Blick”, die vom Fotografen und seiner Kamera ausgehen, in den Körper eindringen
könnten.221 Die Sorge der Menschen um ihre Unversehrtheit drückt sich zudem
augenfällig in den angestrengt zusammengezogenen Augenbrauen aus; die Operationen
des Fotografen werden äußerst skeptisch betrachtet. Nicht ohne Grund schreiben dazu
die Vettern Sarasin in ihrem Reisebericht zur Aufnahme der “Frauen von Bada im
Festschmuck”: “Ein Trüppchen Frauen kommt an, die wir gleich zu photographieren
versuchen wollen; es kostet viele Arbeit, sie kirre zu machen.”222 Ganz ähnlich reagierte
wohl auch eine Efé-Pygmäin aus Zaire gegenüber dem Ansinnen des Ethnologen und
Anthropologen Paul Schebesta, sie zu fotografieren. Sie hält gleichfalls ihre Hand
schützend vor den Mund.
Die leise Trauer und Melancholie der Fotografierten über den durch verschiedene Formen
der Aufnahme erlittenen Verlust läßt auch der Bericht des Anthropologen und Ethnologen
Rudolf Pöch von seiner Reise nach Südafrika in den Jahren 1907 bis 1909 deutlich
werden: Ein “Kalahari-Buschmann” aus einem Orte, an dem Pöch “fast ein Vierteljahr
gestanden [...] und von einem Volksstamme photographische, phonographische und
kinematographische Aufnahmen gemacht hatte, [...] sagte, als Pöch aufbrach,
anscheinend ganz betrübt: ‘Nun hast du uns unsere Tänze, unsere Gesänge, unsere
Sprache und unsere Porträts genommen, und alles geht weg in dein Land!’”223 Die für
Negelein so “unverständliche Scheu vor dem harmlosen Lichtbild-Apparat”224 wird
nachvollziehbar durch die Kenntnis der sie begründenden Persönlichkeits- und
221Ebd., S. 621f.
222Sarasin, Paul und Fritz: Reisen in Celebes. Ausgeführt in den Jahren 1893-96 und 1902-03. Band 2.
Wiesbaden 1905, S. 104
223Pöch, Rudolf: Das Photographieren auf anthropologischen Forschungsreisen. In: Photographische
Correspondenz 47/1910, S. 111. Vgl. auch Zabel, Rudolf: Erlebnisse berühmter Forscher unter den
Wilden [...]. Hamburg 1910, S. 503, wo über die Reaktion der Batwa, eines zentralafrikanischen
Pygmäenvolkes, auf die anthropologische Vermessung berichtet wird. Sie waren der Meinung, “daß ihr
Leben nun in den Büchern der Weißen liege”.
224Negelein, Julius von: Weltgeschichte des Aberglaubens. Band 1. Die Idee des Aberglaubens. Sein
Wachsen und Werden. Berlin/ Leipzig 1931, S. 112. Für die Scheu vor der Fotografie führt das HddA.,
a.a.O., Band 9. 1941/1987, S. 19, drei Gründe an, nämlich “die unheimliche Ähnlichkeit des Lichtbildes
sowie die Schnelligkeit und Mysteriosität des ganzen Verfahrens.”
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Seelenvorstellungen, nach denen “der Besitzer des Bildes den Abgebildeten in seiner
Gewalt hat, oder, wie es auch ausgedrückt wird, das Bild raubt die Seele”.225
Pöch berichtet aus Neuguinea von einer ähnlich lautenden Bezeichnung der
Einheimischen für das Fotografieren, nämlich “die Seele einfangen”226, und der Missionar
Ernst Bürgi sieht die Furcht der Einheimischen in Togo gleichfalls in dem Glauben
begründet, “der Weiße kann ihre Seele einfangen”.227 Auch die Canelos-Indianer meinten
nach einer Schilderung von Sarkady, “ihre Seele werde mit dem Bilde fortgetragen. Es
war für sie jedoch zu spät, das Negativ war aufgenommen und sie waren nun untröstlich,
daß sie ihre Seele verloren hatten”.228 Nicht umsonst nannten die nordamerikanischen
Indianer die Fotografen “Shadow-Catcher”229, Schattenräuber, oder, im übertragenen
Sinne, Seelenräuber.
225HddA., a.a.O, Band 1. 1927/1987, S. 1296. Vgl. die Überschrift des entsprechenden Kapitels bei Andree,
a.a.O., S. 18: “Bildnis raubt die Seele.”
226Pöch, a.a.O., S. 110
227Bürgi, a.a.O. Zitiert nach Müller, a.a.O., S. 24f.
228Sarkady: o. T. In: Journal of the Anthropological Institute. 9/1880, S. 392. Zitiert nach Andree, a.a.O., S.
19
229Shadow Catchers. Photographs of Native Americans from the Huntington Library. Ausstellungskatalog.
