http://www.mediaculture-online.de Autor: Theye, Thomas. Titel: Der geraubte Schatten - Einführung. Quelle: Thomas Theye (Hrsg.): Der geraubte Schatten. Eine Weltreise im Spiegel der ethnographischen Photographie. München/Luzern 1989. S. 8-59. Verlag: C. J. Bucher Verlag. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Thomas Theye Der geraubte Schatten – Einführung Die Vermehrung des Wissens durch die Fotografie Es hatte zu den Intentionen der frühen Fotografie gehört, die Kenntnis möglichst vieler Menschen von fernen Weltgegenden zu vergrößern und die “Erkenntniss unseres eigenen Geschlechtes”1 zu vermehren. In diesem Sinne schrieb 1856 ein Anonymus im Journal of the Photographic Society: Dank und Lob der glorreichen Sonne, der wir diese neue Freude verdanken, eben der Sonne, von der Shakespeare sagt: ‘sie scheint über dem Schloß und wendet sich von der Hütte nicht ab: auf alles scheint sie gleich hinab!’ Und deswegen erscheinen Paläste und Hütten, Tempel und Ruinen, weite Landschaften und buschige Winkel und jede Abart der menschlichen Rasse aus allen Klimazonen, aus allen Gebieten vor unseren Augen. Alle Reize der Natur werden vor uns ausgebreitet, vom Indus bis zum Pol stehen wir in Verbindung mit Millionen von Menschen, die wir an den entferntesten Orten von Mutter Erde in all ihren Merkmalen und Erscheinungsformen unterscheiden können.2 Alexander von Humboldt erwähnte zwar in seinem “Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung” (1845-1862) nicht ausdrücklich die Fotografie, doch stellte für ihn die hierin liegende Fortentwicklung der Naturwissenschaft und Technik einen wichtigen Aspekt in der Geschichte der “Erkenntniß eines Naturganzen”3 dar. Die Fotografie ist dabei unschwer in die Reihe der Erfindungen einzuordnen, die Humboldt “neue Mittel 1 Fritsch, Gustav: Anthropologisch-Ethnologisches Album in Photographien von C. Dammann in Hamburg. Rezension. In: Zeitschrift für Ethnologie (abgekürzt ZfE). 6/ 1874, S. 69 2 Anonym: Photography and the Elder Fine Arts. In: Journal of the Photographic Society. 1856, S. 32. Zitiert nach Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie. Band 1. 1839-1912. München 1980, S. 40 3 Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845-1862). Band 2. Stuttgart 1869, S. 138 1 http://www.mediaculture-online.de sinnlicher Wahrnehmung”4 nennt und die für ihn “gleichsam die Erfindung neuer Organe [darstellen, Anm. d. Verf.], welche den Menschen mit den irdischen Gegenständen wie mit den fernsten Welträumen in näheren Verkehr bringen, welche die Beobachtungen schärfen und vervielfältigen.”5 Die Hilfsmittel dazu waren die Enzyklopädien, die illustrierten Zeitschriften, Zeitungen und eben auch die Fotografie. Sie kam dem Anliegen, die Bildung des einzelnen und sein Wissen von der Welt zu erweitern, in mehrfacher Hinsicht entgegen. Einmal, weil sie, insbesondere mit der Erfindung des Positiv-Negativ-Verfahrens, die Bildzeugnisse in vorher nie gekannter Weise verbreitete und ganz neuen Bevölkerungsschichten zugänglich machte, was Humboldt im oben erwähnten Zitat mit dem Wort “vervielfältigen” vor Augen hatte. Noch deutlicher wird dies von dem französischen Kunsthistoriker und Kulturpolitiker Leon de Laborde hervorgehoben, der “die Reproduktionsmittel als die Hilfstruppen der Demokratie schlechthin”6 bezeichnete. Zudem war die Fotografie in der Lage, aus bisher nicht oder nur kaum bekannten Weltgegenden zu berichten. Für Humboldt war dies der “nähere Verkehr”, an dem die Menschen nun teilhaben konnten. Aus der durch die Fotografie erweiterten Kenntnis fremder Länder glaubte man, ein stärkeres Zusammenrücken der verschiedenen Völker und ein tieferes Verständnis der Menschen füreinander erhoffen zu dürfen: “Rastlos fortschreitend wird jede Erfindung zu einer Brücke, welche die Annäherung der Nationen vermittelt”7, schrieb dazu Ludwig Schrank am Ende seines “Berichtes über die ‘Erste photographische Ausstellung in Wien’”, die 1864 stattfand. In ihr waren unter anderem auch die Fotografien zu sehen, die Carl Ritter von Scherzer von der Weltumsegelung der österreichischen Fregatte “Novara” 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Laborde, Leon de: Die Revolution der Reproduktionsmittel. In: Ders.: De l'union des arts et de l'industrie. Band 2. Paris 1859, S. 75-77. Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 97 7 Schrank, Ludwig: Bericht über die “Erste photographische Ausstellung in Wien”. In: Photographische Correspondenz. 1/1864, S. 88. 2 http://www.mediaculture-online.de in den Jahren 1857-1859 aus “Ceylon, Ostindien, Java, Südamerika und Australien”8 mitbrachte. Die wesentliche Neuerung der fotografischen Bilderzeugung lag jedoch in dem besonderen Verhältnis der Fotografie zur abgebildeten Wirklichkeit begründet, worauf der von Humboldt gebrauchte Begriff einer “geschärften Beobachtung” und das Sinnbild eines “neuen Organs” hinwiesen. Damit ist die Authentizität gemeint, welche die Fotografie in den Augen der Zeitgenossen vor allen anderen Bilddarstellungen auszeichnete. Sie allein konnte ein wahrheitsgetreues Abbild an die Stelle der Überlieferung setzen und somit den aufklärerischen Anspruch auf Entmythisierung der Welt verwirklichen. Im Rückblick auf diese Entzauberung der Fremde hieß es dazu 1864 im British Journal of Photography: Diese Zeiten werden zum Glück nicht wiederkehren, da die Ungebildeten, die nie gereist waren, glaubten, daß die Straßen Londons mit Gold gepflastert seien und daß ein König ein märchenhaftes Wesen sei, das aus der Ferne verehrt, aber niemals gesehen und gekannt werden dürfte. Die Verkehrsmittel haben die eine Illusion, die Fotografie hat die andere zerstört.9 Dies galt für die Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften und fremd erscheinenden Architekturen gleichermaßen. Für den auf archäologische Arbeiten spezialisierten Fotografen Franz Stolze lag der besondere Wert der Fotografie darin, daß nun “nichts mehr von der Willkür des Einzelnen abhängig ist; all die Fabeln von wunderschönen Männern und besonders Weibern, mit denen uns noch die Reisenden aus dem vorigen und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts beschenkten, sind vor der Photographie in Nichts zerflossen”.10 Bei der Verifizierung der alten und überlieferten Bilddarstellungen bemerkte man alsbald, wie unzuverlässig dieselben waren und wie weit sie von der nun fotografisch 8 Anonym: Katalog. Erste photographische Ausstellung in Wien, veranstaltet von der photographischen Gesellschaft [...] im Mai und Juni 1864. Wien 1864, S. 12. Auf den Seiten 12 bis 15 folgt eine genaue Aufstellung der von Scherzer beigesteuerten Exponate. Vgl. hierzu die Rezension Schranks, a.a.O., S. 31. Ein Teil dieser Aufnahmen wurde im “Anthropologischen Theil” des offiziellen wissenschaftlichen Reiseberichts “Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859 [...]. Dritte Abtheilung: Ethnographie [...], bearbeitet von Friedrich Müller, Wien 1868, veröffentlicht. Scherzers Urheberschaft an diesen Fotografien ist nicht mehr eindeutig festzustellen. Vgl. Mauracher, Michael: Blick in die Ferne. Frühe österreichische Expeditions- und Reisefotografie. In: Geschichte der Fotografie in Österreich. Band 1. 1983, S. 55. Wahrscheinlich sind eigene Aufnahmen durch gekaufte Studiofotografien ergänzt worden, damals allerdings kein ungewöhnlicher Vorgang. 9 Crawford, J.: The Future of Photography. In: The British Journal of Photography. 11/1864, S. 10f. Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 40f. 10 Stolze, Franz: Wie ich in Persien meine Apparate verpackte. In: Photographisches Wochenblatt. 7/1881, S. 59 3 http://www.mediaculture-online.de dokumentierten “Wirklichkeit” abwichen. Wenngleich uns heute dieser Fortschritt bisweilen auch nur als ein eher oberflächlicher bewußt ist – wissen wir doch um die unzähligen Möglichkeiten der Manipulation fotografischer Aufnahmen11 –, so bleibt doch der Fortschritt, den die Fotografie nicht nur für das vorige Jahrhundert brachte, unbestritten.12 Trotz der im vorigen Jahrhundert allerorten geäußerten Wünsche nach authentischen Abbildungen war die Vorliebe des interessierten Publikums für exotistische Inszenierungen fremder Kulturen keineswegs gebrochen. Im Gegenteil, fast scheint es, als lieferte erst die Fotografie die erforderlichen visuellen Versatzstücke für die Bildkompositionen der Holzschnitte in den seit der Jahrhundertmitte aufkommenden illustrierten Zeitschriften wie dem Pfennig Magazin (1833), der Leipziger Illustrirten Zeitung (1843) oder der Gartenlaube (1853). Dies stand in engem Zusammenhang mit der in jener Zeit gebräuchlichen Drucktechnik: Um Text und Bild gemeinsam zu drucken, mußten die Fotovorlagen damals noch von Stechern in eine Druckform aus Holz, Stahl oder Kupfer übertragen werden. Die heute geläufige Wiedergabe von Papierbild-Fotografien im gedruckten Buch auf dem direkten Wege der Autotypie wurde erst in den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt. Die Übertragung der Fotografie in eine von Hand geschnittene oder gestochene Druckform bot trotz der noch so authentischen Bildvorlage der subjektiven Gestaltungsmöglichkeit der Zeichner und Stecher allergrößten Spielraum. So konstatiert der Berliner Anatom und Anthropologe Robert Hartmann, selbst Maler und Zeichner, im Hinblick auf die in Holz geschnittenen Illustrationen des 1868 erschienenen Werkes “Natural History of Man”13 von Reverend John George Wood, den “zum Theil sehr guten Vorrath an Photographien”14, bemängelt aber, daß bei der Herstellung der Holzschnitte 11 Vgl. Steiger, Ricabeth: Fotos schaffen neue Bilder. Über die Nützlichkeit der Fotografie in der Ethnologie. In: Brauen, Martin (Hrsg.): Fremden-Bilder. Zürich 1982, S. 8092 12 Vgl. Kemp, a.a.O., siehe Anm. 6, S. 39 13 Wood, John George: Natural History of Man; being an account of the manners and customs of the uncivilised races of man. 2 Bände. London 1868, 1870., Hartmann bezieht sich hier im besonderen auf den ersten Band “Africa”. 14 Hartmann, Robert: Die Nigritier. Eine Anthropologisch-Ethnologische Monographie. Teil 1. Berlin 1876. Erschienen als Supplement der ZfE. 11/1879, S. 110 4 http://www.mediaculture-online.de dieser Fundus “nicht immer mit zu wünschender Sorgfalt benutzt ist”15, was er durch Vergleich mit den Originalfotografien festgestellt hatte. Das Problem der fotografischen Wahrheitstreue verlagerte sich auf das Feld der Bildvervielfältigung. Ein Beispiel aus der Gartenlaube 1884 mag dies noch verdeutlichen. Wilhelm Gentz, ein seinerzeit renommierter Zeichner und Maler orientalischer Szenen, stellte in einer Zeichnung “Krieger des Mahdi”16 dar, die in der Gartenlaube als Holzschnitt wiedergegeben ist. Diese Abbildung sollte einen Text illustrieren, der unter dem Titel “Bilder aus dem Sudan”17 über die kriegerischen Ereignisse im Sudan berichtete. Im Jahre 1881 war dort ein Volksaufstand unter Führung von Mohammed Achmed, eines Derwischs des Samariya-Ordens aus dem ägyptischen Sudan, des “Mahdi”, arabisch der “Geleitete”18, gegen die Herrschaft Ägyptens ausgebrochen. In gleicher Weise sozial, politisch wie auch religiös begründet, richtete sich diese geschwind um sich greifende Erhebung gegen die ägyptisch-britische Herrschaft und Unterdrückung. Besonderer Widerstand regte sich gegen das von den Briten durchgesetzte Verbot des Sklavenhandels, von dem sich die Hirtenvölker in ihrer Lebensgrundlage materiell wie spirituell bedroht fühlten. Diese Komponenten verschmolzen mit der islamischen Volkssehnsucht nach einem Erretter aus der Not, eben des Mahdi.19 Die Rebellen konnten sich lange gegen die europäischen Truppen behaupten. Auch der legendäre und bei der Niederschlagung des chinesischen Taiping-Aufstandes in den 60er Jahren “immer siegreiche” General Charles Gordon, geradezu ein Heros der bürgerlichen Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts wie etwa David Livingstone oder Henry Morton Stanley, konnte trotz anfänglicher Erfolge das Blatt nicht wenden und wurde 1885 von Truppen des Mahdi getötet. Erst 1898, drei Jahr nach dem Tode des Mahdi, gelang den Briten die Niederschlagung des Aufstandes bei Omdurman. Die Truppen des Mahdi galten als tolle und wildgewordene islamische Fanatiker, die die in europäischen Augen legitime Vorherrschaft des Westens bedrohten. Der Chronist der Gartenlaube bezeichnete sie als “entfesselte Horden, die man noch dazu durch die Aussicht auf den 15 Ebd. 16 In: Die Gartenlaube. 32/1884, Nr. 13, S.221 17 Ebeling, Adolf: Bilder aus dem Sudan. In: Die Gartenlaube. 32/1884, Nr. 13, S. 216-218 18 Beuchelt, Eno: Die Afrikaner und ihre Kulturen. Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1981, S. 409 19 Vgl. ebd. 5 http://www.mediaculture-online.de Paradieseslohn im Jenseits fanatisirt hat, [und, Anm. d. Verf.] die sich mit einer an Wahnsinn grenzenden Todesverachtung dem Feuer der Feinde entgegenstellten”.20 Die westliche Presse entwarf in ihren Berichten das Bild einer furchterweckenden Schreckensherrschaft des Mahdi, der schleunigst einer “Abreibung”, wie man damals zu Kolonialkriegen sagte, bedurfte, um dem Guten und Gerechten wieder zur Einsetzung zu verhelfen. Die Briten verhielten sich in der Bekämpfung des Aufstandes zunächst eher zögerlich, so daß die Abbildung der Gartenlaube auch im Kontext der öffentlichen Meinung zu sehen ist, die ein rasches militärisches Eingreifen forderte. Text und Bild zielen gleichermaßen auf die Schilderung der Bedrohlichkeit und großen Gefahr, die von den Truppen des Mahdi ausgingen. 20 Ebeling, a.a.O., S. 217 6 http://www.mediaculture-online.de “Krieger des Mahdi [Azande]. Nach einer Originalzeichnung von Wilhelm Genz”. Holzschnitt aus: Die Gartenlaube, 32, 1884, Nr. 13, S. 221. Die Abbildung wird wesentlich durch die beiden stilisierten Lanzen gegliedert, die sie in drei etwa gleiche Teile einteilen. Wichtigstes Bildelement jedes dieser drei Teile ist jeweils ein Krieger in voller Bewaffnung, die ebenfalls die Vertikale (Lanzen) betont. Neben den Lanzen sind Schilde, Schwerter, Dolche, Wurfmesser, Pfeile und Bögen, aber nur wenige Feuerwaffen zu sehen. Mit der Bemerkung “wie vor tausend Jahren”21 unterstreicht der Text noch die Rückständigkeit der Bewaffnung, das “Handgemachte” des Krieges im 21 Ebd. 7 http://www.mediaculture-online.de Gegensatz zu den modernen Distanzwaffen der europäischen Kriegsmaschinerie. Ganz im Gegensatz zum Bild weist der Text jedoch an anderer Stelle auch auf die moderne Bewaffnung einiger Truppenteile des Mahdi22 hin, um deren Bedrohlichkeit für die westlichen Interessen noch hervorzuheben. “Niamniam Krieger”. Holzschnitt aus: Georg Schweinfurth: Im Herzen von Afrika [...]. Um den “wilden Horden” des Mahdi bildkräftige Gestalt zu geben, hatte sich Gentz vermutlich in der Reiseliteratur seiner Tage über Afrika umgesehen. Als wichtigste Quelle muß ihm dabei wohl Georg Schweinfurths zweibändiger Reisebericht “Im Herzen von Afrika [...]”23 aus dem Jahre 1874 gedient haben, denn den darin enthaltenen Illustrationen in Holzschnitten sind gleich mehrere Bildbestandteile entlehnt. Sie entstammen demjenigen Teil des Reiseberichtes, der sich mit den von Schweinfurth so genannten “Niam niam” beschäftigt. Mit dieser Bezeichnung sind die Azande oder Sande gemeint, ein Volk von Savannenbauern aus der Zentralafrikanischen Provinz, in der Gegend der Flüsse Bomu und Uelle im Norden des heutigen Zaire. Die Bezeichnung “Niam niam” stammt aus der Sprache der Dinka, einem Volksstamm des südlichen Sudan, und meint 22 Vgl. ebd., S. 218 23 Schweinfurth, Georg: Im Herzen vor Afrika. Reisen und Entdeckungen im Centralen Aequatorial-Afrika während der Jahre 1868 bis 1871. 2 Bände. Leipzig/London 1874 8 http://www.mediaculture-online.de eigentlich nur “Fresser, Vielfresser”24, spielt hier aber auf die durch die Nachbarvölker überlieferten kannibalistischen Bräuche der Azande an. “Niamniamweiler am Diamvonū”. Holzschnitt aus: Georg Schweinfurth: Im Herzen von Afrika [...]