San Marino, Kalifornien, 1985, S. 4
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Der Verlust der Seele oder eines Teils der Persönlichkeit wird auch deswegen als so
gravierend empfunden, weil das Verlorene, wie im Falle einer Fotografie besonders
deutlich, in den Besitz eines anderen Menschen übergeht, der somit dem Fotografierten
großen Schaden zufügen könnte. Wie durch Beeinträchtigungen des Schattens oder
Spiegelbildes die jeweilige Person geschädigt werden würde, sah man auch den
Abgebildeten an den Besitzer der Abbildung schutzlos ausgeliefert. So wollten sich die
Giljaken an der Mündung des Amur um 1880 nicht porträtieren lassen, damit der Zeichner
nicht über das Bild in den Besitz ihrer Seelen gelangen sollte. Der Zeichner hätte nämlich
durch Zerreißen der Bilder auch der Existenz der dargestellten Menschen ein Ende
machen können.230
Arthur Baessler berichtet 1889 von “der fast unüberwindlichen Abneigung” der Menschen
im Malaiischen Archipel, “ihr Bild bei Lebzeiten aufnehmen zu lassen, – sie glauben
entweder, dass sie sogleich sterben müssen, oder dass der Betreffende, der ihr Bild in
den Händen hat, dadurch vollständige Macht über sie gewinnt und sie dann willenlos alles
das thun müssen, was er dem Bilde befiehlt”.231 Ähnliche Berichte gibt Baessler an
anderer Stelle232, Adolf Fischer 1903 von den Selung im Mergui-Archipel in Südbirma233
und Güssfeldt 1879 von der Loango-Küste im Südwesten Afrikas234.
230Schrenck, Leopold von: Die Völker des Amurlandes. St. Petersburg 1881, S. 215. Zitiert nach Andree,
a.a.O., S. 20
231Baessler, Arthur: Reisen im Malayischen Archipel. In: ZfE. 21/1889, S. 121
232Baessler, Arthur: Reisen im Malayischen Archipel. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 22/1890, S. 494f.
233Fischer, Adolf: Über die Selungs im Mergui-Archipel in Südbirma, sowie über die südlichen Shanstaaten.
In: ZfE. 35/1903, S.986
234Güssfeldt, a.a.O., S. 16f.
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Paul Schebesta “Efé da Dese”, Porträt einer kleinwüchsigen
Frau, die sich ihre Hand vor den Mund hält, Ituri-Gebiet,
Belgisch-Kongo, heutiges Zaire, 1929/30 oder 1934/35.
Anthropos-Institut, St. Augustin.
Kameraauge und “böser Blick”
Neben diese Vorstellungen des Seelenraubes und der fotografischen Spielart des
Bilderzaubers tritt noch der weitverbreitete Volksglauben an den “bösen Blick” als
furchtauslösendes Moment hinzu, wie es einige ethnographische Quellen verdeutlichen.
Unter dem “bösen Blick” versteht man gemeinhin solche Blicke, die als verderbliche
Ausstrahlungen über die Augen, darum auch “Augendunst”235 genannt, von Personen
ausgesandt werden, deren “Seele durch irgendeine böse Eigenschaft, wie Zorn,
Eifersucht, Neid und dergleichen, affiziert [das heißt von einer Krankheit befallen, Anm. d.
Verf] ist. Denn eine derartig verderbte Seele beeinflußt den Körper und seine Säfte und
sendet aus den Augen gleichsam vergiftete Pfeile aus, die Menschen und Tiere krank
machen und leblose Dinge zu beschädigen vermögen.”236 Solch zerstörerische Kräfte
werden der Fotografie in vielen Kulturen zugeschrieben: Der Fotoapparat wird zu einem
235HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 685
236Ebd.
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“Cholerakasten”237, das heißt seine Emanationen lassen den Fotografierten krank werden.