. Band 1, Leipzig/London 1874, S. 556; Abb. Links, Band 2, S. 11. Die Figur des Kriegers mit Lanze und Wurfmesser, dem “Trümbasch”, aus dem linken Bilddrittel bei Gentz, findet sich bei Schweinfurth auf S. 11 des zweiten Bandes mit dem Titel “Niamniamkrieger”. Schweinfurth, der als einer der ersten Europäer das Innere Afrikas in den Jahren 1868 bis 1871 bereiste, nimmt diese Darstellung zum Anlaß, das Wesen der Azande-Krieger zu charakterisieren: “Vergegenwärtigen wir uns [...] die äußere Erscheinung des Niamniam, wie er im seltsamen Waffenschmuck, die Lanze in der einen, den mit dem Kreuze gezierten Schild und die Zickzackwaffe in der andern, den Dolch im Gürtel, um die Hüften mit langschwänzigen Fellen geschürzt und geschmückt mit den Trophäen, die er der Jagd- und Kriegsbeute entnommen, mit den aufgereihten Zähnen der Erschlagenen geziert auf Brust und Stirn, in herausfordernder Stellung dem Fremden entgegentritt, wie die langen Haarflechten ihm wild um Hals und Schultern fallen, wie er bei weit aufgerissenen Augen die dicken Brauen furcht, im Munde die blendende Reihe spitzer Krokodilzähne hervorleuchten lässt – so haben wir in seinem ganzen Wesen alle Attribute einer ungefesselten Wildheit, so recht entsprechend den Vorstellungen, die 9 http://www.mediaculture-online.de unsere Phantasie an die Person eines echten Sohnes afrikanischer Wildheit zu knüpfen vermag [...].”25 Schweinfurth galten die Azande als Anthropophagen (Menschenfresser), “und wo sie Anthropofagen sind, sind sie es ganz und ohne Scheu, um jeden Preis und unter jeder Bedingung. Die Anthropofagen rühmen sich selbst vor aller Welt ihrer wilden Gier, tragen voll Ostentation die Zähne der von ihnen Verspeisten, auf Schnüre gereiht, wie Glasperlen am Halse und schmücken die ursprünglich nur zum Aufhängen von Jagdtrophäen bestimmten Pfähle bei den Wohnungen mit Schädeln ihrer Opfer”.26 Zwar wurde Schweinfurth selbst nie Zeuge kannibalistischer Praktiken und weist seine Schilderung der Lebensgewohnheiten der Azande auch nicht durch kenntlich gemachte Aussagen von Einwohnern aus. Dem Anthropologen und unermüdlichen Sammler menschlicher Gebeine war der Anblick der von ihm als “Votivpfähle”27 bezeichneten Trophäenbäume Beweis genug. Neben verschiedenen Tierschädeln waren sie “teils in kompletten, teils in nur fragmentarischen Stücken, Weihnachtsbäumen nicht unähnlich, aber mit Geschenken nicht für Kinder, sondern für vergleichende Anatomen reichlich behangen”.28 Schweinfurth gibt einen solchen mit Schädeln behängten Baum oder Strauch auf Seite 556 des ersten Bandes in seiner Darstellung eines “Niamniam-Weilers am Diamwoū” und auf Tafel II zu Seite 12 des zweiten Bandes wieder. Bei Gentz findet sich im Holzschnitt der Gartenlaube dieses Bildelement als Darstellung eines vertrockneten Astes im oberen Teil des rechten Bilddrittels wieder, der mit Schädeln behangen ist. Schweinfurths Tafel II zu Seite 12 des zweiten Bandes, “Junge Niamniam in Kriegsausrüstung”, ist noch ein 25 Ebd., Band2, S. 12f. 26 Ebd., Band 2, S. 19 27 Ebd., Band 1, S. 556. Die von Schweinfurth so genannten “Votivpfähle” dienten zur Anbringung von “Votivgaben”. Von lateinisch “votivus”, “geweiht”, stammend, werden damit im Volksglauben Opfergaben an höhere Mächte bezeichnet, “sei es, um sie zu Erfüllung einer Bitte zu bestimmen, sei es als Dankerweisung für gewährte Hilfe oder endlich infolge eines Gelübdes (ex voto). Bächtold-Stäubli, Hanns/Hoffmann-Krayer, Eduard (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, abgekürzt HddA. Band 8 (1937). Berlin 1987, S. 1760. Der Votivpfahl oder -baum, in diesem Falle ein Baum, Strauch oder Pfahl, befindet sich an einer spirituell besonders wirksamen Stelle. Die an ihm aufgehängten Schädel sollen vermutlich Opfergaben im Sinne eines “stellvertretenden Opfers” (ebd., S. 1761) sein, um Herrschaft über Feinde zu erlangen. Dies ist in zweifacher Hinsicht zu sehen: Zum einen steht die Trophäe für den tatsächlich besiegten Feind und zum anderen gibt der Besitz dieses Körperteiles dem Sieger die Verfügungsgewalt auch über die Seele seines Feindes. 28 Schweinfurth, a.a.O., Band 1, S. 556 10 http://www.mediaculture-online.de weiterer Bildteil entlehnt, nämlich der stehende Krieger, der in der Mitte des rechten Bilddrittels abgebildet ist. Interessanterweise griff bereits Schweinfurth in der Holzschnittdarstellung dieser beiden Krieger seiner Tafel auf zwei Fotografien mit dem Titel: “O.(tto) Schoefft, ‘Photographe de la cour’: Amber, ein Sandeh (Niam niam), Kairo 1873”29 zurück. Diese Fotografien zeigen jeweils einen unbekleideten Mann, der einen Schild und eine Lanze als Waffen mit sich führt. Seine äußere Erscheinung deckt sich in keinem Punkt mit der von Schweinfurth gegebenen Beschreibung: Die Haare sind nicht zu der sonst üblichen Tracht geflochten, es sind keine Ziernarben oder Tätowierungen zu erkennen und es fehlt dem Abgebildeten auch an den so malerisch vom Gürtel herabhängenden Fellen. Besonders auffällig weicht die Form des Schildes von derjenigen ab, die Schweinfurth als typisch für die Azande beschreibt. Auch Körperhaltung und Gesichtsausdruck deuten in keiner Weise auf die so eindringlich geschilderte Gefährlichkeit dieses ‘Wilden’ hin. “Junge Niamniam In Kriegsausrüstung [Azande]”. Holzschnitt aus: G. Schweinfurth: Im Herzen von Afrika [...]. Bd. 2, Leipzig 1874. Die einzige Übereinstimmung mit Schweinfurths Bericht liegt in den menschlichen Knochen und dem Schädel. Beides soll die Neigung des Dargestellten zur Anthropophagie belegen. Dieses Bildattribut wurde schon in den frühen Berichten über die 11 http://www.mediaculture-online.de Entdeckungsfahrten in die Neue Welt verwendet. Der abgeschlagene Menschenkopf oder die Schädel stellten damals stets die Insignien des Kannibalismus dar. Beide Fotografien fanden sich in einem größeren Konvolut der von Schweinfurth auf seinen Reisen erworbenen Fotografien im Berliner Museum für Völkerkunde. Vermutlich sind sie nach Schweinfurths Rückkehr aus Zentralafrika 1873 in Kairo entstanden, wo Schweinfurth mit Unterbrechungen dreizehn Jahre seines Lebens verbrachte. “Amber”, so der Name des abgebildeten Azande, begleitete Schweinfurth auf seiner Reise zu den Azande als Dolmetscher und wurde wahrscheinlich von ihm bei arabischen Sklavenhändlern eingetauscht. Schweinfurth ließ ihn nach Beendigung der Expedition 1871 bei einem befreundeten Arzt in Kairo zurück.30 Es ist zu vermuten, daß sich der Fotograf einiger zusammengesuchter Requisiten bediente, um so der von Schweinfurth gegebenen Beschreibung der Azande nahezukommen. Damit dem Krieger trotz seiner augenscheinlichen Friedfertigkeit doch etwas ‘kannibalische Wildheit’ anhaftete, wurden ihm vermutlich die menschlichen Gebeine zur Seite gegeben. Die beiden Fotografien Ambers dienten dem Holzschneider als Vorlagen zu seiner Arbeit. Die Körperhaltungen, die Amber jeweils in den Fotografien einnahm, sind auch auf dem Holzschnitt Schweinfurths wiederzufinden. Beide Fotografien wurden in einem Holzschnitt wiedergegeben, eine damals durchaus gängige Methode, um die Dramatik des Bildes zu steigern. Hier stimmen nun die äußere Erscheinung und die Bewaffnung mit der Beschreibung, wie sie Schweinfurth im Text gibt, überein. Auch führt der linke AzandeKrieger bei Schweinfurth ein “Trumbasch” genanntes Wurfmesser mit sich, das jener zu den charakteristischen Waffen der Azande zählt. Einige dieser Waffen sind bei Gentz im oberen Teil des mittleren Bilddrittels wiederzuerkennen, wobei auch hier auf Schweinfurths Werk31 zurückgegriffen wurde. Allerdings ist auch die Darstellung der beiden Azande-Krieger im Holzschnitt bei Schweinfurth noch nicht dazu angetan, beim Betrachter jenen Eindruck von “thierischer Wildheit [und, Anm. d. Verf.] kriegerischer Entschlossenheit”32 hervorzurufen, den der Text forderte. So wurde in die Montage der beiden Fotografien noch ein drittes Motiv eingefügt, 30 Vgl. Schweinfurth, a.a.O., Band 2, S. 507f. 31 Vgl. ebd., S. 10f. 32 Ebd., S. 5 12 http://www.mediaculture-online.de ein Strauch, der wohl einen Trophäenbaum darstellen sollte. An seinen Ästen sind unter anderem auch menschliche Schädel zu erkennen. Wiederum wird also durch das gleiche Zeichen die beabsichtigte Information über die kannibalistischen Praktiken der Azande übermittelt. Warum griff Gentz nun aber ausgerechnet auf die Bilddarstellungen der Azande in Schweinfurths Reisebericht zurück, obwohl der Text des Artikels der Gartenlaube die Azande als Mitstreiter des Mahdi gar nicht erwähnte? Dieser beschreibt vielmehr in der Darstellung der Kampfesweise die Truppen des Mahdi als grausame, entfesselte ‘Wilde’, welche “fast durchweg [...] die Leichen der gefallenen Feinde [und, Anm. d. Verf.] leider auch oft die blos Schwerverwundeten zu verstümmeln pflegen; sie schmücken sich sogar selbst mit einzelnen Gliedertheilen und hängen auch wohl die Schädel neben einem Heiligengrabe auf, wenn sich dort zufällig ein Baum vorfindet”.33 Diese Rohheit nimmt bei Gentz im rechten Bilddrittel durch die über den Erdboden verstreuten, abgehauenen Köpfe und den mit Schädeln geschmückten Ast deutlich Gestalt an. Von solch ruchloser Grausamkeit schien es in der Vorstellungswelt der Zeitgenossen nicht mehr weit zum Kannibalismus und zur Menschenfresserei, also der Negation jedweder Regeln menschlichen Zusammenlebens. Der Mahdi und seine Truppen erscheinen somit nicht mehr als anzuerkennender, “ritterlicher” Feind, dessen Motive den Zeitgenossen erklärlich waren, ja nicht einmal mehr als menschliches Wesen, sondern als bloße Verkörperung des Wilden und Bestialischen. Gentz ignoriert, um diesen Eindruck zu verstärken, auch die erbeutete und teilweise moderne europäische Ausrüstung der Truppen des Mahdi und rückt stattdessen das “Handgemachte” dieses Krieges in den Vordergrund. Um die Krieger des Mahdi als grausame Bestien und Menschenfresser zu charakterisieren, fügten sich die von Schweinfurth gegebenen Darstellungen der Azande genau in die Vorstellungswelt von Gentz. Wie das Beispiel von den Azande in der Gartenlaube zeigt, vermochte man auch mit Hilfe der Fotografie die westlichen Bildwünsche und -vorstellungen durch das “wahrheitsgetreue” Medium zu verwirklichen. Was dem vorigen Jahrhundert die Überzeichnung, Dramatisierung und Montage bei der Übertragung der Fotografien in den 33 Ebeling, a.a.O., S. 218 und vgl. Anm. 27 13 http://www.mediaculture-online.de Holzschnitt war, erlebte in unserem Jahrhundert seine Wiederkehr, wenn nicht gar Fortführung in Ausschnittvergrößerungen, Retusche oder Fotomontage, wie sie insbesondere in der Gestaltung der mit gedruckten Fotografien illustrierten Zeitschriften der zwanziger und dreißiger Jahre üblich wurden. Die Wahrheit der Fotografie Die “unnachahmliche Treue”34 und der mechanische Charakter des neuen Mediums Fotografie nährten von Beginn an die Hoffnung, die Fotografie werde zu einer unverfälschten Darstellung der Wirklichkeit verhelfen. Die Wirklichkeit komme gleichsam selbst und ohne Einwirkung des Menschen “zu Wort”. So wurde in dem Dekret vom 15. Juni 1839, mit dem sich Frankreich zur Zahlung einer Entschädigung an die Erfinder Louis Jacques Mandé Daguerre und den Sohn Joseph Nicéphore Niépces verpflichtete, die Entstehung der Fotografie folgendermaßen geschildert: “[...] die von der Natur selbst abgedruckten Bilder, die durch die Macht des Lichtes entstandenen Zeichnungen von Gegenständen, die mathematisch genau ihre Formen bis in die kleinsten Details behalten, sind ein wahrhaftes Faksimile und entstehen, indem man sich einige Augenblicke vor dem kompliziertesten Monumente, vor der ausgebreitetsten Landschaft aufhält”.35 Die Beobachtung, daß die auf einer Fotografie abgebildeten Gegenstände selbst bei starker Vergrößerung, wie es schon im oben erwähnten Dekret heißt, “mathematisch genau ihre Formen bis in die kleinsten Details behalten”, beruht nach Heinz Buddemeier36 darauf, daß Fotografien im Gegensatz zu Gemälden, die sich in Pinselstriche und Farbpartikel auflösen, selbst durch die Lupe besehen keine Spuren ihres Herstellungsprozesses aufweisen. “Wie man die Fotografien auch betrachtet, sie präsentieren immer nur die dargestellte Sache. Genau dies gab den Zeitgenossen das Gefühl, der Wirklichkeit endlich habhaft geworden zu sein.”37 34 Humboldt, Alexander von: Brief an die Herzogin Friederike von Anhalt-Dessau vom 7. Januar 1839. Zitiert nach Neite, Werner: Die frühen Jahre der Photographie – Dokumentarisches zu den Anfängen in Deutschland. In: “In unnachahmlicher Treue”. Ausstellungskatalog. Köln 1979, S. 28 35 Auszug aus dem Dekret vom 15. Juni 1839. Zitiert nach Stenger, Erich: Die Photographie in Kultur und Technik. Leipzig 1938, S.95 36 Buddemeier, Heinz: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. München 1970,S.81. 37 Buddemeier, a.a.O., S. 81 14 http://www.mediaculture-online.de Spuren dieser Auffassung, mit einer Fotografie auch ein Stück Realität nach Hause tragen zu können, finden sich ebenfalls in den verschiedenen Bezeichnungen, die man der Fotografie und dem Fotografieren im 19. Jahrhundert gab: Da ist zunächst der Begriff des Typus, der im Wort Daguerreotypie enthalten ist. Ursprünglich vom Griechischen typos stammend, das heißt Schlag, Gepräge, Form, Gestalt, Abbild, Vorbild, Muster, Modell, wurde das Wort über den lateinischen Begriff Typus seit dem 18. Jahrhundert auch in unserer Sprache geläufig. Als Stammwort wird das griechische týptein, schlagen, hauen, angenommen38, was noch in den Bedeutungen “Schlag, das durch einen Schlag hervorgebrachte, die Spur eines Eindrucks”39 deutlich wird. Der fotografische Prozeß wäre danach, vergleichbar der Prägung von Münzen oder dem Abdruck einer Gipsmarke, so vorzustellen, daß die Wirklichkeit einen Schlag, einen Eindruck oder Abdruck in der fotografischen Schicht hinterläßt. Und eben in diesem Sinne haben die Zeitgenossen auch das umständliche und lange Wort Daguerreotypie abgekürzt und stattdessen Typ verwendet.40 Als Verb war typen, studentisch-salopp für fotografieren, noch bis in unser Jahrhundert hinein gebräuchlich41 und verdeutlichte ebenfalls die Vorstellung von der Fotografie als einem Eindruck, Abguß oder Faksimile von der Wirklichkeit. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der Fotografie als eines “wahren Abbildes”42, so der Bericht des französischen Physikers und Chemikers Joseph-Louis Gay-Lussac an die Pairs-Kammer (1839), verlieren die Bezeichnungen, die im vorigen Jahrhundert zur Beschreibung dieses gänzlich neuen Mediums üblich waren, viel von ihrer heutigen Kuriosität. So schrieb der Ethnologe Paul Ehrenreich in einem Brief aus Rio de Janeiro vom 16.7.1885, dem er Fotografien beigefügt hatte: “Ich hoffe, dass meine Photographien Interesse erregen werden. Ich glaube der erste zu sein, der völlig nackte wilde Botocuden im Urwald selbst abgenommen hat.”43 Im Verb abnehmen wird nochmals die Nähe zum 38 Grebe, Paul (Bearb.): Duden. Band 7. Etymologie. Darmstadt 1963, S. 726 39 Schulz, Hans (Begr.): Deutsches Fremdwörterbuch. Band 5. Berlin/New York 1981, S.546 40 Grimm, Jacob und Wilhelm (Begr.): Wörterbuch der deutschen Sprache. Band 11, 1. 2. Leipzig 1952, S. 1957 41 Weigand, Friedrich (Bearb.): Deutsches Wörterbuch. Gießen 51910. Reprint: Berlin 1968, S. 1092. Vgl. Grimm, a.a.O., S. 1958 42 Gay-Lussac, Joseph-Louis: o.T. Ansprache vor der “Kammer der Adligen” am 30. Juli 1839. Zitiert nach Weibel, Peter: Foto-Fake. In: Camera Austria. 4/1980, S. 92 43 Ehrenreich, Paul: Brief an den Vorsitzenden d. d. Rio de Janeiro, 16. Juli (1885), betreffend die brasilianischen Wilden. In: Verh. der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und 15 http://www.mediaculture-online.de Abguß und zur Maske deutlich, in die sich ebenfalls die Spuren des Abgebildeten eindrücken44 und einprägen. Im englischen Ausdruck to take a photograph, das wörtlich übersetzt gleichfalls das Nehmen, Abnehmen einer Fotografie bedeutet, werden diese Vorstellungen von der Fotografie als identischer Kopie oder gar eines Teils der Wirklichkeit auch heute noch bewahrt. Susan Sontag hat auf den Doppelcharakter der Fotografie hingewiesen, der zum einen auf der Interpretationsmöglichkeit des Wirklichen beruht. Zum anderen ist jede Fotografie aber auch “eine Spur, etwas wie eine Schablone des Wirklichen, wie ein Fußabdruck oder eine Totenmaske. Während ein gemaltes Bild – selbst wenn es den fotografischen Normen von Ähnlichkeit entspricht – niemals mehr als eine Interpretation bietet, ist eine Fotografie nie weniger als die Aufzeichnung einer Emanation (Lichtwellen, die von Gegenständen reflektiert werden) – eine materielle Spur ihres Gegenstandes wie es ein Gemälde niemals sein kann.”45 Diese Eigenschaft machte die Fotografie in den Augen des vorigen Jahrhunderts zum wissenschaftlichen Beweis. Sie vermochte es, eine vorher gefaßte Hypothese im Bild zu verifizieren oder zu widerlegen. So unternahm zum Beispiel der Konstanzer Fotograf August Salzmann 1854 im Auftrage des Pariser Ministère de l‘instruction publique eine Studienreise nach Palästina. Dort fotografierte er zahlreiche Baudenkmäler des Heiligen Landes und verhalf mit diesen Abbildungen den Forschungserkenntnissen des Altertumsforschers und Orientalisten Felix de Saulcy über das Alter jener Bauwerke zum Durchbruch. Dieser hatte 1850 Palästina bereist und war jedoch in seinen Zeichnungen und Plänen stark angezweifelt worden. Aufgrund der später von Salzmann vorgelegten fotografischen Beweisstücke schrieb de Saulcy dann triumphierend: “Heute ist nun, dank der Photographie, die Reihe an mich gekommen. [...] Herr Salzmann war bemüht, an Ort und Stelle alle meine Behauptungen zu bewahrheiten, mit Hilfe eines sehr geschickten Zeichners, den zu beargwöhnen schwer fallen dürfte, nämlich der Sonne!”46 Die Fotografien galten den Amateuren wie den Urgeschichte, abgekürzt BGAEU. In: ZfE. 17/1885, S. 376 44 Das Wort “eindrücken” hatte schon Goethe benutzt, um das gezielte Speichern der in Italien gesehenen Bilder zu verdeutlichen: “Ich halte die Augen nur immer offen und drücke mir die Gegenstände recht ein”, schreibt er am 27. Oktober 1786 auf der italienischen Reise. 