Oder er beherbergt dadurch, daß er bereits viele Menschen, darunter auch böse oder
zauberkräftige, abgelichtet hat, auch deren verderbliche Ausstrahlung oder auch diejenige
des Fotografen. Diese wird wiederum beim Fotografieren auf die Abgebildeten gerichtet
und führt zu Krankheit oder Tod. Die Kamera mit den schimmernden und spiegelnden
Linsen ihres Objektivs wird so zu einem “gläsernen Teufelsauge”238, dessen Blick man
sich besser nicht aussetzen sollte. In diese Richtung weist auch jene Episode, die der
Schweizer Bildjournalist und Schriftsteller Walter Bosshard um 1927 bei einem Besuch
des Königshauses von Ladakh im Himalaja erlebte. Nachdem er den jungen König, seine
Frau und die Königinmutter fotografiert hatte, wollte Bosshard noch auf Wunsch der
jungen Königin den kleinen, erst einjährigen Prinzen aufnehmen. Allein dies wurde ihm
jedoch durch die Königinmutter verwehrt: “Die alte Dame fürchtete, daß in dem schwarzen
unheimlichen ‘Ding’, der Kamera, das ‘böse Auge’ verborgen sein könnte, oder daß die
das Schloß umgebenden Dämonen, durch die Vorbereitungen für die photographische
Aufnahme aufmerksam gemacht, den jugendlichen Prinzen rauben könnten.”239
Die Furcht vor dem ‘bösen Blick’ führte zu verschiedenen Formen von Abwehrhaltungen
bei den Fotografierten, die sich darin ähneln, das Objekt des fotografischen Interesses zu
verhüllen oder aber selbst den Blickkontakt mit dem Fotografen und dem “Auge” der
Kamera tunlichst zu vermeiden. Boeck berichtet von den “widerwilligen”240 Stellungen,
welche die meisten Familienmitglieder einer indischen Hochzeitsgesellschaft im Punjab
einnahmen: “Fast könnte es sogar scheinen, als ob die Brautmutter, die neben ihrer, man
möchte sagen hermetisch verschleierten Tochter kauert, die Faust drohend ballt, um ihrer
Besorgnis vor dem bösen Blick des aus dem Apparat hervorlugenden blanken
Objektivauges Ausdruck zu geben”.241 In ganz ähnlicher Weise halten auch auf anderen
Fotografien die Menschen ihre Hand vor Augen, um eben nicht dem “bösen Blick” der
237Schrank (1863), a.a.O., S. 194
238Seligmann, Siegfried: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens
aller Zeiten und Völker. Band 1. Berlin 1910, S. 166. Michel Tournier sieht in seinem Roman “Der
Goldtropfen”, Hamburg 1987, S. 14, 27, diese Vorstellung als wesentliche Triebkraft für die heftige
Abneigung der nordafrikanischen Oasenbewohner gegen die Fotografie.
239Bosshard, Walter: Durch Tibet und Turkestan. Reisen im unberührten Asien. Stuttgart 1930, S. 30
240Boeck, Kurt: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Leipzig 1903, S. 212
241Ebd.
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Kamera ausgesetzt zu sein und um ihrem verderblichen “Bannstrahl” zu entgehen. Hierin
offenbaren sich deutlich die beiden Aspekte der Furcht vor dem Fotografiertwerden: die
Befürchtung, es könne einerseits ein Seelenbestandteil entweichen und andererseits
könnte der ‘böse Blick’, von der Kamera ausgehend, den Menschen schädigen. Die bösen
Geister konnten nun nicht etwa nur in der Kamera enthalten sein, sondern auch in den
Fotografien anderer Menschen. Auch hier wird von ähnlichen Reaktionen berichtet, dem
Zukneifen der Augen oder dem Weg schauen.242
Die Vorstellungen des “bösen Blickes” sind in allen Kulturen anzutreffen und bewirkten
eine große Vielfalt von Schutzvorkehrungen: Abwehrgesten, Amulette, Plastiken,
gezeichnete oder gemalte Symbole an den Hauswänden und viele andere. Unter den
Abwehrmitteln zählen besonders die Gesten zu den weit verbreiteten Formen: Die
sogenannte “Feige”, auch “Neidfeige”243 genannt, bei der der Daumen zwischen die
gekrümmten Zeige- und Mittelfinger gehalten wird, und diejenige, bei der aus der Faust
Zeigefinger und kleiner Finger vorgestreckt werden. Der dänische Bildhauer Bertel
Thorvaldsen, wie ihn eine Daguerreotypie aus den frühen 40er Jahren des 19.
Jahrhunderts zeigt, scheint auch nicht eben glücklich über die Fotografie zu sein, die man
von ihm aufnahm. Der mißgestimmte Gesichtsausdruck findet eine zusätzliche
Bekräftigung in einer Schutzgeste seiner linken Hand gegen den “bösen Blick” des
Kameraauges – mithin auch ein Beleg, daß die Ängste vor dem Fotografiertwerden
keineswegs nur eine Sache der “Naturvölker” waren.
Die Übertragung der Vorstellungen des “bösen Auges” und des “bösen Blicks” auf die
Kameras der Fotografen dürfte auch mit dem Erschrecken zusammenhängen, das stets
auftrat, wenn die Fotografen aufgrund zu geringer Helligkeit und mangelnder
Lichtempfindlichkeit ihres Aufnahmematerials gezwungen waren, Magnesiumpulver als
Blitzlicht abzubrennen. Die gleißende Helligkeit des Magnesiums, gepaart mit dem lauten
Geräusch der gleichzeitigen Verpuffung mag zu der weit verbreiteten Vorstellung geführt
haben, Kamera und Gewehr hätten mehr als nur den Knall beim Abdrücken gemeinsam.
242Vgl. Schebesta, Paul: Orang Utan. Bei den Urwaldmenschen Malayas und Sumatras. Leipzig 1928, S.
39. Schebesta berichtet hier von den Ple, einem Volksstamm im Inneren der Halbinsel Malakka (Malaya).
Vgl. HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 698 zum Stichwort “Augen bedecken”.
243Ebd., S. 686. Vgl. Rettenbeck, Lenz: “Feige”. Wort-Gebärde-Amulett. München 1955, S. 9-13 und 42
sowie die Abb. 11: “Chinese macht zur Abwehr gegen den Photographen die Feige.”
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Schebesta berichtet von einem Besuch im Jahre 1924 bei den Semang-Djahai im Inneren
der Halbinsel Malakka (Malaya): “Vor dem [Foto-, Anm. d. Verf.] Apparat zeigten die
Mädchen große Angst und vermuteten darin eine Höllenmaschine: ‘Na bedel ie!’ (Er
erschießt mich!) rief das kleinere aus und konnte nur mit Gewalt zurückgehalten werden,
bis das Bild fertig war.”244
Gelegentlich werden in dem Bild, das die Fotografie von einem Menschen übermittelt,
schlechte Vorzeichen gesehen, die auf Krankheit oder gar baldiges Ableben hindeuten.
So bekam der Sibayak (Häuptling) Pa Melga der Karo-Batak auf Sumatra von Tassilo
Adam, einem holländischen Plantagenverwalter in Diensten der “Deli Maatschappij”,
Amateurfotografen und Sammler von Ethnographica um 1920, zwei Fotografien
geschenkt: Eine zeigte die ganze Person von Kopf bis Fuß und maß dabei etwa einen
Meter in der Höhe. Das andere Bild stellte ein Porträt des Mannes dar und zeigte seinen
Kopf in Lebensgröße. Die erstgenannte Fotografie fand große Zustimmung, während Pa
Melga das Porträt nur widerwillig annahm. Nachdem “er es lange Zeit betrachtet hatte,
legte er es offensichtlich mißvergnügt zur Seite.”245 Als der Fotograf nach dem Grund
seiner Ablehnung frage, “umwölkte sich Pa Melgas Stirn und er ging, ohne ein Wort zu
sprechen, mit beiden Bildern fort”.246 Die Abneigung des Sibayak rührte vermutlich daher,
daß ihn das Bild seines Kopfes an die Schädel seiner Ahnen gemahnte. “Er und seine
Frauen sahen das Foto als ein Omen dafür an, daß sein Schädel auch bald neben denen
seiner Vorfahren liegen würde.”247 Die Familie bewahrte diese Fotografie ganz folgerichtig
auch auf einer Matte bei diesen Schädeln auf und bat Adam ängstlich darum, das Porträt
wieder mitzunehmen.248
244Schebesta, Paul: Bei den Urwaldzwergen von Malaya. Leipzig 1927, S. 147
245Adam, Tassilo: Battak Days and Ways. In: Asia 30/1930, S. 123. Ich verdanke den Hinweis auf diese
Episode Achim Sibeth vom Linden-Museum Stuttgart.
246Ebd., S. 124
247Ebd., S. 125
248Ebd.
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Kolonialismus
Rudolf Virchow zufolge war “die Anthropologie wie eine Art Jagd zu betrachten”249, die
sich entweder auf das lebende “Material” richtete, das in möglichst großer Zahl zu
beschreiben und vermessen war, oder den Toten galt: “Zuweilen ist es möglich, ganze,
frisch abgeschnittene Köpfe zu erhalten. [...] Wo es irgend geschehen kann, da ist es
daher sehr zu empfehlen, solche Gelegenheiten nicht zu verabsäumen.”250 Für den
Transport dieser ‘Reisemitbringsel’ besonderer Art riet Virchow zu einem “verlötheten und
mit Spiritus gefüllten Zinkgefäss”251, falls nicht vorhanden, sollte man die abgeschnittenen
Hände oder Füße einfach trocknen oder in Salz einlegen. Nicht ohne gewissen Stolz
schilderten die Forschungsreisenden252, wie sie nächtens die Ruhe von
Bestattungsplätzen störten, um die ersehnten Belegstücke für die anthropologischen
Forschungen, die sich im wesentlichen auf den Schädel konzentrierte, zu erlangen. Adolf
Bernhard Meyer, Direktor am Dresdener Königlichen Zoologischen und AnthropologischEthnographischen Museum schildert zwar durchaus seine Skrupel, “das Heiligste, was
diese armen Wilden vielleicht besitzen”253, anzutasten. Indes “hätte sich ihm wohl nie
mehr eine so günstige Gelegenheit geboten, und andererseits bis jetzt [...] Nichts [...]
nach Europa gekommen ist, das vollkommen sicher unvermischten Negritos [einer
kleinwüchsigen Bevölkerungsgruppe auf den Philippinen, Anm. d. Verf.] angehörte, und
ohne weiteres Material die interessante Frage nach der Verwandtschaft und Herkunft
dieses isolierten Negerstammes nicht sachlich ventiliert werden kann.”254 Andere
Reisende beschritten offenere Wege und verkündeten, wie der Afrikareisende Georg
Schweinfurth, in den Dörfern, die sie besuchten, lauthals: “‘Bringt Waffen und kunstvolles
249Virchow, Rudolf: Verwaltungsbericht für das Vereinsjahr 1876. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 8/1876, S.