45 Sontag, Susan: Über Fotografie. München/Wien 1978, S. 142 46 Saulcy, Felix de: Besprechung von August Salzmanns Werk “Jérusalem [...]”. Lille 1855. In: Constitutionel vom 24. März 1855, wiederholt im Bulletin de la Société Française de la Photographie. Paris 1/ o. J., S. 16 http://www.mediaculture-online.de Wissenschaftlern als “factische Documente, welche jeden Zweifel an die Wahrheit der Darstellung ausschließen”.47 Gegen die Arbeit des Fotografen, so Franz Stolze in einem Bericht über seine archäologische Expedition nach Persepolis in den Jahren von 1875 bis 1878 “giebt es keine Möglichkeit der Appellation, hier kann nicht schön gefärbt, hier kann Nichts übersehen werden; das Resultat ist da, und jede Einrede schweigt”.48 Auch im Hinblick auf anthropologische und ethnographische Forschungsreisen kommt Paul Güssfeldt 1879 in seinem Bericht über die Loango-Expedition von 1873 bis 1876 in Abwägung der beiden Aufzeichnungsverfahren, der Zeichnung oder der Fotografie, zu dem Schluß: “Die Zeichnung vermag sich selten vom Idealisiren ganz frei zu halten, und wenn sie es wirklich thut, so kann sich doch der Beschauer nicht ganz der Zweifel erwehren, ob wohl die Natur treu nachgebildet sei; er wird sich bei Allem, was ihm auf einem Bilde fremdartig erscheint, doch nur schwer überzeugen lassen, dass dies getreu der Natur abgelauscht sei. Anders bei der Photographie, die unbeirrt von den Regeln der Schönheit und Aesthetik Vorzüge und Fehler objectiv reproducirt und deshalb am geeignetsten erscheint, klare Anschauungen über fremde Gegenden zu erwecken.”49 Solche Gedanken zur Fotografie machen zugleich die Zeitströmung deutlich, die unter dem Leitmotiv “Wir wollen nicht glauben, sondern schauen”50 versuchte, das Unbekannte durch Beobachten und Inventarisieren, durch Zergliedern und Vermessen zu durchdringen. Von den Reisenden wurde keine Darstellung theoretischer Zusammenhänge erwartet. Vielmehr sollten dem Leser die einzelnen Fakten klar vor Augen geführt werden, so als könne er selbst an die Stelle des Reisenden treten. Dadurch sollte er in die Lage versetzt werden, selbst seine Schlüsse aus dem Material zu ziehen. In dem für die deutschen Forschungsreisenden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblichen, 1875 von Georg Neumayer herausgegebenen Handbuch “Anleitung zu Wissenschaftlichen Beobachtungen Auf Reisen” wird dieser dem Positivismus Auguste 84. Zitiert nach Baier, Wolfgang: Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie. München 1980, S. 453 47 Pizzighelli, Giuseppo: Handbuch der Photographie für Amateure und Touristen. Band 2. Die Anwendung der Photographie für Amateure und Touristen. Halle a. S. 1887, S.147 48 Stolze, a.a.O., S. 413 49 Güssfeldt, Paul: Die Loango-Expedition. Leipzig 1879, S. 63f. 50 Meitzen, August: Politische Geographie und Statistik. In: Neumayer, Georg (Hrsg.): Anleitung zu Wissenschaftlichen Beobachtungen Auf Reisen. Berlin 1875, S. 154 17 http://www.mediaculture-online.de Comtes entlehnte Forschungsansatz vielfach betont. Im Kapitel über “Politische Geographie und Statistik” von August Meitzen heißt es: “Er, der selbst als Fremder mit fremden Augen sieht, beabsichtigt Anderen neue Vorstellungen zu geben oder alte zu berichtigen. Diesen Zweck, dessen muss er sich bewusst bleiben, vermag eine aus der Gesammtheit der Eindrücke gewonnene Ueberzeugung oder ein souverain ausgesprochenes Urtheil nicht zu erfüllen. Vielmehr müssen wir wünschen, dass er verstehe, die einzelnen Elemente, die sein Urtheil vor ihm selbst begründen, auch uns gegenüber auszudrücken [...]. Der Erfolg liegt wesentlich in der richtigen Angabe der bestimmenden Gründe, statt der, wenn auch noch so wohl durchdachten Abstraction des subjectiven Endurtheils. [...] Der Reisende möge uns genau sagen, was er sieht, wir werden selbst ahnen, was daraus folgt.”51 Comte hatte die “positiven Forschungen”52 ausdrücklich auf das Tatsächliche und die “systematische Beurteilung dessen, was ist”53, beschränkt und darauf verzichtet, den “ersten Ursprung und letztliche Bestimmung”54 eines Untersuchungsgegenstandes zu ergründen. Stattdessen forderte Comte die “ständige Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung [...] als erste Grundbedingung jeder gesunden wissenschaftlichen Theorie”.55 In dieses Konzept fügte sich die Fotografie nahtlos ein. Sie vermochte die vorgefundenen Welten in eine unendliche Vielzahl von Ausschnitten und Ansichten zu zerlegen, ja geradezu zu atomisieren. Dies waren dann die “einzelnen Elemente”, die Meitzen vom Forschungsreisenden vorgeführt zu bekommen erwartete. Die der Fotografie innewohnende Möglichkeit, alle im Bildausschnitt befindlichen Details durch die fotochemische Fixierung der von ihnen reflektierten Lichtstrahlen gleichermaßen abzubilden, stellte in den Anfangsjahren der Fotografie eine kaum versiegende Quelle der Neugierde dar: Man betrachtete die Fotografien mit dem Vergrößerungsglas, zählte Blätter und Ziegelsteine und begann so, ganz wie Humboldt es geschrieben hatte, “mit 51 Ebd., Hervorhebung durch den Verf. 52 Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus (Paris 1844). Hrsg. v. Iring Fetscher. Hamburg 1956, S. 29 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 33 18 http://www.mediaculture-online.de den irdischen Gegenständen wie mit den fernsten Welträumen in näheren Verkehr”56 zu treten, kurz, seine Welt neu und detailliert zu entdecken. Fenster zur Zeit Fotografien fixieren nicht nur einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt, sondern auch die Zeit. Sie stellen den Augenblick still. Die Fotografie ergreift gewissermaßen, wie Robert Castel schreibt, “rationale Vorsichtsmaßregeln gegen das Entschwinden der Zeit, indem sie dieser ihre Spuren entreißt”.57 In demselben Moment, in dem der Auslöser betätigt wird, ist das Geschehene vorbei, wird es bereits zur Vergangenheit. Der verflossene Moment kann nun, im Foto konserviert, wieder und wieder neu betrachtet werden – fast unendlich oft, wenn nicht auch die Vergänglichkeit fotografischen Materials auf einer anderen Zeitebene dem Aufbewahren von Eindrücken ein Ende setzen würde. Die Fotografie erlaubt uns so Blicke auf längst vergangene Zeiten, Situationen und Ereignisse. Sie zeigt uns Menschen und dingliche Welten, wie sie heute nicht mehr leben, bestehen oder verwendet werden. Indem sie das räumlich und zeitlich voneinander Getrennte nebeneinanderstellt, die fernen Menschen und Gegenstände aus ihrer zeitlichen wie räumlichen Distanz zu uns hereinholt, zu ‘Anwesenden im Bild’ macht, hebt sie die Ungleichzeitigkeit der einzelnen Bilder auf und ermöglicht eine Vielzahl privater wie wissenschaftlicher Nutzungen. Der Wunsch, mit Hilfe der Fotografie ein historisches Archiv von Zeitdokumenten aufzubauen, gleichsam die Fotografie an die Stelle geschriebener Quellen zu setzen, war im 19. Jahrhundert “beinahe Allgemeingut”.58 Diese Auffassung sah die Fotografie als Dokument eines Ereignisses, jedoch nicht als Dokument einer Zeitspanne, einer Entwicklung oder eines Prozesses. Sie korrespondiert daher mit dem auch heute noch verbreiteten Verständnis von Geschichte als einer Folge von bedeutsamen ‘historischen’ 56 Humboldt (1869), a.a.O., S. 138 57 Castel, Robert: Bilder und Phantasiebilder. In: Bourdieu, Pierre et al.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt/M. 1981, S. 259 58 Ortoleva, Peppino: Photographie und Geschichtswissenschaft. Teil 1. In: Photographie und Gesellschaft. 1/1989, Nr. 1, S. 5. Vgl. dazu auch in Kemp, a.a.O., S. 119f. die Zukunftsvision des Bostoner Arztes und Essayisten Oliver Wendell Holmes aus dem Jahre 1859 von einer großen Sammlung fotografischer Negative; er spricht im Rückgriff auf die Abbildungstheorie des griechischen Philosophen Demokrit von Abdera von Häuten oder Formen, in der – wie in einer Bibliothek die Bücher – nunmehr die Fotografien Auskunft über alle Phänomene dieser Welt geben werden. 19 http://www.mediaculture-online.de Momenten. Eine solche Dokumentation der Oberfläche einer Kultur, gleichsam des Sichtbaren und visuell Darstellbaren im Gegensatz zur nur schwerlich fotografisch festzuhaltenden Struktur einer Gesellschaft, findet sich auch in den frühen ethnographischen Fotografien. Sie “bewahren in illustrativer Weise verschwindende oder unbeschreibbare Einzelereignisse oder Individuen”59 für die Nachwelt auf. So wie jeder Mensch in seinem Privatleben “darangehen kann, dem Werden einige Fetzen zu entwinden”60, um ein eigenes Privatmuseum zu installieren, richtete die Völkerkunde sich ein imaginäres Weltmuseum in Form eines unendlich großen Fotoarchivs – ein Museum der Menschheit – ein. So wie die Privatsammlung dem einzelnen Menschen, so konnte diese Sammlung von Fotografien im Sinne der musealen Forschung “jedem einzelnen [Volk, Anm. d. Verf] eine Art Garantie auf seine Vergangenheit geben”.61 Castel spricht in diesem Zusammenhang auch von “einer immensen Anstrengung, sich der Zeit zu versichern”.62 Dieser Gedanke impliziert zugleich eine Dokumentationsform, welche die Fotografie an die Stelle des Objektes setzte, in der Abbildung das Analogon zur Wirklichkeit sah, oder wie es der Bostoner Arzt und Essayist Oliver Wendell Holmes 1859 ausdrückte: “Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.”63 Diese Stellungnahme hatte für die Völkerkunde eine besondere Bedeutung, da man mit fotografischen Mitteln durch Inventarisierung dem Wandel der Kulturen zuvorkam und so den gefürchteten “Verlust der ethnischen Originalität”64 für die Forschung scheinbar in Grenzen halten konnte. Solchen Wünschen nach einem Aufhalten der Zeit und deren Vergänglichkeit kam die Fotografie in den Augen der Zeitgenossen, besonders entgegen, wie Walter Benjamin in seiner “Kleinen Geschichte der Photographie” 1931 schrieb, denn “alles an diesen frühen Bildern war angelegt zu dauern [...] – selbst die Falten, die ein Gewand auf diesen Bildern wirft, 59 Mead, Margaret: Anthropology and the camera. In: Morgan, Willard D. (Hrsg.): Encyclopedia of photography. New York 1963 60 Castel, a.a.O., S. 263 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Holmes, Oliver Wendell: Das Stereoskop und der Stereograph. In: Atlantic Monthly. 3/1859, S. 738-748. Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 119 64 Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin 1881. Reprint in: Schmitz, Carl August (Hrsg.): Kultur. Frankfurt/M. 1963, S. 62 20 http://www.mediaculture-online.de halten länger”.65 Was Benjamin hier mit Blick auf ein Porträt des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling schrieb, gilt ebenfalls für den Federschmuck eines Stammesoberhauptes; dieser konnte ebenfalls “recht zuversichtlich mit in die Unsterblichkeit hinübergehen”.66 Kulturelle Austauschvorgänge hatte es zwar immer in der menschlichen Geschichte gegeben, doch die Erscheinungen des Kulturwandels bedrohten seit der Kolonialzeit unzählige Völker in ihrer Existenz mit nie zuvor gekannter Radikalität. Die Erweiterung des westlichen Horizonts und die gleichzeitig rapide einsetzenden Veränderungen in den überseeischen Kulturen trugen dazu bei, daß die Völkerkunde ihre institutionalisierte Gestalt annahm. Zu ihren “Glaubensbekenntnissen” gehörte es von Beginn an, warnend die Stimme vor der drohenden Auslöschung unberührt gebliebener Kulturen zu erheben, wie dies Margaret Mead noch 1975 in einem flammenden Appell über die Notwendigkeit visueller Dokumentation deutlich machte: “Anthropologie [im weiten, die physische Anthropologie, Ethnologie, Volkskunde und Vorgeschichte umfassenden angelsächsischen Sprachgebrauch, Anm. d. Verf.] hat die Verantwortung für das Anlegen und Bewahren von Aufnahmen der im Verschwinden begriffenen Sitten und Gebräuche und der menschlichen Wesen dieser Erde, gleichgültig, ob es sich dabei um eingeborene Völker, schriftlose Kulturen, isoliert in einem tropischen Dschungel oder in den Tiefen eines Schweizer Kantons [...] handelt.”67 Wenn auch unter etwas gewandelten Ausgangsbedingungen, so kann doch eine gewisse “Urfurcht” der Ethnologie vor der Zeitlichkeit, der Vergänglichkeit und dem Verschwinden ihrer “Forschungsobjekte” beobachtet werden. Anders als noch bei Adolf Bastian geht es heute jedoch nicht nur darum, die Kulturen lediglich museal zu dokumentieren oder dem Traum von Fortbestand autochthoner Kulturen nachzuhängen, sondern auch darum, durch Wahrung kultureller Vielfalt die Menschen vor dem Einerlei einer trivialisierten Massenkultur zu bewahren. 65 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie (1931). In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. 1963, S. 75 66 Ebd. 67 Mead, Margaret: Visual Anthropology in a Discipline of Words. In: Hockings, Paul (Hrsg.): Principles of Visual Anthropology. Den Haag/Paris 1975, S. 3 21 http://www.mediaculture-online.de Neben die räumliche und zeitliche “Abwesenheit” des Menschen in der Fotografie tritt in der ethnographischen Fotografie zumindest des 19. Jahrhunderts noch eine weitere Zeitdimension: Indem man viele Stammeskulturen als untere, erhalten gebliebene Stufen einer evolutionären Entwicklung begriff, die auf unsere westliche Kultur folgerichtig zustrebte, waren die Abbildungen zugleich auch für die Forscher und das Publikum ein Fenster zur Zeit, und zwar auf vergangene Zustände der eigenen kulturellen Entwicklung gerichtet. Seit Charles Darwin68 betrachtete man zum Beispiel die australischen Ureinwohner auf den Fotografien beim Feuerbohren eben auch als stellvertretend für die hiesigen Steinzeitmenschen und sah somit, in der Sprache der Zeit gesprochen, in die Kinderstube der Menschheit hinein. Die abgebildeten Riten, Masken, Körperverzierungen – kurz alles, was augenfällig von der bürgerlichen Kultur des Westens stark abwich – erschienen den Zeitgenossen als Rückständigkeit, Primitivität und Begrenztheit, aus der man sich selbst befreit glaubte. Aber auch andere Blicke sind durch dieses Fenster möglich und spielen immer wieder in das evolutionistische oder wissenschaftliche Bild hinein: aus dem “Unbehagen an der Kultur” richtet man gern den Blick nach draußen auf die natürliche Lebensweise der fremden ‘ursprünglichen’ Kulturen, ihr Leben im Einklang mit der Natur, ihre Sozialformen und Religiosität, in denen uns der Einzelne nicht so sehr atomisiert wie in unserer Industriekultur, vielmehr in seine Existenz eher spirituell eingebunden erscheint. Das Betrachten solcher Fotografien löst ganz im Sinne von Rene Descartes’ Äußerung, “es ist gut, die Sitten verschiedener Völker ein wenig zu kennen, um über die unseren eigenen angemessener zu urteilen”69, eine Reflexion über uns selbst aus. Diese Bilder stellen den Fortschritt des westlichen Menschen infrage – als Weiterentwicklung oder als FortEntwicklung, weg von einem besseren Ursprung. Sie fragen nach der Berechtigung dafür, unsere Lebensform als Maßstab anzusetzen und, wie allzuoft geschehen, diese anderen Kulturen ihrer Existenzgrundlagen zu berauben. 68 Wenngleich Darwin auch nicht der alleinige Urheber des Evolutionsgedankens ist, da dieser vielmehr auf die schottischen Aufklärer zurückgeht, so ist doch der Gedanke einer allmählichen Entwicklung allen Lebens von einfachen zu immer komplexeren Formen untrennbar mit seinen Werken verbunden: On the origin of species by means of natural selection (1859) und The descent of man and selection in relation to sex (1871). Vgl. zu Darwin das Kapitel “Das Zauberwort Entwicklung” in: Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Hamburg 31955, S. 94-131 69 Descartes, Rend: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637). Hamburg 21969,S. 11 22 http://www.mediaculture-online.de Ethnographie, Ethnologie, Anthropologie, Völkerkunde – die Begriffe Ethnographie, von ethnos, griechisch, Volk und graphein, griechisch, schreiben, bedeutet im Wortsinne “die Erforschung und Beschreibung fremder Völker und Kulturen”70, kurz Völkerbeschreibung. Die Ethnographie stützt sich heute in der Regel auf längere Forschungsaufenthalte bei fremden Völkern, auf die sogenannte stationäre Feldforschung. Als Arbeitstechniken gelten dabei die teilnehmende Beobachtung, Interviews, Befragungen und das Sammeln von Gegenständen, sogenannten Ethnographica. Die hierbei gewonnenen Eindrücke können in Form schriftlicher Berichte, von Filmen, Videoaufzeichnungen oder in Form von Fotografien dokumentiert werden. Neben dem selbst erarbeiteten Material stützt sich die Ethnographie vielfach auch auf historische Quellen, zu denen unter anderem auch die Fotografie zählt. Ethnologie, von ethnos, griechisch, Volk und logos, griechisch, Kunde, Wissen oder Lehre, bedeutet im Wortsinne Völkerkunde. Sie beginnt dort, wo “bewußt Erklärungen der Erscheinungen in systematisch zusammenhängender Form geliefert werden. [...] Die Erklärung von Verschiedenheiten und Übereinstimmungen in den Kulturen der Völker ist Ziel der Ethnologie.”71 Claude Lévi-Strauss beschreibt diesen Teilaspekt der Forschung als “einen ersten Schritt zur Synthese”.72 Dies gilt in geographischer Hinsicht für den Vergleich verschiedener Ethnien, die unter ähnlichen oder auch gegensätzlichen Bedingungen leben, in historischer Hinsicht für die Rekonstruktion der Geschichte eines oder mehrerer Völker und in systematischer Hinsicht, wenn ein Merkmal der Technik oder des Brauchtums ähnlichen Merkmalen aus anderen Kulturen gegenübergestellt wird. Bei allen solchen Synthetisierungen “umfaßt die Ethnologie die Ethnographie als Anfangsschritt und bildet” nach Levi-Strauss “deren Fortführung”.73 Die Fotografie kann hierbei als visueller Beleg für Verschiedenheiten, aber auch für Gemeinsamkeiten herangezogen werden. 