266
250Ders., in: Neumayer, a.a.O., S. 582
251Ebd.
252Vgl. Fritsch, Gustav: Über anthropologische Studien in Verbindung mit der deutschen Venus-Expedition
nach Ispahan. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 7/1875, S. 64-67. Dort heißt es von einem Friedhof, “dessen
scheinbar unersteigliche Umwallung unter der freiwilligen Mitwirkung mehrerer befreundeter Herren von
Teheran glücklich erstiegen wurde und einen Theil seiner Schätze der Wissenschaft opfern musste”.
Ebd., S. 65. Ähnlich verfuhr man in Konstantinopel, vgl. ebd., S. 66 und brachte insgesamt “sechs
typische Türkenschädel”, ebd., S. 167, von dort mit.
253Meyer, Adolf Bernhard: Brief an Rudolf Virchow, darin: Notiz über den Fundort der von ihm überbrachten
Skelette und Schädel von Negritos [...]. In: ZfE. 5/1873, S. 91
254Ebd., S. 92
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Gerät, Schmucksachen und Utensilien aller Art, [...] ich will auch andere schöne Sachen
dafür geben, dann schafft herbei Felle und Schädel von Tieren, die Früchte des Waldes
nicht zu vergessen, die Blätter dabei, die dazu gehören, vor allem aber bringt
Menschenschädel, soviel als ihr von euern Mahlzeiten erübrigt euch taugen sie doch zu
nichts, ich aber gebe euch Kupfer.’”255 Schweinfurth befleißigte sich dabei einer
Ausdrucksweise, die deutlich macht, daß ihm die fremden Menschen nur als
Merkmalsträger und potentielle Meßobjekte erschienen: “Auch kann ich mit Massen
operieren, denn hier sind immer einige 300 bis 500 Sklaven auf Lager, abgesehen von
den dienstbaren Sklaven, die noch weit zahlreicher sind, sowie schließlich die in der
Nachbarschaft angesiedelten Neger, zusammen mindestens 5000, mit denen ich machen
kann, was ich will.”256
Diese Wissenschaft vermochte zwar dem Kolonialismus nicht unbedingt direkt zu nutzen.
Sie tat dies indirekt, indem sie mit ihren bisweilen rassistischen Ergebnissen andere
Völker als tiernah, primitiv oder minderwertig abklassifiziert. In jedem Falle bedurfte sie
aber der kolonialistischen Herrschaft, denn ohne diese Sicherheit hätten die Forscher
kaum in solchem Maße den bisweilen menschenverachtenden Forschungen frönen
können. Der anthropologische und als solcher zumeist “indiskrete Blick”257 richtete sich
neben dem Schädel mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Untersuchung des
menschlichen Geschlechtsapparates. Dabei widmeten sich die der heimischen Enge und
Prüderie entflohenen Wissenschaftler mit naheliegend männlicher Vorliebe “prallen, ein
Kugelsegment darstellenden Brüsten mit sehr erectilen, aber weichen Warzen”258 und
gaben sich dem “weichen sanften Gefühl”259 hin, das die “ausserordentliche Zartheit der
glatten, samtweichen Haut”260 der fremden Frauen ihnen bot.
255Schweinfurth, Georg: Im Herzen von Afrika [...]. Leipzig 41922, S. 317
256Ders.: Brief an Robert Hartmann vom 10. Juli 1869. In: ZfE. 2/1870, S. 65, Hervorhebungen durch den
Verf.