70 Schott, Rüdiger: Aufgaben und Verfahren der Völkerkunde. In: Trimborn, Hermann (Hrsg.): Lehrbuch der Völkerkunde. Stuttgart 41971, S. 6, Hervorhebung Schott 71 Fischer, Hans: Anfänge, Abgrenzungen, Anwendungen. In: Ders.: Ethnologie. Eine Einführung. Berlin 1983, S. 12 72 Levi-Strauss, Claude: Die Stellung der Anthropologie in den Sozialwissenschaften und die daraus resultierenden Unterrichtsprobleme (1954). In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Band 1. Frankfurt/M. 1978, S. 379 73 Ebd. 23 http://www.mediaculture-online.de Ethnographie und Ethnologie werden im deutschen Sprachraum heute meist unter dem Begriff Völkerkunde zusammengefaßt. Häufig wird Völkerkunde auch synonym mit Ethnologie gebraucht. Bernhard Streck führt die Begriffe Ethnographie und Völkerkunde auf den Göttinger Historiker und Slawisten August Ludwig Schlözer (1772) zurück. Der Terminus Ethnologie wurde hingegen von dem Schweizer Joseph Chavannes (1787) geprägt.74 Die eingangs dargestellte strikte Trennung zwischen Sammlung und Beschreibung, das heißt Ethnographie und theoretischer Verarbeitung, das heißt Ethnologie, findet sich im heutigen Sprachgebrauch zwar noch als übliche Sprachregelung, wird jedoch immer mehr in ein kritisches Licht gerückt, weil sie vorgibt, Arbeitsbereiche voneinander zu trennen, die in Wirklichkeit eng miteinander verknüpft sind. Dies gilt für explizit festgelegte Beobachtungsanleitungen, die aufgrund eines bestimmten wissenschaftlichen – eben ethnologischen – Interesses bestimmte Aspekte der fremden Kultur als beobachtenswert definieren und andere hingegen nicht. Aber auch der Forschungsreisende, der sich ohne Anleitung auf den Weg macht, unterliegt bestimmten, zum Teil unbewußt getroffenen Vorentscheidungen, die sein Beobachtungsfeld eingrenzen. Schließlich ist “jede Ethnographie als Beschreibung der Lebensweise eines (fremden) Volkes immer auch Vergleich. Vergleich der beobachteten mit der eigenen Lebensweise des Ethnographen. Festgestellt werden Unterschiede und Ähnlichkeiten”75, so daß man eigentlich schon jetzt in den Bereich der Ethnologie gerät. Bemerkenswert ist jedoch, daß trotz dieser vielerorts erhobenen Einwände, in den gängigen Einführungen wie auch den gebräuchlichen Lexika an der eingangs umrissenen Aufteilung der Völkerkunde in einen eher beschreibenden und einen eher theoretischvergleichenden Teil festgehalten wird. Die Verwendung der Begriffe Ethnographie und Ethnologie folgt daher auch im vorliegenden Buch diesem Grundsatz. Als Forschungsgegenstand der Völkerkunde werden heute zumeist die sogenannten Naturvölker, Stammeskulturen, schriftlosen Völker oder vorindustriellen Gesellschaften angesehen, wobei sich hinter diesen Bezeichnungen auch immer wissenschaftsgeschichtlich zu erklärende Grundannahmen und Problemstellungen verbergen. Demgegenüber stehen Ansätze, die den Forschungsgegenstand der Völkerkunde ausschließlich von seiner Fremdheit her bestimmt sehen. Dies bedeutet, daß 74 Streck, Bernhard: Wörterbuch der Ethnologie. Köln 1987, S. 10 75 Fischer (1983), a.a.O., S. 12 24 http://www.mediaculture-online.de sich die Völkerkunde mit allen fremden Völkern und Kulturen außerhalb des eigenen westlichen Kulturkreises zu beschäftigen habe und nicht nur mit denjenigen, denen es qua Definition an technischer Entwicklung, Emanzipation von der Natur, staatlicher Gliederung oder an bestimmten Kulturmerkmalen mangelt. Historisch gesehen waren zunächst alle fremden Völker und Kulturen Gegenstand der Völkerkunde, die von Reisenden aufgesucht und beschrieben wurden. Bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein findet hauptsächlich der Terminus Ethnographie als Begriff für die Wissenschaft von fremden Völkern und Kulturen Verwendung. Die Wörterbücher und enzyklopädischen Lexika weisen bis etwa zur Mitte des vorigen Jahrhunderts die Ethnographie zudem noch als einen Teil der Erdkunde aus, die wie die Geographie die Erdgestalt, die Gestalt der Menschen, ihre Sitten und Gebräuche zu beschreiben suchte. So ist dem Brockhaus “Conversations-Lexikon” in der 8. Auflage von 1833 zu entnehmen: “Ethnographie, das heißt Völkerbeschreibung oder Völkerkunde, heißt der Theil der Geographie, welcher von den Bewohnern der verschiedenen Länder handelt, sie in Hinsicht ihrer Körperbildung und ihrer geistigen Kräfte betrachtet und ihre Sitten, Gebräuche und Eigenthümlichkeiten beschreibt.”76 Hinter dieser für unseren heutigen Sprachgebrauch überraschenden Zuordnung verbirgt sich die Tatsache, daß die wissenschaftliche Erforschung fremder Völker und Kulturen erst etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Völkerkunde oder Ethnologie institutionalisierte Gestalt annahm. Wissenschaftliche Gesellschaften77 und Museen78 wurden gegründet und Lehrstühle an den Universitäten79 eingerichtet. Im deutschen Sprachraum wurde 1869 die “Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte” (abgekürzt BGAEU) im 76 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon). (Brockhaus). Band 3. Leipzig 81833, S. 721f. 77 In London 1838 die “Society for the Protection of Aborigines”; in Paris 1839 die “Société Ethnologique”. In den folgenden Jahren kamen hinzu: 1842 die “American Ethnological Society”, 1843 die “Ethnological Society of London”, 1859 die “Société d’Anthropologie” in Paris, 1863 die “Anthropologische Gesellschaft in Moskau” und die “Anthropological Society of London” und dortselbst 1871 das “Royal Anthropological Institute”. Vgl. Streck, a.a.O., S. 10, Fischer (1983), a.a.O., S. 23 und Mühlmann, Wilhelm Emil: Geschichte der Anthropologie. Wiesbaden 1984, S. 96 78 St. Petersburg (1837), Dresden (1843), Kopenhagen (1848), Berlin (1873), Wien (1876), Bremen (1878), Hamburg (1879), Stuttgart (1911), München (1917). Vgl. Streck, a.a.O., S. 10, Fischer (1983), a.a.O., S. 23, Mühlmann, a.a.O., S. 93 79 An den Unversitäten wurden Lehrstühle für Adolf Bastian (Berlin 1864), Johannes Ranke (München 1886), Edward Burnett Tylor (Oxford 1896), Franz Boas (New York 1899), Rudolf Martin (Zürich 1901), James Frazer (Liverpool 1906) eingerichtet. Vgl. Streck, a.a.O., S. 10 25 http://www.mediaculture-online.de Vorgriff auf die später folgende “Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte” gegründet. Die BGAEU stellte mit einer einzigartigen Versammlung von Forschern aus allen drei Disziplinen das für das letzte Jahrhundertdrittel bedeutendste Forum völkerkundlicher Forschung im deutschen Sprachraum dar. Mit der Gründung der BGAEU war von 1869 an auch die Herausgabe eines Organs, nämlich der Zeitschrift für Ethnologie und ihre Hülfswissenschaften als Lehre vom Menschen in seinen Beziehungen zur Natur und zur Geschichte (abgekürzt ZfE) verbunden. Sie wurde von Adolf Bastian und Robert Hartmann herausgegeben und beinhaltete neben Veröffentlichungen aus dem breiten Forschungsgebiet der BGAEU auch die Sitzungsprotokolle der Gesellschaft, die sogenannten “Verhandlungen der BGAEU” (abgekürzt Verh. d. BGAEU. In: ZfE). Martin Gusinde (?) “Paul Schebesta. Der Forscher beim Mittagessen mit einem Zwerg”, Ituri-Gebiet, Belgisch-Kongo, heutiges Zaire, um 1934/35. Anthropos-Institut, St. Augustin. Bevor dieses Podium geschaffen wurde, waren Wissenschaftler, die über fremde Völker und Kulturen berichten wollten, auf die im weitesten Sinne erdkundlichen oder eher noch 26 http://www.mediaculture-online.de länderkundlichen Publikationen angewiesen.80 “Als länderkundlich wird hier eine Beschreibung verstanden, die umfassende Informationen zu einem Land oder Gebiet gibt, wobei eine Trennung in einzelne Fachwissenschaften, wie sie heute besteht, zwar noch nicht vollständig ausgebildet, und so geographische, botanische, zoologische, ethnologische und ökonomische Fakten eines Landes [...] zusammengeführt werden.”81 Ähnlich wie diese Zeitschriften und die darin enthaltenen Aufsätze waren auch viele Buchveröffentlichungen angelegt, welche die Beschreibung von Land und Leuten zum Ziel hatten. Von ähnlich großer Bedeutung wie die Beziehung zur Erdkunde war für die Völkerkunde die Nähe zur physischen Anthropologie, die die Vielgestaltigkeit des Menschen in seiner körperlichen Erscheinung nach verschiedenen Rassen klassifizierte. Aus dem Griechischen kommend – von anthropos, Mensch und logos, Kunde, Wissen oder Lehre, bedeutet Anthropologie wörtlich eine allgemeine Wissenschaft vom Menschen. Dieser Begriff wurde bereits 1501 in Magnus Hundts “Anthropologium de hominis dignitate”82 zum ersten Male verwendet und umschloß die kulturelle, soziale, biologische und naturgeschichtliche Dimension des Lebewesens Mensch. Zu den Forschungsgegenständen dieser Wissenschaft zählte neben den vorgeschichtlichen und fremden Kulturen auch die eigene. Im englischen und französischen Sprachraum wird der Begriff Anthropologie auch heute noch in diesem umfassenden Sinne verwendet, nicht so dagegen im deutschen. Hier hat sich die ebenfalls bereits im 16. Jahrhundert beginnende Aufspaltung der Anthropologie in eine physische und eine psychische durchgesetzt. Derjenige Teil der Wissenschaft, der sich mit der Kultur und den Formen des Zusammenlebens der Völker befaßte, die sogenannte psychische Anthropologie, wurde zur Ethnologie oder Völkerkunde gezählt. Der andere Teil, die physische Anthropologie, wurde seit dem 19. Jahrhundert zur beherrschenden Teildisziplin. Unter physischer Anthropologie versteht man “die Erforschung und Darstellung der physischen 80 So unter anderem Das Ausland, Stuttgart und Tübingen 1828 bis 1893; Das Ethnographische Archiv, Jena 1818 bis 1829 und den Globus, Braunschweig 1862 bis 1910. 81 Junge, Peter: Ethnologische Zeitschriften. Deutschland, Österreich, Schweiz. Berlin 1987, S. 17 82 Vgl. Krech, Hartmut: Lichtbilder vom Menschen. Vom Typenbild zur anthropologischen Fotografie. In: Fotogeschichte. 4/1984, H. 14, S. 4 27 http://www.mediaculture-online.de Eigenschaften des Menschen”83 mit dem Ziel, den Gang der menschlichen Entwicklungsgeschichte im biologischen Sinne zu erforschen. Im deutschen Sprachgebrauch wird Anthropologie synonym mit physischer Anthropologie verwendet. Der Anstoß zur Gründung der BGAEU ging so auch nicht zufällig von der Sektion für Anthropologie und Ethnologie der “Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte” 1869 in Innsbruck aus. Die von der physischen Anthropologie angewandten somatoskopischen, das heißt den Körper beschreibenden und somatometrischen, den Körper vermessenden Verfahren zur Ermittlung von Rassenunterschieden lagen den häufig medizinisch ausgebildeten Anthropologen nahe. Denn eine große Zahl der Mitglieder der BGAEU, angefangen mit ihrem langjährigen Vorsitzenden und spiritus rector Rudolf Virchow, kam von der Pathologie, Physiologie oder Anatomie zur Anthropologie. Bei der Erforschung und Beschreibung fremder Völker und Kulturen bestand die Dualität von physischer Anthropologie und Völkerkunde noch lange Zeit bis in unser Jahrhundert hinein. Im Kreis der BGAEU bildeten bis zur Jahrhundertwende noch alle Völker dieser Erde den Gegenstand der Forschungen. Dies galt sowohl für die rezenten Kulturen mit ihren Sitten und Gebräuchen, die fremden wie die eigene inbegriffen, für die körperliche Erscheinung der Völker, als auch für die kulturgeschichtliche und naturgeschichtliche Entwicklung des Menschen. Um die Jahrhundertwende begann sich dieser Zusammenhang, der vielfach auch von einzelnen Forscherpersönlichkeiten verkörpert wurde, aufzulösen, und einzelne Teildisziplinen bildeten sich stärker heraus. Sowohl die physische Anthropologie, Archäologie/Urgeschichte und Volkskunde als auch die Ethnologie gingen mit der Begründung eigener Fachorgane und wissenschaftlicher Schulen eigene Wege. Zum Forschungsgegenstand der Völkerkunde wurden seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr die sogenannten ‘Naturvölker’, die man aus evolutionistischer Sicht als Überbleibsel früherer Entwicklungsstufen ansah und an denen man die komplexen Formen menschlichen Zusammenlebens in vereinfachter Form studieren zu können glaubte. Die weite länderkundliche Dimension der Reiseberichte trat in den differenzierten ethnographischen Arbeiten zur Sprache, zu Sitten und Gebräuchen und zur “materiellen Kultur” der “Naturvölker” zunehmend in den Hintergrund. Kulturhistorische Fragen bestimmten nunmehr die Forschung, die Entstehung und Verbreitung bestimmter 83 Virchow, Rudolf: Anthropologie und prähistorische Forschungen. In: Neumayer, a.a.O., S. 571 28 http://www.mediaculture-online.de Kulturmerkmale, aber auch die Abstammung, Wanderungsbewegungen und die Vermischung verschiedener Völker. Diese Fragestellungen wurden bevorzugt an den “Naturvölkern” untersucht, um an die ursprüngliche und unverfälschte Herkunft der im Laufe der Geschichte immer komplexer werdenden Kulturmerkmale zu gelangen. In Ermangelung von Schriftzeugnissen als historischen Quellen wurden in den Völkerkundemuseen vornehmlich Ethnographica gesammelt und ausgedeutet, um zu historischen Schichtungen zu gelangen. Trotz dieser Differenzierungen, die in der historischen Entwicklung der Völkerkunde stattfanden, gaben und geben die Völkerkundemuseen sowohl Zeugnis von den Kulturen der “Naturvölker” als auch von nicht-europäischen Hochkulturen und verkörpern damit immer auch die Idee einer “Gesammtschau” aller Völker und Kulturen dieser Erde (Adolf Bastian). Diese Vorstellung ist sicher als Fortbestehen der kosmographischen Sammeltraditionen der Wunderkammern und Raritätenkabinette zu sehen, aus denen sich im 19. Jahrhundert die Völkerkundemuseen entwickelten. Fotografie auf Reisen: Ein Überblick. Die fotografische Frühzeit bis zur Einführung der Trockenplatte Der “Auswärtigen Correspondenz” des von Paul E. Liesegang in Berlin herausgegebenen Photographischen Archivs vom 16. April 1864 ist die Stellungnahme eines nicht genannten französischen Kunsthistorikers zu entnehmen, der sich über die Dienste äußert, welche die Fotografie der Malerei leistet: “Eine berserkerhafte Reiselust, ein bachantischer Taumelzug durch alle Lande, nur von großer Nüchternheit begleitet, hat sich vieler Maler bemächtigt, daß sie wie Entdecker die Welt umkreisen. Schneller als der Hippogryph der Fabel bringt sie der Dampf im Fluge der Räder und Schrauben nach allen Himmelsgegenden, und so fleißig als sonst die Modellsäle und Umgebungen der Hauptstadt besucht waren, werden jetzt Algier, Ägypten, Syrien, Palästina von Malern bereist und ausgebeutet. ”84 Diese Auffassung gibt einen interessanten Aufschluß über jene einschneidenden Veränderungen, die mit der kolonialistischen Expansion der westlichen Welt im 19. Jahrhundert und dem Aufkommen des neuen Bildmediums Fotografie einhergingen. Es 84 Schrank, Ludwig: Auswärtige Correspondenz, Wien. In: Photographisches Archiv. 5/1864, Nr. 59, S. 249 29 http://www.mediaculture-online.de werden nämlich die beiden Hauptaspekte der Erweiterung des westlichen Blickfeldes auf die Welt deutlich: Im Gefolge der sich weiter ausdehnenden westlichen Kolonialherrschaft und des gleichzeitigen Aufkommens der als rasend schnell empfundenen modernen Verkehrsmittel werden eine allgemeine Beschleunigung des Lebens und ein Verringern der Distanzen – das Näherrücken nicht bloß der überseeischen Welt -für Europa erfahrbar. Der Gründer des Berliner Museums für Völkerkunde, Adolf Bastian – er verbrachte von seinen 79 Lebensjahren allein fast ein Vierteljahrhundert auf Reisen in Übersee85 – charakterisierte diese schwunghaften Veränderungen mit dem Ausdruck “des ringsum, im allgewaltigen Gewoge, heranbrausenden Weltverkehrs”86, der alle Menschen erfaßt und sämtliche Lebensbereiche durchdrungen habe. Diese Veränderungen entfalteten ihre Wirkung für Deutschland mit der Reichsgründung, der Schaffung einer Kriegsmarine und der starken Hinwendung des Handels zur überseeischen Welt. Die unter kolonialistischen Vorzeichen erfolgte Öffnung zur Welt wurde von Bastian rückblickend geradezu euphorisch als Erweiterung des Blicks gefeiert: “Der Horizont unserer sogenannten Weltgeschichte (auf westlichem Culturbereich) ist durchbrochen, die ihn bisher umschränkenden Grenzpfosten bröckeln zusammen, frei schweift der Blick über die Weiten der Erde dahin, aus deren früher wenig nur beachteten [...] fernen Fragestellungen fremdartiger Ausschau von allen Richtungen heranzutreten beginnen[...].” 