257Vgl. Duerr, Hans Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Frankfurt/M. 21988,
S. 135-148
258Ploss, Heinrich: Die ethnographischen Merkmale der Frauenbrust. In: Archiv für Anthropologie. 5/1872,
S. 217
259Virchow, Rudolf: Australier. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 15/1883, S. 191
260Anonym: Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes. Stuttgart 1902. Rezension. In:
Photographische Correspondenz. 39/1902, Nr. 504, S. 489
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Obwohl auch die Männer zum Objekt der Messungen, des Betastens und Beschreibens
wurden – einer der Forscher, der spätere Direktor des Museums für Völkerkunde in
Frankfurt am Main, Bernhard Hagen, steuerte zur fragwürdigen Bereicherung der
anthropologischen Kenntnisse vom Menschen sogar Maßzahlen über die Penislänge in
schlaffem und eregiertem Zustande bei261 – waren doch vornehmlich fremde Frauen262 der
‘wissenschaftlichen’ Exploration ausgesetzt. Die fotografische Praxis der Anthropologen
mag das nachfolgende Beispiel erläutern: So schildert Gustav Fritsch, wie er zwei nach
Berlin gebrachte Akka-Mädchen, von denen er die eine auch noch passenderweise “Rührmich-nicht-an”263 nannte, fotografiert hatte: “Da es sich dabei um Aufnahmen in
beträchtlicher Grösse handelte [...] so war es der Unbändigkeit der Mädchen gegenüber
notwendig, Blitzlicht neben Tageslicht in Anwendung zu bringen. Auch unter derartigen
Bedingungen galt es eine Art von Kampf um die Widerspenstigkeit und den Schrecken der
Mädchen vor der Entzündung des Magnesiums einigermassen zu überwinden.”264 Der
Fotografie ist deutlich die Angst, das Entsetzen und die Scham des Mädchens
anzusehen, die bei ihr durch die Aufnahmeprozedur ausgelöst wurden. Fritsch ging es
wohl weniger um eine Besänftigung seiner “Opfer”, sondern um die Brechung deren
Widerstandes. Daß es dabei nicht eben friedlich zuging, belegt das Bild augenfällig durch
die vor Angst weit aufgerissenen Augen, die geöffneten Poren der Haut und das Glänzen
derselben vom Angstschweiß. Schließlich stellte eine solche korrekt ausgeführte
anthropologische Fotografie der Angehörigen einer kleinwüchsigen Ethnie aus
Zentralafrika damals noch eine wissenschaftliche “Kostbarkeit” ersten Ranges dar, seit
Schweinfurth auf seiner Afrikareise in den Jahren 1868 bis 1871 die Existenz von
Pygmäenvölkern nachgewiesen hatte.
Es gibt nur wenige so offene Schilderungen von Forschern und Fotografen, wie sie jeweils
zu ihren Bildern gelangten. Insofern hat die preußische Korrektheit Fritschs, mit der er den
Vorfall verzeichnete, auch ihr Gutes. Aus den Berichten der Teilnehmer der Hamburger
261Hagen, Bernhard: Anthropologischer Atlas Ostasiatischer und Melanesischer Völker. Wiesbaden 1898,
S. VII
262Vgl. Mamozai, Martha: Herrenmenschen. Frauen im deutschen Kolonialismus. Reinbek 1982, besonders
das Kapitel “Völkerkundler unterwegs”, S. 59-63
263Die Fotografie befindet sich in der Abteilung Afrika des Museums für Völkerkunde Berlin SMPK. Fritsch,
Gustav: Akka-Mädchen. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 28/1896, S. 545
264Ebd., S. 544
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Südsee-Expedition von 1908 bis 1910 ist durch die Aufbereitung Hans Fischers allerdings
deutlich zu ersehen, daß der Umgang mit fremden Menschen kaum einmal andere
Formen annahm. “Die Expeditionsteilnehmer scheinen nie überhaupt in Erwägung
gezogen zu haben, daß sie in das Leben anderer Menschen eindrangen und daß diese
vielleicht das Recht haben könnten, dieses Eindringen abzulehnen.”265 Für die
überseeischen Völker ist die Fotografie inzwischen zu einer symbolischen Handlung
geworden, die den gesamten westlichen Kolonialismus gleichsam in sich vereint und auf
die Spitze treibt. Der Widerstand gegen das Fotografiertwerden ist vor diesem Hintergrund
auch als eine Variante des Widerstandes gegen das kolonialistische System und die
westliche Zivilisation im ganzen anzusehen.266
Indes praktizierte man ähnliche Umgangsformen bei anthropologischen Untersuchungen
auch daheim,267 denn das anthropologische Interesse an körperlichen Absonderlichkeiten
stand der in Übersee üblichen Neugierde in nichts nach. So berichtete ein Schulpfleger
Leudesdorf aus Hamburg in der Zeitschrift für Ethnologie über einen frühreifen Knaben. Er
hatte ihn dem “ärztlichen Vereine”268 vorgestellt, dessen Mitglieder “entzückt waren”269.
Leudesdorf schreibt selbst über seinen Schützling: “Wenn er wie ein Kind schreit und mit
männlicher Stimme weint, so macht das einen ganz wunderbaren Eindruck.”270
Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang, daß auf Anregungen von
Virchow um 1875 eine großangelegte Vermessung aller Schulkinder in Preußen
durchgeführt wurde, die zum Teil auf recht heftigen Widerstand der Bevölkerung stieß.271
265Fischer, Hans: Die Hamburger Südsee-Expedition. Über Ethnographie und Kolonialismus. Frankfurt/M.
1981, S. 132
266Vgl. Zünd, Marcel: Der Fotograf und der Fotografierte. In: Brauen, a.a.O., S. 75
267Vgl. unter anderem das durch maßlosen Forscherdrang hervorgerufene Interesse an “Frühreifen”,
“Haarmenschen”, Kleinwüchsigen, Riesen oder “Schwanzmenschen”, das auch der hiesigen Bevölkerung
galt. Über diese Phänomene wurde in der BGAEU anhaltend diskutiert, ob es sich um pathologische
Erscheinungen oder um Atavismen, Rückschläge auf frühere Stadien der Menschheitsentwicklung
handelte.