87 Dieser “Taumelzug” führte die europäischen Forschungsreisenden in viele eingezeichnete Regionen im Inneren der Erdteile, brachte daneben aber auch eine Vielzahl von Kolonialbeamten, Offizieren, Kaufleuten, Missionaren oder auch nur “globetrotters” genannten Touristen an die bereits bekannten Hafen- und Handelsplätze in Übersee. Das Reisen schien den Zeitgenossen dabei zum kinderleichten Vergnügen zu werden, dessen man in allergrößter Sicherheit teilhaftig werden konnte. Den anderen Aspekt neben der räumlichen Erweiterung des europäischen Blicks stellte in den Augen der Zeitgenossen die Fotografie dar, deren man sich zur Dokumentation eben jener neu erschlossenen fremden und exotischen Welten bedienen konnte. 85 Vgl. Kramer, Fritz: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1977, S. 74 86 Bastian, Adolf: Zur heutigen Sachlage der Ethnologie in nationaler und socialer Bedeutung. Berlin 1899, S. 25 87 Ebd. 30 http://www.mediaculture-online.de Dieser neue fotografische Blick der Reisenden zeichnete sich vor allem durch “große Nüchternheit”88 aus. “Die deutliche mathematisch genaue Art, wie die Photographie das schnell Verschwindende in einem Moment günstiger Beleuchtung [...] abbilden und festhalten [...] läßt”89, beabsichtigte das Fremde möglichst wahrheitsgetreu ins Bild zu setzen, ganz im Gegensatz zu den malerischen Schilderungen romantischer Empfindsamkeit und exotischer Märchenwelten. Der Bilderhunger nach positiven fotografischen Belegen setzte im Laufe des 19. Jahrhunderts einen ungeheuren Strom fotografischer Berichterstatter verschiedener Herkunft und von verschiedenen Motiven angetrieben in Bewegung. Der Genfer Professor für Ästhetik, Rodolphe Töpffer, selbst auch Zeichner und Schrifsteller, schrieb bereits 1839 warnend zu diesem “Taumelzug” der Fotografen, “daß, wenn unsere ganze Erde bald auf Metallplatten aufgenommen sein wird, man dann nicht weiß, woher man eine neue nehmen soll, um durch Daguerreotypien die außerordentlich aufgestachelte Neugierde der ganzen Menschheit zu befriedigen”.90 Töpffer bezog sich in seinen kritischen Anmerkungen auf das 1841 erschienene Albumwerk der “Excursions Daguerriennes”91, der ersten Publikation, deren Stahlstiche auf fotografischen Bildvorlagen beruhten. Nur kurze Zeit nach der Vorstellung des fotografischen Verfahrens Louis Jacques Mande Daguerres hatte der Pariser Verleger Nöel-Marie Payma Lerebours den Maler Horace Vernet und dessen Neffen Frederic Goupil-Fresquet beauftragt, die bedeutendsten baulichen Sehenswürdigkeiten des Orients zu fotografieren. Obwohl man aus drucktechnischen Gründen die dabei entstandenen Daguerreotypien noch nicht auf direktem fotomechanischen Wege wiedergeben konnte, fand das Werk genügenden Absatz, um 1842 einen zweiten Band92 folgen zu lassen. Die Abbildungen der “Excursions Daguerriennes” zeigen zumeist Architekturdarstellungen aus verschiedenen Ländern, so den hier wiedergegebenen “Harém de Méhémet – Ali À 88 Schrank, vgl. Anm. 84, a.a.O., S. 249 89 Ebd. 90 Töpffer, Rodolphe: Über die Daguerreotypie (1841). Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 71 91 Lerebours, Noel-Marie Payma: Excursions Daguerriennes. Collection de 50 planches reprdsentant les vues et les monuments les plus remarquables du globe. Paris 1841 92 Ders.: Nouvelles Excursions Daguerriennes. Paris 1842 31 http://www.mediaculture-online.de Alexandrie”, aber auch allerlei andere Sehenswürdigkeiten aus Europa, zum Beispiel das Bremer Rathaus, und sind insofern eher topographischer oder länderkundlicher Art. In wesentlich entferntere Regionen führt uns hingegen der französische Zollbeamte Jules Itier, der sich zwischen 1842 und 1846 in Westafrika, Südamerika, Südost- und Ostasien und in Ägypten aufhielt. Er widmete, soweit dies die technischen Beschränkungen des Verfahrens zuließen, auch den Menschen der bereisten Länder sein fotografisches Augenmerk. Seine Porträts zeigen die Dienerschaft und die Angehörigen der französischen Gesandtschaft in China. In einigen Fällen geben die Bilder auch näheren Aufschluß über die Physiognomie der fremden Menschen und weisen so bereits auf die wissenschaftlich angeregten Arbeiten E. Thiéssons hin. Dieser hatte in Paris zwei sich dort vom Sommer 1844 bis zum März 1845 aufhaltende Botokuden, eine Frau und einen Mann aus dem Nordosten Brasiliens, fotografiert. Die dabei entstandenen Daguerreotypien gelten als erste anthropologische Fotografien und wurden vom Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, Etienne-RenaudAugustin Serres, am 2. September 1844 der Akademie vorgelegt.93 Über den damit von Serres verfolgten Plan eines “photographischen Museums der Menschenrassen”94 wird noch an anderer Stelle ausführlich berichtet. In den Fotografien Thiessons findet sich bereits der Ansatz der späteren standardisierten anthropologischen Aufnahmen. Das zu fotografierende Individuum sollte aus seiner Umwelt herausgelöst, in gerader, ‘soldatischer’ Haltung vor einen neutralen Hintergrund gestellt beziehungsweise gesetzt werden. Die Aufnahme sollte ihr ‘Objekt’ möglichst entblößt, also auf das Physische beschränkt, frontal und im Profil und vor allem unter gleichbleibenden Bedingungen präsentieren, damit die Fotografien auch nach der Rückkehr zu nachträglichen Untersuchungen und Vergleichen zu verwenden waren. Diesen Vorgaben genügen hingegen die Daguerreotypien, welche der “Chef de Timonerie”, der Steuermann der französischen Brigg “Ducouëdic” namens Vernet95 unter der Aufsicht des Leiters der Expedition, des späteren Konteradmirals Charles Guillain 93 Vgl. Krech, a.a.O., S. 9 94 Serres, Etienne-Renaud-Augustin: Observations sur l'application de la photographie ä l'etude des races humaines. In: Comptes Rendus de lAcaddmie des Sciences. 21/1845, S. 243 95 Guillain, Charles: Documents sur l'histoire, la géographie et le commerce de l'Afrique Orientale. 2 Teile in 3 Bänden und ein Atlas. Paris 1856-1857. Vgl. Teil 1, Vorwort, S. XIX 32 http://www.mediaculture-online.de aufnahm, nur zum Teil. Die Brigg “Ducouëdic” unternahm in den Jahren 1846 bis 1848 eine Forschungsreise mit länderkundlichen und handelspolitischen Zielen um Madagaskar herum, entlang der ost- und nordostafrikanischen Küste und hinüber bis ins indische Bombay und Goa. Über die auf der Reise entstandenen Daguerreotypien gibt der Tafelband des Expeditionsberichts Auskunft. Dieser enthält auf insgesamt 54 lithografischen Tafeln neben Seekarten, Stadtplänen und -ansichten, auch 18 Tafeln mit zum Teil mehreren “Eingeborenenporträts, die mit der Daguerreotypie aufgenommen wurden”.96 Vernet bildete zwar ähnlich wie Thiésson seine Gegenüber frontal und im Profil ab, doch entblößte er sie nicht, gestand ihnen in der Mehrzahl eine beliebige Körperhaltung zu und beließ ihnen gerade auch die ethnographisch so interessanten Details wie Schmuck, Kleidung oder Bewaffnung. Viele der nach “Daguerre’schen Abdrücken” angefertigten Tafeln geben hierin eher den Blick des Fotografen auf Habitus als auf die reine körperliche Gestalt wieder.97 Eine solche Sichtweise findet sich später besonders in vielen Studiofotografien des 19. Jahrhunderts wieder und weist auf die später übliche Gestaltung ethnographischer Fotografien voraus. Anders als es sich Dominique François Arago in seiner Vorstellung der Fotografie vor der Pariser Deputiertenkammer am 3. Juli 183998 gewünscht hatte, dienten die Daguerreotypien nur in wenigen Fällen zur Dokumentation archäologischer Forschungen. Eine der wenigen Ausnahmen auf diesem Gebiet stellen die Arbeiten des deutschen Fotografen Adolph Schaefer dar, welche dieser im Auftrage des Holländischen Kolonialministeriums im Jahre 1845 von den Bas-Reliefs der Tempelanlage von Borobudur auf Java aufgenommen hatte. Schaefer scheiterte an dem Problem, die großen Reliefs als Ganzes auf seine Platten zu bekommen, denn der Bau der Tempelanlage ließ es nicht zu, den fotografischen Apparat in der nötigen Entfernung aufzustellen. Die Architekturdetails der seinerzeit bei Probeaufnahmen erzielten Resultate erschienen aber den Auftraggebern keineswegs als befriedigend und die von Schaefer dafür veranschlagten Kosten als zu hoch und so entließ man den Fotografen wieder.99 Es sollte noch bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts dauern, ehe mit weiterentwickelten 96 Ebd. 97 Das Werk Guillains fand in der zeitgenössischen Kritik eine recht positive Aufnahme, so auch in Hartmanns Überblick über bildliche Darstellungen von Afrikanern, “Die Nigritier”, a.a.O., S. 106. 98 Vgl. Arago, Dominique François: Bericht über den Daguerreotyp (1839). Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 51f. 33 http://www.mediaculture-online.de Kameras, Objekten und mit Papier- beziehungsweise Glasnegativen fotografische Verfahren zur Verfügung standen, welche diejenige Beschleunigung archäologischer Arbeiten ermöglichten, die sich Arago seinerzeit von dem neuen Medium erhofft hatte. Besonders Maxime Du Camp in den Jahren 1849 bis 1851 und der Konstanzer August Salzmann, um 1854, trugen mit den fotografischen Ergebnissen ihrer Reisen in den Orient zu einem authentischen Bild der archäologischen Stätten bei und verhalfen damit der Wissenschaft zu den nötigen visuellen Beweisstücken. In der Folgezeit wurde daher die Fotografie für diesen Zweig der Wissenschaft zu einem unersetzlichen Dokumentationsverfahren. Über die Arbeiten Desire Charnays in Mexiko (1857-1861), Hermann Wilhelm Vogels und Gustav Fritschs im Niltal (1868), Heinrich Schliemanns in Troja (1870-1872) sowie Franz Stolzes in Persepolis (1875-1878) ist bereits von anderen ausführlich berichtet worden.100 Eine andere Art fotografisch dokumentierter Reisen stellten die etwa seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts entsandten Expeditionen dar, welche die politischen und kommerziellen Interessen der westlichen Nationen in Asien demonstrieren sollten. Bereits die amerikanische Schwadron von Kriegsschiffen unter Befehl von Commodore Matthew Calbraith Perry, welche im Jahre 1854 die ‘Öffnung’ Japans für westliche Handelsniederlassungen erzwang, hatte einen Zeichner, den Deutschen Wilhelm Heine, aber auch einen Daguerreotypisten, den Amerikaner Eliphalet Brown jr., an Bord, die sich die Arbeit der Bildberichterstattung teilten. Aufgrund der langen Belichtungszeiten beim Verfahren Daguerres konnte Brown nur solche Personen aufnehmen, die sich allein oder in Gruppen zu einer längeren ‘Sitzung’ entschließen konnten. Heine hingegen skizzierte das Leben und Treiben der Japaner. In manchen Abbildungen des mit Lithographien illustrierten Werks “Narrative Of The Expedition Of An American SquadronTo The China Seas And Japan, Performed In The Years 1852, 1853 And 1854”101 finden sich solche 99 Vgl. Baier, a.a.O., S. 450f. In letzter Zeit hat hat besonders Herman J. Moeshart auf diesen in Vergessenheit geratenen Fotografen hingewiesen. Vgl. Moeshart, Herman J.: Daguerreotypieren unter der Tropensonne. Adolph Schaefer in Niederländisch-Indien. In: Dewitz, Bodo von/Matz, Reinhard (Hrsg.): Silber und Salz: Zur Frühzeit der Photographie im deutschen Sprachraum (1839-1860). Köln 1989, S. 458-479 100Vgl. Baiers Kapitel “Die Fotografie auf Forschungsreisen”, a.a.O., S. 449-466 und Adam, Hans Christian: Photographie auf Forschungsreise – Reisende Photographen im 19. Jahrhundert. In: In unnachahmlicher Treue, a.a.O., S. 115-128 101Hawks, Francis L.: Narrative Of The Expedition Of An American Squadron To The China Seas And Japan, Performed InThe Years 1852, 1853, And 1854, UnderThe Command Of Commodore M. C. Perry 34 http://www.mediaculture-online.de Zeichnungen mit den daguerreotypierten Einzel- und Gruppenporträts in einer Darstellung vereint. Die Expeditionen verfolgten neben der Durchsetzung politischer Ziele, der ‘Öffnung’ von Handelsgebieten, der Vereinbarung von Handelsrechten und der Einrichtung exterritorialer Herrschaftsgebiete auch immer das vordringliche Ziel, umfassende Informationen über die politische und soziale Situation der jeweiligen Länder, über die dortigen kommerziellen Gegebenheiten, das heißt über den möglichen Erwerb von Rohstoffen und von Rohprodukten, aber auch über die Absatzmöglichkeiten für westliche Waren zu erlangen. Besonders nach dem erfolgreichen Eindringen der großen westlichen Kolonialmächte in China und Japan um die Mitte des 19. Jahrhunderts suchten auch die kleineren Staaten Europas ihre Chance, ein Stück aus dem kolonialen “Kuchen” zu erhaschen: Flagge zu zeigen, daneben aber auch ein umfangreiches wissenschaftliches Programm zu absolvieren, in dem unter anderem auch die Anthropologie, Ethnographie und Sprachwissenschaft den ihnen gebührenden Platz einnahmen, war Ziel der Weltumsegelung der österreichischen Fregatte “Novara” in den Jahren 1857 bis 1859. Mit von der Partie waren auch hier bereits des Fotografierens Kundige, wie zum Beispiel Dr. Ferdinand von Hochstetter, Karl Ritter von Scherzer oder der Deutsche Bruno Hamel. Mit Bestimmtheit ist allerdings nur von dem Letztgenannten zu sagen, daß er seine fotografischen Kenntnisse auch in die Tat umgesetzt hat, denn von ihm stammt ein Teil der Abbildungen in Hochstetters 1863 veröffentlichtem Buch “Neuseeland”102. Die “Preussische Expedition nach Ost-Asien” der Jahre 1860 bis 1862, auch bekannt unter dem Namen ihres Leiters, des Gesandten Graf Friedrich zu Eulenburg (“EulenburgMission”), war im wesentlichen auf die Erlangung von Niederlassungs- und Handelsrechten und den Abschluß diesbezüglicher Verträge mit Japan, China und Thailand gerichtet. Daneben wird in dem vierbändigen Expeditionsbericht das starke Interesse an Informationen über die Bestände in den Ländern der neuen Handels‘partner’ deutlich. An dieser Reise waren wiederum der Zeichner Wilhelm Heine und der Maler A. [...]. New York 1856. Die Abbildungen entstammen der mit farbigen Lithographien ausgestatteten Ausgabe gleichen Titels von 1857, die hier angeführte Ausgabe von 1856 ist weniger aufwendig ausgestattet und mit einer kleineren Zahl von Abbildungen in Holzschnitt und Kupferstich illustriert. 102Vgl. Hochstetter, Ferdinand von: Neuseeland. Stuttgart 1863, Vgl. Anmerkung 109 meines Aufsatzes “Wir wollen nicht glauben, sondern schauen” im vorliegenden Band. 35 http://www.mediaculture-online.de Berg sowie ein Fotograf namens Bismark beteiligt. Das neben den Textbänden103 erschienene Tafelwerk “Ansichten aus Japan, China und Siam”104 gibt mit seinen landschaftlichen Darstellungen allerdings nur wenig Aufschluß über die vorgefundenen Lebensverhältnisse in diesen Ländern, sondern vermittelt eher Eindrücke von der Landschaft und der Tempelarchitektur des alten Japan. Wilhelm Burger hingegen gelang es, in seinen Fotografien ein einfühlsames, respektvolles, aber auch kühles und nüchtern-sachliches Bild der Menschen Japans zu geben. Burger nahm in den Jahren 1868 bis 1870 als offizieller Expeditionsfotograf an der “K. K. Mission nach Ostasien und Südamerika” teil.105 Zu seinen Aufgaben gehörte die umfangreiche Dokumentation von kunsthandwerklichen Gegenständen für die heimischen Initiatoren der Expedition. Daneben vermittelte er den Betrachtern trotz der weitverbreiteten Abneigung gegen die europäischen Fremden, einen sehr nahen und intimen Einblick in die japanische Gesellschaft zur Zeit der großen politischen und sozialen Umwälzungen der Meiji-Restauration des Jahres 1869 und der Öffnung des Landes zum Westen hin. Die koloniale Durchdringung der überseeischen Welt und die neuen Verkehrsmittel setzten ab der Mitte des vorigen Jahrhunderts verschiedene Reisende in den Stand, ihre wissenschaftlichen, geschäftlichen oder auch nur touristischen Reisen zu verwirklichen. Dabei gehörte für viele die fotografische Ausrüstung zum unverzichtbaren Bestandteil ihres Gepäcks. Zumeist wurde in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts noch mit Papiernegativen, in den 60er Jahren bereits mit Glasplatten gearbeitet, die jedoch beide Male vom Fotografen vor der Aufnahme beschichtet beziehungsweise lichtempfindlich gemacht und im Anschluß an die Belichtung an Ort und Stelle entwickelt werden mußten. Die dazu nötige technische Ausrüstung hatte beträchtliche Ausmaße, und die Schwierigkeiten, unter widrigsten Umständen und unter den Mißhelligkeiten des tropischen Klimas zu akzeptablen Bildresultaten zu gelangen, waren enorm. Kein Wunder, 103Die Preussische Expedition Nach Ost-Asien. Nach Amtlichen Quellen. 