268Dr. Leudesdorf: Beschreibung und photographische Abbildung eines frühreifen Knaben. In: ZfE. 8/1876,
S. 87
269Ebd.
270Ebd.
271So heißt es in den Verh. d. BGAEU: “Hie und da sind [...] grosse Beunruhigungen, in Oberschlesien und
Westpreussen sogar aufständische Bewegungen der Bevölkerung, namentlich der weiblichen
herbeigeführt worden [...].” In: ZfE. 7/1875, S. 90
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Auch dies ist ein Beleg dafür, daß die Anthropologie keinesfalls nur die überseeischen
Völker in den Blick nahm. Insofern muß eine Kritik der physischen Anthropologie als einer
bloßen Kolonialwissenschaft zu kurz greifen. Vielmehr muß das wissenschaftliche
Konzept einer umfassenden Anhäufung der verschiedensten Meßwerte aller Menschen
als sinnloser Irrweg der Forschung und seine Funktion als Legitimation der westlichen
Kolonialherrschaft beziehungsweise der Ausrottung anderer Völker erkannt werden.
Martin Johnson “Osa Johnson, die Gattin des Forschers Martin
Johnson mit Pygmäen im Kongo”, Belgisch-Kongo, heutiges
Zaire, 1933. Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz Berlin
Nicht viel anders als in der physischen Anthropologie, wo es weniger um direkte
Verwendung der Forschungsergebnisse für koloniale Zwecke ging, sondern vielmehr das
kolonialistische Herrschaftssystem in Übersee erst solche Forschungen ermöglichte,
verhielt es sich mit der deutschsprachigen ethnographischen Feldforschung, wie sie etwa
um die Jahrhundertwende aufkam.
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Kolonialismus und Ethnologie stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander: Einerseits
war zur Ausübung kolonialer Herrschaft “Wissen um die Formen des Zusammenlebens,
der Kultur und der Denkweise dieser Völker notwendig”.272 Dieses Informationsbedürfnis
hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der Völkerkunde wesentlich
mitbedingt. Zum entscheidenden Faktor der Kolonialpolitik wurde die Völkerkunde
allerdings erst, als mit der aufkommenden Feldforschung und dem Funktionalismus in den
Jahren um den Ersten Weltkrieg eingehenderes Wissen über die fremden Gesellschaften,
ihre Sozialstruktur und Rechtssysteme bereitgestellt werden konnte. Britische und
französische Kolonialverwaltungen sahen sich in ihren Bemühungen, die Kolonialgebiete
wirtschaftlich fortzuentwickeln und die Herrschaft an einheimische Instanzen im Sinne
einer “indirect Rule”, einer indirekten Herrschaft, zu delegieren, auf solche ethnologischen
Kenntnisse angewiesen. Gerade die von Bronislaw Malinowski eingeführte empirische
Methode der stationären Feldforschung und “teilnehmenden Beobachtung” versprach,
“detaillierte soziologische und ökonomische Untersuchungen leisten zu können”.273 Karl
Heinz Kohl wie auch Gerard Leclerc274 führen eine Reihe von
Forschungsunternehmungen im Bereich der britischen und französischen kolonialen
Besitzungen an, die direkte Auftragsforschungen darstellten oder indirekt darüber
finanziert wurden.
Für die deutsche Ethnologie und Kolonialverwaltung lassen sich solche Zusammenhänge
nur in weit geringerem Maße nachweisen. Dies hängt damit zusammen, daß Deutschland
zu der Zeit, als die Forschungsweise Malinowskis aufkam, bereits nicht mehr über eigene
Kolonien verfügte. Außerdem waren die seit der Jahrhundertwende sich immer stärker
durchsetzenden Arbeiten der kulturhistorischen Richtung, welche die Ursprünge und die
Verbreitung vorwiegend von Bestandteilen des materiellen Kulturinventars zu erhellen
suchten, auch weit weniger als koloniales Instrument geeignet als Untersuchungen zu den
einheimischen Herrschaftsstrukturen. Zugespitzt formuliert, beschränkten sich die
‘Dienstleistungen’ der Völkerkunde auf das Formulieren von ethnologischen
Fragekatalogen und Sammlungsanleitungen275, mit denen versehen man die
ausreisenden Beamten, Offiziere und Kaufleute genügend vorbereitet glaubte. Die
272Junge, a.a.O., S. 16
273Kohl, Karl-Heinz: Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt am Main/New York
1987, S. 60
274Vgl. ebd. und Leclerc, Gérard: Anthropologie und Kolonialismus. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1976, S.
31-36
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Zielsetzung der Hamburger Südsee-Expedition von 1908 bis 1910276 macht zudem auch
deutlich, daß der Impuls zur Erforschung einer bestimmten Region eher von den
Wissenschaftlern und weniger von der Kolonialverwaltung ausging, und daß sich die
Völkerkundler um ihre und ihrer Wissenschaft Anerkennung bemühten, indem sie
‘praktische Aufgaben’ mit in ihr Forschungsprogramm aufnahmen. Gleichwohl gab es
keinen Mangel an Stimmen, die über die geringen ethnologischen Kenntnisse der
Offiziere und Kolonialbeamten klagten und diese Unkenntnis der Vorstellungswelt der
Einheimischen für militärische Konflikte und das Scheitern kolonisatorischer Pläne
verantwortlich machten.277 Als Weg, wie sich die Kolonialherren in ihrer Herrschaft über
die “grossen unüberlegten, dem ersten Impuls folgenden Kinder [...] mit einer gütigen,
aber gerechten, festen Hand”278 vertraut machen sollten, wurden Kurse in Völkerkunde
und besonders der Besuch der heimischen Völkerkundemuseen279 vorgeschlagen.
Ob allerdings der damalige Besucher solcher Institutionen mit dem erwünschten
Wissenszuwachs vom Platz gegangen ist, bleibt dahingestellt. Adolf Bastians eigene
Sammlungen, so schreibt Fritz Kramer, “waren in keiner Weise geeignet, dem
Kolonialismus zu dienen, wohl aber waren sie selbst ein Teil kolonialer Ausbeutung [...];
die ethnographischen Museen selbst sind das Ergebnis einer gigantischen
Plünderungsaktion.”280
Hier nun liegt der eigentliche Zusammenhang zwischen Ethnologie und Kolonialismus –
das ‘Ausräumen’ der fremden Kulturen, um für ein bestimmtes Forschungsziel das
Material zu beschaffen, das mit dem Argument gerechtfertigt wurde, es geschehe alles
275Westphal-Hellbusch, Sigrid: Hundert Jahre Ethnologie in Berlin [...]. In: Festschrift zum hundertjährigen
Bestehen der BGAEU. Band 1. Berlin 1969, S. 165.
276Vgl. Fischer (1981), a.a.O., S. 38-48
277Bastian (1899), a.a.O., S. 12
278Hagen, Bernhard: Unter den Papuas. Beobachtungen und Studien über Land und Leute, Thier- und
Pflanzenwelt in Kaiser-Wilhelms-Land. Wiesbaden 1899, S. 250
279Vgl. Thaulow, Gustav: Vortrag über die [...] Rathschläge für anthropologische Untersuchungen auf
Expeditionen der Marine. In: ZfE. 6/1874, S. 116; Martin, Rudolf: Anthropologie als Wissenschaft und
Lehrfach. Jena 1901, S. 26; Steinmetz, Sebald Richard: Ethnographische Fragesammlung zur
Erforschung des sozialen Lebens der Völker außerhalb des modernen europäisch-amerikanischen
Kulturkreises. Berlin 1906, S. 5; Ankermann, Bernhard: Anleitung Zum Ethnologischen Beobachten Und
Sammeln. Berlin 1914,S. 12
280Kramer, Fritz: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1977,
S. 77f.
80
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nur, um die authentischen Kulturgüter vor dem Kulturwandel in Sicherheit zu bringen. Daß
mit dem Beschaffen des Materials eben diesem Prozeß entschieden Vorschub geleistet
wurde und viele Kulturen so ihrer Identität beraubt wurden, vermochte man damals noch
nicht zu erkennen. Wie die Diskussion um die Rückgabe solchen Kulturgutes zeigt,
beginnt man allerdings aber auch heute erst allmählich, in dieser Frage umzudenken.
Bronislaw Malinowski bestimmte in der Einleitung zu den “Argonauten des westlichen
Pazifik” 1922 das oberste Ziel der Ethnologie darin, “den Standpunkt des Eingeborenen,
seinen Bezug zum Leben zu verstehen und sich seine Sicht seiner Welt vor Augen zu
führen.”281 Malinowskis Methode der “teilnehmenden Beobachtung” bereitete den Weg zu
einem tieferen Verständnis der Stammeskulturen, indem er selbst bizarr anmutende
Bräuche auf ihre Funktion innerhalb der fremden Gesellschaft zurückführte.
Verfolgt man das Ziel, die anderen aus dem heraus zu verstehen, wie sie es selbst sehen,
so stellt sich die Frage nach der Verwendbarkeit der Fotografie, gestern und heute.
Schließlich stellt gerade sie ein zerlegendes Beobachtungsmedium von besonderer
Schärfe dar. Auswege können nur in gemeinsamem Vorgehen mit den Besuchten, in der
gemeinsamen Nutzung des Bildmaterials und einem Prozeß des Austausches und der
Teilhabe gefunden werden. Erst in diesem Rahmen könnte die Fotografie ihr
aufklärerisches Potential realisieren.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in
elektronischen Systemen.
281Malinowski, Bronislaw: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und
Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. Frankfurt/M. 1979, S. 49
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