4 Bände. Berlin 1864-1873 104Berg, A. (Hrsg.): Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Ansichten aus Japan, China und Siam. 10 Hefte. Berlin 1865-1873 105Burger nahm bis zum 31. Oktober 1869 an der Expedition teil, mußte dann aber krankheitshalber in Yokohama aus dem Dienst scheiden. Nach seiner Wiederherstellung hielt er sich noch bis Anfang 1870 in Japan auf und langte im Frühjahr 1870 wieder in Europa an. Vgl. Rosenberg, Gert: Wilhelm Burger. Ein Welt- und Forschungsreisender mit der Kamera. 1844-1920. Wien/München 1984, S. 27f. 36 http://www.mediaculture-online.de daß Reisende, wie der Berliner Physiologe und Anthropologe Gustav Fritsch, im Rückblick auf ihre fotografischen Reiseerfahrungen – Fritsch bereiste in den Jahren 1863 bis 1866 das südliche Afrika zu anthropologischen Zwecken – etwas heroisierend bemerkten: “Solche unliebsame Überraschungen der afrikanischen Natur reizen die Energie des echten Reisenden zum erhöhten Widerstand an; wer sich dadurch einschüchtern läßt, gehört nicht nach Afrika. ”106 In den Jahren 1854 bis 1857 bereisten die Brüder Hermann, Adolph und Robert Schlagintweit im Auftrag der “Britisch-Ostindischen Compagnie” Indien und die HimalajaRegion bis hinein nach Zentralasien. Die Ziele der naturwissenschaftlichen Forschungen bestanden in Untersuchungen des Erdmagnetismus, in Höhenmessungen, kartographischen Arbeiten sowie in meteorologischen Beobachtungen. Daneben erbrachte die Forschungsreise, die auf besondere Vermittlung Alexander von Humboldts zustande gekommen war107, eine Fülle von botanischen und zoologischen Sammlungsgegenständen sowie Ethnographica in großer Zahl. Das auf Humboldt verweisende universale Forschungsinteresse der Reisenden richtete sich daneben auch in starkem Maße auf die physische Anthropologie des indischen Subkontinents und die Vielzahl der dort lebenden ethnischen Gruppen, ihre Unterschiede, Herkunft und Verwandtschaft. So befanden sich nach der Heimkehr unter den Sammlungsgegenständen 400 Menschenskelette und Schädel108 sowie die Gipsabformungen, die man auf der Reise von den Köpfen, Händen und Füßen lebender Menschen angefertigt hatte. Diese Masken dienten wiederum zur Herstellung von Abgüssen in Gips und Metall, die dann von 1858 an in mehreren Ausgaben als “Von Schlagintweit’sche Sammlung ethnographischer Köpfe aus Indien und Hochasien” – so der Titel des ‘Prospectus’ der Ausgabe von 1862109 – zur Subskription angeboten wurden. 106Fritsch, Gustav: Fünfundvierzig Jahre Reisephotograph. In: Goerke, Franz (Hrsg.): Denkschrift Anlässlich Des Zwanzigjährigen Bestehens Der Freien Photographischen Vereinigung Zu Berlin. Halle a. S. 1910, S. 50 107Kick, Wilhelm: Alexander von Humboldt und die Brüder Schlagintweit. In: Müller, Claudius C./Raunig, Walter (Hrsg.) Der Weg zum Dach der Welt. Innsbruck 1982, S. 75f. 108Körner, Hans: Die Brüder Schlagintweit – Hermann, Adolph, Robert und Emil – Familie, Forschungsreise in Indien und Hochasien, Werke, Sammlungen und Nachlaß, Bibliographie. In: Müller/Raunig, a.a.O., S. 67 109Auskunft über den Sammlungsbestand des Nachlasses der Brüder Schlagintweit in der Bayerischen Staatsbibliothek München gibt das Bestandsverzeichnis “Schlagintweitiana”. Es verzeichnet unter der Signatur VI. 5.6.1. drei solcher gedruckter Kataloge der Abformungen. Eine umfangreiche Sammlung der 37 http://www.mediaculture-online.de Daneben hatte sich Robert von Schlagintweit noch an einer anderen Art von ‘Abdrücken’ erfolgreich versucht, nämlich an der Fotografie. Insgesamt betrug die Zahl der auf der Reise nach Indien und Hochasien angefertigten Fotografien rund 400 Stück.110 Die heute noch erhaltenen etwa 100 Fotografien sind zum größten Teil Darstellungen von Menschen und stellen neben anthropologisch interessanten Typen aus den verschiedenen Gruppen der Ureinwohner des indischen Subkontinents, einige als typisch betrachtete Vertreter der wichtigsten Kasten Indiens und aus der Bevölkerung der Himalaja-Region vor. In vielen Fällen geben sie auch interessante ethnographische Details wieder. Zuweilen sind die Abzüge stark übermalt, was den fotografischen Charakter der Abbildungen fast verdrängt und sie in die Nähe der zahlreichen Zeichnungen und Aquarelle rückt, die gleichfalls in großer Zahl auf der Reise entstanden. Als mediengeschichtliches Kuriosum müssen noch diejenigen Fotografien aus dem Nachlaß erwähnt werden, die man von Landschaftsaquarellen Hermann und Adolph Schlagintweits anfertigte und anschließend wiederum kolorierend übermalte, um dem Aussehen der Aquarelle nahezukommen. Diese Fotografien dienten, in einem Album zusammengefaßt, als Muster zu dem nichtrealisierten Buchprojekt mit dem Titel “Coloured photographs from India and High Asia selected from 750 original drawings [...]”111. Als ein weiterer Forschungsreisender, der mit fotografischen Mitteln über die Länder, Völker und Kulturen berichtete, die er bereiste, ist der Berliner Ethnograph und Forschungsreisende Fedor Jagor zu erwähnen, der bereits 1849 mit dem damals gerade von Abel Niepce de St. Victor erfundenen Verfahren der Fotografie auf Glasplatten mit einer Eiweißemulsion gearbeitet hat.112 Auf seiner Reise nach Südostasien in den Jahren Schlagintweit'schen Abgüsse befindet sich heute noch im Museum für Völkerkunde Berlin SPMK. 110Vgl. Schlagintweit-Sakünlünski, Hermann von: Reisen in Indien und Hochasien. Band 1. Jena 1869, S. XXXVI. Weitere wichtige Informationen über die Schlagintweit’schen Fotografien gibt Hans Körners Text: Photographieren auf Forschungsreisen. Robert Schlagintweit und seine Brüder erforschen die Alpen, Indien und Hochasien (1850-1857). In: von Dewitz/Matz, a.a.O., S. 310-333. Heute enthält der Sammlungsbestand der Bayerischen Staatsbibliothek in München insgesamt 96 Fotografien, das heißt in der Abteilung IV.2 83 fotografische Darstellungen von Menschen und in der Abteilung IV.3 13 Abbildungen von Gebäuden in Bombay. 111Schlagintweit, Hermann und Adolph: Coloured photographs from India and High Asia selected from 750 original drawings executed during the years 1854-1857 by M. M. de Schlagintweit. Leipzig (Brockhaus) 1860. Dieses Muster, Signatur IV.1, enthält 28 Abbildungen. 112Vgl. Photographische Rundschau. 10/1896, S. 260 und Baier, a.a.O., S. 455, der darauf hinweist, daß dieses Bild neben anderen Fotografien Jagors 1896 in der “Photographischen Ausstellung” in Berlin zu sehen war. In ähnlicher Weise wurden Jagors Bilder, “Madonna della sedia (Glasbild auf Eiweißschicht, von Dr. Jagor 1849 aufgenommen), Palazzo zu Venedig (1850 von Dr. Jagor auf Jodsilberpapier 38 http://www.mediaculture-online.de 1857 bis 1861 fotografierte Jagor in Singapur und in Malakka und nahm mit Hilfe von Papiernegativen vornehmlich topographische Ansichten, Kanalbilder, Uferszenen und fremde Architektur auf. Zum Porträtieren verwendete er hingegen meistens als Zeichenhilfe die Camera lucida. Die Photographische Rundschau brachte im Jahrgang 8/1894 als Autotypie die Wiedergabe einer Jagor’schen Ansicht von “Singapore im Jahre 1857”. Der Herausgeber, Richard Neuhauss, äußerte sich in seinem Begleittext voller Lob über die Qualität dieser Aufnahme und schloß, nicht ohne Seitenhieb auf die modernen Amateure, mit der Bemerkung: “Reisende, die heutzutage mit ‘Kodak’ und Gott weiß welchen Hilfsmitteln Indien durchstreifen, ohne auch nur eine einzige brauchbare Aufnahme heimzubringen, mögen sich am vorliegenden Bilde ein Beispiel nehmen.”113 Jagor selbst indes schien die Fotografie als Vorlage für die Illustration seines 1866 erschienenen Buches “Singapore – Malacca – Java. Reiseskizzen”114 allein nicht ausreichend. Vielleicht mangelte es ihm im Vordergrund des Bildes an einem spannungsreichen Gegenpol zur Reihe der Pfahlbauten auf dem gegenüberliegenden Ufer. Die Tafel zu Seite 50 des Buches zeigt jedenfalls statt der Sandbank der Fotovorlage ein breiteres Gewässer, auf dessen sanfter Dünung sich ein Segelschiff mit Beiboot wiegt. Dieses Schiff ist, wie Jagors Vorwort ausweist, “Dumont d’Urville’s Atlas”115 entnommen. Damit ist vermutlich der Tafelband zu einer allerdings nicht näher angegebenen Ausgabe des Berichts über die Forschungsreise des Konteradmirals Jules-Sébastien-César Dumont d’Urville in den Jahren 1837 bis 1840 nach Ozeanien und in die Antarktis mit den Schiffen “Astrolabe” und “Zélée” gemeint. In ganz ähnlicher Weise, nur ohne diesbezügliche Quellenangabe, wurden der Tafel zu Seite 101 die Schiffe am rechten Rande des Kanals beigegeben, wohl weil man in der rechten Hälfte der Fotografie durch Bewegungsspuren und Unschärfen eine die Harmonie des Bildes störende Unruhe sah, welche der Illustrator des Buches ausglich. Dieser Umgang aufgenommen), das alte Berlin bei der Charité (wie vorher) [und, Anm. d. Verf.] Malayisches Pfahldorf (1857 von Dr. Jagor auf Papier aufgenommen)” in einer Sitzung der “Freien photographischen Vereinigung zu Berlin” am 17. November 1899 neben denen anderer Fotografen vom Vorsitzenden Gustav Fritsch (sic!) als Inkunabeln der Fotogeschichte präsentiert. Vgl. Photographische Rundschau. 14/1900, H. 4, o. S. Jagor selbst wird in der Festschrift Goerkes, a.a.O., S. 152 im Jahre 1910 als verstorbenes Ehrenmitglied der “Freien photographischen Vereinigung zu Berlin” angeführt. 113Photographische Rundschau. 8/1894, Tf. VI und S. 99. Vgl. Neuhauss, Richard: Die Neuordnung der Photographiesammlung der Berliner Anthropologischen Gesellschaft. In: ZfE. 40/1908, S. 99. 114Jagor, Fedor: Singapore-Malacca-Java. Reiseskizzen. Berlin 1866 115Ebd., S. 2 39 http://www.mediaculture-online.de mit den Bildvorlagen ist noch stark einer malerischen Sicht der fremden Welten verpflichtet, die zwar einerseits Bildbestandteile durchaus richtig wiedergibt, ihren Gesamteindruck andererseits durch Kombination verschiedener Versatzstücke erzielt. Hermann Schlagintweit dachte wohl kritisch an ähnliche Beispiele, als er sich 1869 im ersten Band “Indien” der “Reisen in Indien und Hochasien”116 mit den bildlichen Darstellungen aus Indien befaßte. Für ihn kam es vor allem darauf an, “daß das Bild in seinen Eigentümlichkeiten reell und richtig sei, und ferner ist als ebenso wichtig von landschaftlicher Darstellung zu verlangen, daß sie den allgemeinen Bedingungen des Schönen oder des Großen entspreche, was aber nicht durch Komposition, sondern durch passende Wahl des Standpunktes, sowie der Tageszeit für Beleuchtung und Staffage, anzustreben ist”.117 In späteren Zeiten, und dazu gehört auch schon die bereits erwähnte Veröffentlichung der Ansicht von “Singapore [...]” in der Photographischen Rundschau des Jahres 1894, waren Jagors Fotografien hingegen bereits Dokumente mit “hervorragender geschichtlicher Bedeutung”118. Einer solchen Bewertung wäre die malerische Überarbeitung der fotografischen Druckvorlagen vermutlich eher zuwidergelaufen, da es hier bereits galt, fotohistorische Inkunabeln möglichst authentisch zu präsentieren. Mit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts begann überall auf der Erde die große Zeit der Fotostudios. Die für den Westen erfolgreichen Kolonialkriege brachten die Fotografen entweder direkt als Bildberichterstatter oder offizielle Dokumentatoren – wie etwa den Venezianer Felice Beato – an die Kriegsschauplätze. Beato gelangte 1858 nach dem Ende des Krimkrieges nach Indien und fotografierte dort die Verwüstungen des “Großen Aufstandes” von 1857/58 und die nachfolgenden seiner blutigen Niederschlagung durch die britischen Truppen. Die dabei entstandenen Fotografien konnten die Angehörigen der Truppen und die westlichen Residenten der Handelsplätze erwerben. In ähnlicher Weise dokumentierte Beato 1860 auch den letzten der sogenannten “Opiumkriege” der Briten und Franzosen gegen China, in dessen Verlauf der kaiserliche Sommerpalast geplündert und zerstört wurde. Im Anschluß an seinen China-Aufenthalt begab sich Beato um 1864 nach Japan, um dort in Yokohama ein florierendes Fotostudio zu betreiben. 116Vgl. Schlagintweit-Sakünlünski, a.a.O., Band 1. S. 261 117Ebd. 118Neuhauss (1908), a.a.O., S. 99 40 http://www.mediaculture-online.de Daneben gab es die weit häufiger praktizierte Möglichkeit, daß sich Fotografen, ähnlich anderen Geschäftsleuten, auf den Weg in die Fremde machten, um sich an den Handelsplätzen und sogenannten Vertragshäfen niederzulassen. Eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit war dabei einmal an die Anfertigung im Studio gestellter und sorgsam inszenierter Genreszenen der Menschen der fremden Kulturen geknüpft. Daneben gehörten aber auch die fotografischen Resultate von Reisen in möglichst unbekannte ferne Gegenden im Landesinneren sowie die Dokumentation der Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Region zu den gefragten fotografischen Souvenirs der Europäer. Reise- und Studiofotografie im engeren Sinne standen dabei in einem Wechselverhältnis. Beide Arten der Fotografie wurden in oder von den Studios für einen bestimmten Kundenkreis angefertigt und verkauft, daher wird im vorliegenden Buch auch der Begriff “Studiofotografie” umfassend für die solcherart erwerbsmäßig aufgenommenen und vertriebenen Fotografien verwendet. Die fotografischen Reiseergebnisse solcher Fotografen, wie zum Beispiel von Samuel Bourne aus Indien oder John Thomson aus Südostasien und China, fanden beim Publikum und bei Ausstellungen großen Anklang, wie die Kritiken aus den Fotozeitschriften jener Tage belegen.119 Franz Stolze, selbst ein auf archäologische Dokumentationen spezialisierter Fotograf, schrieb dazu 1881 im Photographischen Wochenblatt: “Allein die Photographie hat längst die Grenzen der Civilisation überschritten [...], sie wandert mit den Entdeckungsreisenden durch die fernsten Länder, übersteigt die unwegsamsten Gebirge, bahnt sich ihren Weg durch Steppen und Wüsten, kurz, wohin der Fuss des gebildeten Europäerst dringt, begleitet sie ihn als unentbehrliche Helferin.”120 Die Publikumswirksamkeit der Reisefotografie gründete sich zunächst auf die visuelle Präsentation derjenigen Orte und Regionen, die trotz ‘aufbrausenden Weltverkehrs’ vielen Europäern auch weiterhin verschlossen blieben: etwa die Bergwelt des Himalaja, die Samuel Bourne auf seinen Reisen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts fotografisch festgehalten hat. Der Fotografie als verkaufte Fotografie kam darin auch immer mehr die Rolle eines Erfahrungsersatzes für diejenigen zu, die auf die tatsächlichen Eindrücke 119So schreibt ein Anonymus im “Repertorium” der Photographischen Correspondenz 4/1867, S. 143 unter dem Titel “Stimmen über die Pariser Ausstellung” über die dort gezeigten Fotografien Samuel Bournes. 120Stolze, a.a.O., S. 59 41 http://www.mediaculture-online.de verzichten mußten: “Die Freuden der Reise ohne ihre Beschwerlichkeit”121 hieß es dann auch geradezu programmatisch als Motto in dem 1893 erschienenen Album von gedruckten Fotografien, “Art Photographs Of The World [...]”. Die Fotostudios verkauften neben den Landschaftsdarstellungen in großem Umfang auch Genredarstellungen der Einheimischen, welche einerseits den Habitus der fremden Menschen, das körperliche Erscheinungsbild, ihre Kleidung, ihre Haartracht und Schmuck, Körperhaltung, andererseits aber auch in gestellten Inszenierungen ‘häusliche’ Verrichtungen und gewerbliche Tätigkeiten festhielten. Solche Studioaufnahmen sogenannter ‘native types’ gibt es aus nahezu allen Winkeln der Erde und bisweilen tauchen dabei in Alben von verschiedenen Fotografen Abzüge auf, die auf ein zugrundeliegendes gemeinsames Negativ hindeuten. Die Studioaufnahme eines annamitischen Bettlers aus Saigon, entstanden um 1869, findet sich sowohl in einem Album mit Fotografien des Saigoner Studios E. Gsell des Wiener Museums für Völkerkunde, in einem anonymen Südostasien-Album des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe und eben auch auf der Tafel “Cochinchina und China” des berühmten Albums “Siam, China und Japan. Ethnographisch-kosmographische Aufnahmen von Wilhelm Burger, Photograph und Mitglied der K. K. Mission nach Ostasien (1868-1871)” wieder, das Burger dem österreichischen Kaiser Franz Joseph nach seiner Rückkehr im Jahr 1871 schenkte. Die Negative zu den darin enthaltenen Abzügen und eben auch dasjenige, das den annamitischen Bettler zeigt, finden sich nahezu vollständig in der Sammlung Wilczek-Burger der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Bildarchiv und Porträtsammlung. Einige andere Motive der Burgerschen Albumseite “Cochinchina und China” erscheinen allerdings auch, mit englischen Bildunterschriften und der Bezeichnung “Thomson phot.” versehen, auf Ausschnitten aus dem China Magazine der Jahre 1868/69. Diese Zeitschrift wurde in Hongkong produziert und war mit eingeklebten Fotografien illustriert, von denen einige im Archivbestand des Bremer Überseemuseums erhalten sind. Thomson betrieb ungefähr von 1868 bis 1870 ein Fotostudio in Hongkong, reiste in diesem Zeitraum nach Canton und Schanghai und fotografierte in Südchina.122 Burger 121Ragan, H. H.: Art Photographs Of The World And The Columbian Exposition. An Album Of Rare Photographs Of The Wonders Of The Universe. San Francisco 1893. Einleitung, o. S. 122Thomson arbeitete allerdings nur im Jahre 1868 als freier Fotograf und Schriftsteller für The China Magazine. Vgl. White, Stephen: John Thomson. London 1985, S. 16, 18. Dort wird berichtet, daß es im Sommer 1868 zu einem Zerwürfnis zwischen Thomson und dem Herausgeber kam. Grund dafür war, daß letzterer die zusammengehörenden Texte und Fotografien eines Aufsatzes von Thomson getrennt 42 http://www.mediaculture-online.de hingegen langte mit der K. K. Mission nach Ostasien am 2. Juni 1869 in Hongkong an und hielt sich dann für elf weitere Tage dort und in Canton auf.123 Ob damals eine Begegnung zwischen den beiden Fotografen stattfand, in deren Verlauf Thomson womöglich Abzüge von Burgers Negativen erhielt beziehungsweise Negative tauschte, kann nur vermutet werden.124 Wie schon im Falle des “Annamitischen Bettlers aus Saigon” sind die Negative in der Sammlung Wilczek-Burger der Österreichischen Nationalbibliothek, Bildarchiv und Porträtsammlung, in Wien archiviert, weshalb Burger als der Urheber dieser Fotografien gelten kann. Die Fotogeschichte kennt jedoch andere Beispiele, in denen es nicht so leicht möglich ist, die Fotografien eines Studios, dessen Besitzer mehrfach wechselte, einem bestimmten Fotografen zuzuschreiben. Meist wurden die Negative vom alten Besitzer an seinen Nachfolger mitverkauft, der dann erneut Abzüge herstellte und vertrieb. Dies geschah mit der Negativsammlung von Beato in Yokohama, die im Jahre 1877 von dem österreichischen Baron Raimund von Stillfried-Ratenicz übernommen wurde, der sein Atelier bis zum Jahr 1883 betrieb und es dann seinem Assistenten Kusakabe Kimbei sowie der Firma A. Farsari & Co. verkaufte. Die große Zeit der Fotostudios in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erbrachte eine kaum zu überblickende Vielzahl von Fotografien selbst aus den entlegensten Weltgegenden. Bei aller Würdigung der hohen Bildqualität trugen auch diese Studiofotografien deutlich die Züge eines, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, reproduzierbaren Massenartikels. Heute sind diese Fotografien dagegen recht selten und gelten als überaus kostbar, auch wenn sie zur Zeit ihres Verkaufs in großer Zahl hergestellt und vertrieben wurden. In der damaligen Zeit, die es mit den Urheberrechten noch nicht so genau nahm, tauchten die Fotografien dann mitunter in anderen Zusammenhängen wieder auf, wurden reproduziert, auch koloriert, dienten als Buchillustration in Form eingeklebter Abzüge oder wurden auch als Holzschnitte, gemeinsam aus mehreren Fotovorlagen zusammenmontiert, gedruckt. Das reiche Bildangebot der Fotostudios fand einen überaus großen Abnehmerkreis: Da waren veröffentlichen wollte, “ein Vorgehen, von dem anzunehmen ist, daß Thomson dies nicht akzeptabel fand.” White, a.a.O., S. 18. Vgl. ebd., S. 17-19 zu Thomsons Aufenthalt in Südchina. 123Rosenberg, a.a.O., S. 21 124Rosenberg wie auch White gehen auf dieses Zusammentreffen der Bilder und ihrer Legenden nicht ein. In Whites Veröffentlichung sind diese Abbildungen auch nicht enthalten. Denkbar wäre auch, daß Burger seine Abzüge in Hongkong an das China Magazine verkaufte und daß man dort in der Beschriftung der Abbildungen irrtümlich oder absichtlich den wohlvertrauten Namen Thomson daruntersetzte. 43 http://www.mediaculture-online.de zunächst die Forschungsreisenden, die gern darauf zurückgriffen, obwohl der ethnographische Wert der Studiofotografien bereits damals nicht unumstritten war. Daneben gab es noch die wohl größere Gruppe der europäischen Residenten und Touristen, denen die Fotografien als Souvenir und Erinnerungsstücke an die “draußen”, fern der Heimat unter Fremden verlebte Zeit von großer Wichtigkeit war. Viele dieser Reisenden gaben dieses Bildmaterial dann an die völkerkundlichen Bildsammlungen weiter, die sich von etwa 1870 an rapide zu füllen begannen. Adolf Bastian faßte diese Zeit in der Bemerkung zusammen, daß, “wie für die Betreibung der Ethnologie überhaupt, auch für die Gewinnung dieser, sie stützenden Beweisstücke [nämlich der Fotografien, Anm. d. Verf.] der Zeitpunkt im natürlichen Entwicklungsgang ein allmälig günstiger geworden war. Indem sich die Zahl der Photographen in den außereuropäischen Ländern mehrte, indem Uebung darin häufiger in den Vorbereitungen der Reisenden mit aufgenommen wurde, kamen auch bereits häufiger typische Darstellungen nach Europa, es erschienen bereits locale Prachtwerke, wie Watson’s und Kay’s People of India, und als die Anthropologische Gesellschaft in Berlin bald darauf ihre Arbeiten begann, öffneten sich allmählig verschiedene Wege, auf denen die Photographien ihrer Sammlung sich vermehren ließen.”125 Amateure Die große Zeit der Fotostudios, in denen Fotografien und Fotoalben wie heute Postkarten als Reiseandenken verkauft wurden, ging in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zu Ende. Einige hielten sich noch bis in die 20er und 30er Jahre unseres Jahrhunderts, indem sie auf andere Publikationsformen der Fotografien, auf Postkarten oder gedruckte Alben, auswichen. Daneben war seit dem Aufkommen der Trockenplatten, Filme, der kleineren Kameras und besonders mit der ab 1888 produzierten Kodak-Kamera ein neuer Amateurmarkt entstanden, den es mit Negativmaterial, Kameras und durch Übernahme der Laborarbeiten zu versorgen galt. Besonders der letztgenannte Aspekt erleichterte das Fotografieren erheblich, indem er die Forscher und Reisenden der Mühsal enthob, fototechnische Arbeiten in unwirtlichen Gegenden und unter primitivsten Arbeitsbedingungen selbst ausführen zu müssen. Daß diese Bequemlichkeit, nicht zuletzt durch Werbeslogans wie “You press the Button, we do the rest!” geradezu angestachelt 44 http://www.mediaculture-online.de wurde, fand bei den ‘alten’ Reisefotografen, wie zum Beispiel Gustav Fritsch oder Richard Neuhauss, durchaus keine uneingeschränkte Zustimmung: “Die Bequemlichkeit ist ja doch, wie schon die Eastman-Kompagnie richtig erkannt hatte, der gefeierte Götze, vor dem die große Masse der Liebhaberphotographen andächtig im Staube liegt, die Apparate können gar nicht leicht und handlich genug hergestellt, das Material gar nicht einfach und kompreß genug sein.”126 Nur selten hielt die zwar zahlenmäßig enorm angestiegene Bildmenge, die ein Reisender nun mit nach Haus brachte, einem Vergleich mit den in größter Sorgfalt angefertigten Aufnahmen der Naßkollodiumzeit stand. Kam es damals doch noch auf jedes einzelne Bild an, dessen Herstellung von Anfang bis Ende in den Händen des Fotografen lag, wurde mit den modernen Kameras ein neuer Aufnahmeversuch durch das einfache Weitertransportieren des Filmes möglich. Neuhauss hatte 1894 das technische und bildnerische Unvermögen vieler Amateurfotografen in seinem Anleitungsbuch “Die Photographie auf Forschungsreisen” auf die Ungeduld und Hast der Reisenden zurückgeführt, die sich eben nicht mehr vor der Reise mit der Kamera vertraut machten und eingehende Proben anfertigten.127 Auch Fritsch bedauerte diese Leichtfertigkeit und forderte “eine Rückerinnerung an den einstigen nassen Photographen im trockenen Lande, [die, Anm. d. Verf] wohl geeignet wäre, die gesunkene Energie des Liebhaberphotographen zu stärken”.128 Eine ganze Weile – etwa von 1880 bis 1920 – kombinierten Forscher und Reisende, wohl aus Einsicht in ihre eigenen technischen Unzulänglichkeiten und da ihnen die professionellen Aufnahmemöglichkeiten der Fotografen versperrt blieben, eigene Schnappschüsse mit den in Studios vertriebenen Fotografien. Der Marinearzt, Anthropologe und Ethnologe Augustin Krämer brachte zum Beispiel von seinen zahlreichen Reisen nicht nur die eigenen Negative, sondern auch eine stattliche Anzahl von Studiofotografien und große Mengen von Postkarten heim. Unter den Reisenden sei nur Hermann Hesse erwähnt, der in seinem Fotoalbum, das an die Reise nach Indien und Indonesien im Jahre 1911 erinnert, gleichfalls eigene Schnappschüsse vom Bordleben auf dem Dampfer, von Hafenansichten, von Kanalbildern und von Eindrücken des Lebens in 126Fritsch (1910), a.a.O., S. 58 127Neuhauss, Richard: Die Photographie auf Forschungsreise und die Wolkenphotographie. Halle a. S. 1894, S. 1 128Fritsch (1910), a.a.O., S. 58 45 http://www.mediaculture-online.de der fremden Kultur, wie einem Besuch im chinesischen Theater in Singapur, mit professionell angefertigten Fotografien, unter anderem von der Firma G. R. Lambert & Co. in Singapur kombinierte. Solche Mischformen setzten sich bis in die Buchpublikationen hinein fort. Der Ethnograph und Forschungsreisende Wilhelm Joest gab 1895 in dem Bericht “Weltfahrten” von seinen zahlreichen Reisen unumwunden zu, aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht viele eigene Fotografien publizieren zu können: “Unter etwa hundert mißlungenen Aufnahmen befanden sich kaum mehr, die einem Zeichner als Vorlage dienen konnten; die mechanische Vervielfältigung war ausgeschlossen.”129 Joest war so auf das zahlreiche Fotomaterial angewiesen, das er im Verlaufe seiner Reisen erworben hatte. Diese vielfach nicht ausgewiesene Provenienz “seiner” Fotografien tat dem Lob jedoch keinen Abbruch, das die “Weltfahrten” bei Rezensenten wie Bastian fanden: “Und darauf kommt es an: auf nutzdienlich verwerthbare Erwerbungen [...] aus Weltfahrten, aus Durchspähung des über den Globus erweiterten Horizontes der Umschau, wenn, durch seine Weiten ungeblendet, das Auge geübt und geschärft bleibt, die Einzelheiten jedesmal in den richtigen Focus der Betrachtung einzustellen.”130 Forschungsreisende und Bildjournalisten Seit der Jahrhundertwende konnte jeder fotografieren, so die Werbung der Fotoindustrie, und fast jeder Reisende, der es sich leisten konnte, tat es auch. Aus einem Fotografen waren viele geworden; bei Expeditionen war nicht mehr nur ein offizieller Fotograf mit von der Partie, sondern “mit jedem Teilnehmer kamen zahlreiche photographische Kästen an Bord. Von dem spulenfressenden Kodak [...] bis zum feinsten Präzisionsinstrument mit einer vermögenschluckenden Linse war jede Type von Kamera vertreten. Es photographierten Passagier und Kapitän, Matrose und Steward [...].”131 In der Zeit zwischen den Weltkriegen verlagerte sich für den deutschsprachigen Raum die Berichterstattung über fremde Völker und Kulturen von den großen völkerkundlichen Expeditionen der Vorkriegszeit, wie zum Beispiel der “Hamburger Südsee-Expedition” (1908 bis 1910), der “Innerafrika-Expedition” des Herzogs Adolf Friedrich zu Mecklenburg 129Joest, Wilhelm: Weltfahrten. Band 3. Berlin 1895, S. 214 130Bastian, Adolf: Joest, Wilhelm: Weltfahrten. 3 Bände. Berlin 1895. In: ZfE. 27/1895, S. 115 131Miethe, Adolf: Mit Zeppelin nach Spitzbergen. Bilder von der Studienreise der deutschen arktischen Zeppelin-Expedition. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart 1911, S. 20 46 http://www.mediaculture-online.de (1907 bis 1908) oder der “Kaiserin-Augusta-Fluß-Expedition” (1912/13) an den Sepik im heutigen Papua-Neuguinea auf ein anderes Feld. Zwar wurden, allerdings mit bescheideneren Mitteln ausgestattet, auch weiterhin Forschungsreisen unternommen, zu deren Ausbeute auch große Mengen von Fotomaterial zählte – man denke nur an die verschiedenen Expeditionen des Frobenius-Instituts nach Afrika, Südostasien und Australien oder auch an die Arbeiten einzelner Forschungsreisender wie der Schweizer Ethnologen Felix Speiser, Alfred Bühler oder Paul Wirz. Im ganzen gesehen konzentrierte sich jedoch besonders die deutsche Ethnologie seit dem Ersten Weltkrieg auf die sogenannten kulturhistorischen Forschungen, die darauf abzielten, auch in die Untersuchung der Kulturen der ‘Naturvölker’ eine geschichtliche Dimension einzuführen. Lange Zeit hatte man die ‘Naturvölker’ als ‘Völker ohne Geschichte’ angesehen, die den kulturellen Zustand der Steinzeit gleichsam bis auf die moderne Zeit bewahrt hätten. Durch Ethnologen wie Fritz Graebner oder Leo Frobenius wurde aber bereits um die Jahrhundertwende versucht, anhand bestimmter Kulturmerkmale, sowohl des materiellen Kulturinventars als auch der Sprache und der Gebräuche, sogenannte Kulturkreise zu konstruieren und die Verbreitung (Diffusion) und historische Entwicklung einzelner Kulturmerkmale zu verfolgen. Durch den Verlust der Kolonien des Untersuchungsfeldes beraubt, wandte man sich dann zusehends den reichen Sammlungsbeständen der Völkerkundemuseen zu, so daß die Feldforschungen auch aus diesem Grund eher in den Hintergrund traten. Allerdings wurden aus dem Kreis der Wiener kulturhistorischen Schule um die von Pater Wilhelm Schmidt 1906 begründete Zeitschrift Anthropos und des Ordens “Societas Verbi Divini” (SVD), auch bekannt als “Steyler Mission”, eine Vielzahl von Forschungsreisen unternommen. So reiste unter anderem Pater Martin Gusinde (SVD) in den Jahren 1918 bis 1924 zu den Feuerland-Indianern und Pater Paul Schebesta (SVD) 1924/25 und 1938/39 zu den kleinwüchsigen Bevölkerungen Südostasiens, 1929/30 und gemeinsam mit Gusinde 1934/35 zu denen Zentralafrikas. Als Ethnologen und Anthropologen haben beide von ihren Forschungsreisen ein umfangreiches fotografisches Werk hinterlassen, das nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern seinerzeit auch in illustrierten Reiseberichten132 veröffentlicht wurde. Dieses Genre des 132Dies mögen Schebestas Veröffentlichungen zu den kleinwüchsigen Ethnien Südostasiens verdeutlichen: Als wissenschaftliche Publikation ist von ihm zu erwähnen: Die Pygmäenvölker der Erde. Teil 2. Die Negrito Asiens. Band 1. Mödling 1952. Band 2. 1. Ebd. 1954. Band 2. 2. Ebd. 1957. In rascher Zeit nach der Reise nach Malaya erschienen die populären Reiseberichte: Bei den Urwaldzwergen von Malaya. Leipzig 1927 und Orang Utan. Bei den Waldmenschen Malayas und Sumatras. Leipzig 1928. Eine 47 http://www.mediaculture-online.de populärwissenschaftlich gehaltenen Reiseberichtes wurde besonders von einigen Verlagen, etwa Brockhaus in Leipzig, gepflegt und bot den Wissenschaftlern eine günstige Gelegenheit, mit ihren Arbeiten ein größeres Lesepublikum zu erreichen und eine zusätzliche Finanzierungsquelle für die kostspieligen Reisen zu erschließen. Viele der damaligen Ethnographen und Forschungsreisenden betätigten sich gleichfalls in diesem Spannungsfeld zwischen ethnographischer Forschung und Reiseschriftstellerei, wissenschaftlicher Dokumentation und Bildjournalismus. So berichteten Hugo Adolf Bernatzik aus Afrika, Südostasien und der Südsee, Südost- und Nordeuropa, Wilhelm Filchner aus Tibet und Zentralasien, Sven Hedin aus Zentralasien und von seiner Weltreise sowie Ernst Schäfer aus Tibet. Ergänzend zu den vorgenannten Wissenschaftlern sind die Bildjournalisten zu erwähnen, die für die seit der Mitte der zwanziger Jahre aufkommenden illustrierten Zeitschriften wie die Berliner Illustrirte Zeitung, die Münchner Illustrierte Presse, die Zürcher Illustrierte und besonders auch für die länderkundlich-literarische Zeitschrift Atlantis arbeiteten. Sie wandten sich gleichfalls in populärer Weise ethnographischen Themen zu: Martin Hürlimann berichtete aus Indien, dem Himalaja und Südostasien, Walter Bosshard aus Tibet, Indien, China und der Mongolei, Harald Lechenperg aus Nordafrika, Indien, Vorderasien und Arabien, Bernd Lohse aus dem Orient, Gotthard Schuh aus Indonesien und Wolfgang Weber aus Afrika, Indien und Südostasien, um nur einige der Namen und Reiseziele anzuführen. Von den genannten Fotografen und Journalisten wiesen manche bereits durch ihr Studium der Ethnologie, Kunstgeschichte oder Geschichtswissenschaft133 eine gewisse Hinwendung zu den exotischen Welten und fremden Kulturen auf, die sie dann bereisen sollten. Berichte über die Lebenswelten fremder Völker gehörten in den 20er und 30er Jahren zum festen Bestandteil des Themenprogramms einer jeden großen Illustrierten. Häufig wurden den Reportagen aus aller Herren Länder mehrseitige Plätze und Titelblätter eingeräumt. Die dabei angewandten neuartigen gestalterischen Prinzipien134 können hier nur kurz umrissen werden: Gleichrangigkeit von Text und Bild in den Montagen der Illustriertenseiten; hohe Erzählqualität der verwendeten Fotografien, Auswahl der in den beiden Reiseberichten veröffentlichten Fotografien diente dann später zur Illustration des wissenschaftlichen Werkes. 133Vgl. Pohl, Klaus: Die Welt für Jedermann. Reisephotographie in deutschen Illustrierten der zwanziger und dreißiger Jahre. In: Ders.: Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850-Heute. Gießen 1983, S. 127 134Vgl. ebd., S. 97-103, 116-124 48 http://www.mediaculture-online.de das heißt, die Fotos mußten die aufgenommene Situation möglichst klar verdeutlichen; möglichst hohe Authentizität in der Berichterstattung, Verzicht auf inszenierte oder gestellte Bilder: stattdessen galt es den Bildjournalisten als wichtigste Aufgabe, im Schnappschuß dem Leben den “entscheidenden Augenblick” zu entreißen, in dem das beobachtete Geschehen kulminierte; Seriencharakter der Bildreportage, in der nicht mehr nur ein einziges Bild alle Aspekte des Darzustellenden einfangen sollte, sondern eine Folge von Einzelbildern, die entweder als Abfolge eines Geschehens oder von mehreren Vorgängen montiert, über eine Situation oder Ereignis berichteten. In den Artikeln und Bildserien wurde die Person des Bildjournalisten miteinbezogen, das Geschehen aus der subjektiven Erzählperspektive dargestellt. Oft genug wird dieses Erleben, die Reise selbst mit ihren Gefahren und Hindernissen, zum Thema, wie zum Beispiel in Lechenpergs Bericht “Auto-Reise wie noch nie. Auf schwierigsten Pfaden von Bombay nach Berlin”135 in der Berliner Illustrirten Zeitung von 1933. Gerade in der Form dieser abenteuerlichen Einzelreisen mit Auto, Motorrad oder Flugzeug, wenn nicht gar zu Fuß, ist auch die Abneigung dieser Individualisten gegen die Kultur des Massentourismus und seine ausgetretenen Pfade deutlich zu spüren. Wie im Falle der Autoreise Lechenpergs ging es ihnen wohl eher um das Erlebnis der Reise als solcher und weniger um den bloßen Transport an ein vorher festgelegtes Ziel. Der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum hatte sich um die Jahrhundertwende die Möglichkeit eben solcher Reisen von dem noch jungen Verkehrsmittel erhofft und geschrieben: “Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen, hat Goethe zu Karoline Herder gesagt. Darin liegt es. Die Eisenbahn aber transportiert uns – und das ist der direkte Gegensatz des Reisens. [...] Die Eisenbahn spannt uns in den Fahrplan, macht uns zu Gefangenen des Reglements, sperrt uns in einen Käfig, den wir nicht einmal öffnen, geschweige denn verlassen dürfen, wenn wir wollen.”136 Diesem Käfig zu entfliehen, sich in der Reiseform deutlich von der auch damals bereits üblichen Sicherheit des Massentourismus abzusetzen und sich selbst erst in Extremsituationen wieder einmal spüren und kennen zu lernen, war wohl die tieferliegende Motivation vieler solcher Reisender. Diese Absicht war bereits von Sven 135Lechenperg, Harald: Auto-Reise wie noch nie. Auf schwierigsten Pfaden von Bombay nach Berlin. In: Berliner Illustrirte Zeitung. 42/1933, Nr. 6, 5.180-183. Die Fotografien dieses Bildberichtes wurden nicht bloß in der BIZ veröffentlicht, sondern über einen längeren Zeitraum in immer wieder anderen Zeitschriften, unter anderer Überschrift, mit neuen Bildlegenden und auch in jeweils anderer Bildauswahl. Vgl. Pohl, a.a.O., S. 118-120. 136Bierbaum, Otto Julius: Mit Der Kraft Automobilia. Berlin 21906, S. 13 f. 49 http://www.mediaculture-online.de Hedin um die Jahrhundertwende formuliert worden: “Doch ich muß ehrlich gestehen, daß ich mich nach den zwei Jahren ruhiger friedvoller Wanderungen durch unbewohnte Teile des Kontinents und nach all meiner strebsamen Arbeit nun einmal nach einem wirklich haarsträubenden Abenteuer sehnte. Ich fühlte das unwiderstehliche Bedürfnis, meine Person in eine Lage zu bringen, in der das Leben auf dem Spiel stand, eine Situation, die Geschicklichkeit und Umsicht erforderte, wenn sie nicht zu einer Niederlage werden sollte [...].”137 Die Brücke, die den heimischen Leser und Betrachter der Illustrierten mit dem gefahrvoll reisenden Abenteurer verband, war in diesen Fällen das Verkehrsmittel, nämlich ein Automobil aus der gewöhnlichen Serienproduktion. Der Leser der Illustrierten sollte etwa beim Bericht Lechenpergs die indischen Bilder und Eindrücke so vor Augen haben, wie er sie mit seinem eigenen Fahrzeug auch selbst erfahren könnte. Der Perspektive des gewöhnlichen Verkehrsmittels, gewissermaßen das Gewöhnliche im Außergewöhnlichen, entsprachen die Gegenstände, welche die Bildjournalisten in den Sucher nahmen. Das oft beklagte “Ende des Vordergrundes”138, der Verlust der “Tiefenschärfe vorindustrieller Wahrnehmung [bei Fuß- und Kutschenreisen, Anm. d. Verf.], indem durch die Geschwindigkeit [der Eisenbahn, Anm. d. Verf] die nahegelegenen Objekte sich verflüchtigen”139, wurde nunmehr durch die Reiseerfahrungen dieser empfindsamen Einzelgänger wettgemacht: “Am Rande der indischen Straße”140 ist eine weitere Reportage Lechenpergs aus dem Jahre 1934 überschrieben. Dabei ging es Lechenperg wie den meisten anderen Bildjournalisten nicht nur um das aufregend Exotische, sondern darum, das Naheliegende, Gewöhnliche und Alltägliche durch das Zeigen beim Fremden neu zu entdecken und ähnliche Gefühle, Sorgen und Freuden der Menschen deutlich zu machen: Über das Leben und Treiben von ebenso gewöhnlichen Menschen wie den Lesern selbst, nicht von Fremden, sondern von Mitmenschen zu berichten, war das Ziel, wie dies auch Bernd Lohse in seinem persönlichen Bekenntnis zur Fotografie ausdrückte: 137Hedin, Sven: Im Herzen von Asien. Zehntausend Kilometer auf unbekannten Pfaden. Band 2. Leipzig 1903, S. 270 138Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main/Berlin 1981, S. 61 139Ebd. 140Lechenperg, Harald: Am Rande der indischen Straße. In: Berliner Illustrirte Zeitung. 43/1934, Nr. 17, S. 606f. 50 http://www.mediaculture-online.de “Immer dasTypische – bloß keine Sensationen!”141 Freilich drohte dieses “Typische” auch damals bereits durch die starken Einflüsse der westlichen Kultur zerstört zu werden, was einen ungenannten Autor in der Berliner Illustrirten Zeitung von 1924 zu der Überschrift bewegte: “Sehen Sie sich die Welt an! Die nächste Generation sieht sie nicht mehr so malerisch!”142 Solche Warnungen bewirkten wohl eher das Gegenteil, indem sie noch mehr Menschen dazu brachten, nach Übersee zu reisen. Dieser Tendenz des Tourismus, auch die entferntesten Winkel der Erde zu erschließen, die “letzten Paradiese” vor ihrem Ende noch einmal zu erleben und sie gerade dadurch um so schneller zu zerstören, galt die Kritik Wolfgang Webers in einem Reisebericht aus Bali im Jahre 1939: Aus der persönlichen Perspektive des eigenen Erlebens berichtet er in der Ich-Form weniger über die Insel und die Kultur ihrer Bewohner als über die Reise- und Umgangsformen seiner westlichen Mitreisenden. Er charakterisiert deren Verhalten mit dem Motto “Sehen –... Kommen –... Knipsen!”143, distanziert sich selbst aber davon, indem er sich als alleinreisender Entdecker144 darstellt. Indes trifft er doch immer wieder auf Touristen in ihrem “Touristenpferch”145, unter denen eine ihm als Bildmotiv diente, die ihm wohl besonders gut bekannt gewesen sein muß – nämlich seine Ehefrau Gertrud, wie der Bildvergleich mit dem Fotoalbum eines Mitreisenden, F. Wortmann, aus dem Bildarchiv des Überseemuseums Bremen zeigt. Das “Verderben” einheimischer Kulturen durch die Berührung mit der westlichen Zivilisation, ein seit dem 19. Jahrhundert viel geäußerter Topos – der Westen wirke wie ein medizinischer Todeskeim – wurde in den Bildreportagen mit Reiseberichten ebenfalls von einigen Berichterstattern gepflegt. Diese Einstellung führte bei Hugo Adolf Bernatzik sogar zur Forderung einer gewissermaßen zweigeteilten Welt, zwischen deren Hälften es keinerlei Berührungen geben dürfte: Auf der einen Seite die weißen “Herrenvölker”, die sich technisch und zivilisatorisch weiterentwickeln sollten, während auf der anderen Seite die ‘Naturvölker’ nur ja authentisch in ihrer geschichtslos gedachten Ursprünglichkeit zu 51 http://www.mediaculture-online.de verharren hatten. Die nicht unbegründete Furcht vor dem verderbenbringenden Einfluß der westlichen Zivilisation auf die überseeischen Völker wurde darin allerdings von einer sie ‘schützenden’ Überlegung zu einer Legitimation der weißen Vorherrschaft. Furcht und Schrecken Leider besitzen wir kaum authentische Zeugnisse von Fotografierten aus fremden Kulturen über ihre Empfindungen während der Aufnahmen, sondern zumeist nur Aufzeichnungen der westlichen Fotografen und Forschungsreisenden. In diesen ethnographischen Quellen finden sich allerdings deutliche Schilderungen des Unbehagens am fotografischen Aufnahmeprozeß. So berichtet der Ethnologe Paul Ehrenreich 1887 von der zweiten Xingü-Expedition in Zentralbrasilien, daß dort “das Photographieren keine Schwierigkeiten machte, ausser dass die Leute dabei vor Angst heftig zitterten und so den natürlichen Gesichtsausdruck verloren”.146 Ähnliches teilt auch Karl Sofus Lumholtz 1903 von den Tepehuanes aus Mexiko mit: Sie “standen der Kamera in tödlichem Schrecken gegenüber, und eine fünftägige Überredung war notwendig, um sie dazu zu bewegen, vor der Kamera für eine Aufnahme zu posieren. Als sie am Ende einwilligten, sahen sie aus wie Verbrecher unmittelbar vor ihrer Hinrichtung.”147 Auch der Dresdner Naturforscher und Schriftsteller Kurt Boeck schilderte in seinen Reiseerfahrungen aus Indien während des ausgehenden 19. Jahrhunderts “jene fatale Armsündermiene [...], die von dem Bewußtsein des Photographiertwerdens unzertrennlich scheint.”148 Den Fotografen liefen gelegentlich nicht nur ihre “Aufnahmeobjekte” erschrocken davon, als sie merkten, daß alsbald die Platte belichtet werden sollte149, zuweilen kam es auch über das Fotografieren zu regelrechtem Aufruhr und Zusammenstößen, wie im Dorfe Makaya an der Loango-Küste im Südwesten Afrikas. Paul Güssfeldt, Mitglied der von 146Ehrenreich, Paul: Mittheilungen über die zweite Xingu-Expedition in Brasilien. In: ZfE. 22/1890, S. 97 147Lumholtz, Karl Sofus: Unknown Mexico. London 1903, S. 459f. Zitiert nach: Frazer, James George: The Golden Bough. A Study In Magic And Religion. Teil 2: Taboo And The Perils Of Soul. London 31911. Reprint: London 1963, S. 97 148Boeck, Kurt: Indische Gletscherfahrten. Reisen und Erlebnisse im Himalaja. Stuttgart/Leipzig 1900, S. 220 149Vgl. Bürgi, Ernst: Archivalie o. T. des Staatsarchivs Bremen. Sign.: 7, 1025-51/4, S. 298. Zitiert nach Müller, Hartmut: “So sahen wir Afrika”. Afrika im Spiegel früher Bremer Kolonialfotografie 1882-1907. Bremen 1984, S. 24 52 http://www.mediaculture-online.de Adolf Bastian geleiteten Expedition nach der Loango-Küste in den Jahren 1873 bis 1876, berichtete, daß die Dorfbewohner “sich während der Arbeit zusammenrotteten, ihre Mißbilligung erst einzeln, dann zusammen immer lauter zu erkennen gaben, bis sie in ihrer Erregung näher und näher herandrängend sogar Hand an das Dunkelzelt zu legen versuchten, so dass ich aufzubrechen und fast unverrichteter Sache heimzukehren gezwungen war.”150 Nicht so glimpflich erging es um 1863 dem Hauptmann A. Payer, “Photograph in Diensten des Vicekönigs von Egypten”151 dem der aufgebrachte “egyptische Mob seine Blasebalg-Camera als einen verfluchten Cholerakasten zerschlug [...]”152, oder dem Amateur, “der es in Constantinopel versuchte, den Sultan bei seinem Freitagsritt zur Moschee auf der Strasse aufzunehmen. Er gerieth durch den Fanatismus des Volkes in Lebensgefahr, wurde arretirt und des Landes verwiesen.”153 Aus diesen und anderen Beispielen mag man ersehen, welche Konflikte das Fotografieren hervorrief und als wie außerordentlich spannungsgeladen dieser Vorgang empfunden worden sein muß. Seelenvorstellungen154 Die Ursachen für das solcherart geäußerte Unbehagen am Fotografieren liegen zumeist in der Konfrontation von verschiedenen Vorstellungen der Seele oder im Verstoß gegen religiöse Vorschriften begründet. Anders als in unserer heutigen, als modern und fortschrittlich empfundenen westlichen Kultur, die Körper und Seele strikt voneinander trennt und, wie in der technizistischen Apparatemedizin auf die Spitze getrieben, den Körper gleichsam nur als Apparat, als Maschine ohne Zusammenhang mit einem belebenden Prinzip ansieht, gab und gibt es immer auch Vorstellungen, die von einer 150Güssfeldt, a.a.O., S. 17 151Schrank, August Ludwig: O. T. Brief des damaligen Herausgebers der Wiener Photographischen Correspondenz. In: PhotographischesArchiv. 4/1863, S. 194 152Ebd. 153Vogel, Hermann Wilhelm: Photographie in der Türkei. In: Photographische Mittheilungen. 26/1889/90, Nr. 411, Märzheft 2, S.361 154Unter dem Begriff “Seele” wird hier im folgenden ein “’spirituelles’, vitales Element im Menschen”, Haekel, Josef: Religion. In: Trimborn, a.a.O., S. 80, verstanden, ein “Wesenselement des Menschen [...], das seine psychische und physische Aktivität zum Ausdruck bringt.” Thiel, Josef Franz: Stichwort “Vitalseele, Körperseele, Hauchseele”. In: Hirschberg, Walter (Hrsg.): Neues Wörterbuch der Völkerkunde. Berlin 1988, S. 507. Diese Definition auf andere Kulturen zu übertragen, ist naturgemäß problematisch. Die Seelenvorstellungen anderer Völker und Kulturen, ja bisweilen auch die der eigenen, sind in abstrakten Begriffen nur unzureichend wiederzugeben, zumal die Berichterstatter sich in der Schwierigkeit befinden, das Fremde mit Worten für das Eigene darzustellen, gleichsam im Fremden das Vertraute zu suchen und zu beschreiben. 53 http://www.mediaculture-online.de engen Verknüpftheit von Leib und Seele ausgehen. Die uns so geläufige Dualität ist zum Beispiel vielen ‘Naturvölkern’155 fremd. In ihren Vorstellungen werden Beeinträchtigungen des Körpers, Krankheiten und Tod nicht als bloße Funktionsstörungen des Leibes gedeutet, sondern auf Beeinträchtigungen der Seele zurückgeführt.156 Beeinträchtigung meint in diesem Zusammenhang “eine Abwesenheit der Seele”157, oder, daß das “Wesen, dessen Gegenwart das Leben erhalten hat, dem Körper entflohen [...] ist.”158 In den Vorstellungen vieler Völker werden zudem meist mehrere Bestandteile der Seele angenommen. Der Religionsethnologe Josef Haekel unterscheidet in seiner Typologie fünf Seelentypen159, von denen hier die Vorstellungen der Vitalseele, der Egoseele und der Freiseele besonders wichtig sind. Die zuerst genannte Vitalseele stellt die Bezeichnung “eines belebenden Prinzips”160 dar, das zumeist in Verbindung mit einem Körperteil oder dem ganzen Körper als Körperseele gedacht wird. Weit verbreitet ist die Vorstellung von Seele und Atem als Hauchseele, wie sie auch in der Redewendung “das Leben aushauchen” noch durchschimmert. Mit dem Tode kann die Vitalseele vergehen oder aber in anderer Form weiterbestehen. Das zeitweilige Verlassen des Körpers hat Erkrankungen zur Folge.161 155Vgl. Negelein, Julius von: Bild, Spiegel und Schatten im Volksglauben. In: Archiv für Religionswissenschaft. 5/1902, S. 7: “Wir sehen, dass Seele und Leib [...] sich begrifflich völlig decken. Das Leben, die Seele, ist nicht etwa ein Zustand des Körpers, sondern ein materiell gedachtes Fluidum, das sich über alle Teile des Leibes gleichmässig verbreitet und dessen Existenz wie Nichtexistenz an den letzteren geknüpft ist. Daher kann das Bild des Lebens (sie!), die Seele, nur ein Analogon zum Bilde des Körpers sein.” Der Gedanke dieses Fluidums - Haekel, a.a.O., S. 82, spricht auch von “feinstofflich oder ätherisch” - dient gemeinhin als Metapher zur Veranschaulichung eines geistigen, gedachten Prinzips. Vgl. Levy-Bruhl, Lucien: Die Seele der Primitiven. Wien/Leipzig 1930, S. 136 156Vgl. Tylor, Edward Burnett: Primitive Culture. Researches into the development of mythology, philosophy, religion, art and custom. London 1871. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Band 1. Leipzig 1873, S. 429-432. 157Achelis, Thomas: Moderne Völkerkunde, deren Entwickelung und Aufgaben. Stuttgart 1896, S. 250 158Levy-Bruhl, a.a.O., S. 108. Es soll hier im weiteren nicht darum gehen, unterschiedliche Denkstrukturen zwischen “Wilden” und “Zivilisierten” herauszufinden. Dieser von Levy-Bruhl in die Diskussion getragene Standpunkt eines prälogischen Denkens der “Primitiven” gilt gemeinhin als überwunden. Vielmehr gilt es, durchaus im Sinne Tylors, eine fortbestehende “primitive” Schicht im Denken und Fühlen aller Menschen aufzuzeigen. 159Vgl. Haekel, a.a.O., S. 82-84 160Ebd., S. 82 161Vgl. ebd. 54 http://www.mediaculture-online.de Die Egoseele sieht Haekel “als Zentrum des Denkens, Wollens und der Gefühle, als Kern der Persönlichkeit [...] im Wachbewußtsein”162 an, der auch nach dem Tode meist weiter existiert. Mit dem Begriff Freiseele werden von Haekel verschiedene Konzepte wie Bildseele, Schattenseele, Traumseele, Doppelgänger und Alter ego zusammengefaßt, denen gemein ist, daß sie “nur lose am Körper haften, oder gar außerhalb desselben existieren. [...] Die Freiseele gilt manchmal als Art Kopie oder Spiegelbild des lebenden Menschen [... und, Anm. d. Verf.] betätigt sich vorwiegend im Schlaf [...], bei Ausschaltung des Oberbewußtseins. Ergebnisse und Erkenntnisse der Freiseele offenbaren sich im Traum oder in Visionen.”163 In vielen Kulturen stellt man sich so die Träume als bildhaft gewordene Erfahrungen der eigenen Freiseele auf ihren Wanderungen vor. Lucien LévyBruhl spricht im Hinblick auf die Freiseele von einem “zweiten Ich”164, das aber mit dem Menschen auf eine so innige Weise verbunden ist, daß es mit ihm lebt und stirbt. Dieser Teil der Seele “wird abwechselnd als [...] Schatten, Spiegelbild, Echo oder ‘zweites Ich’ (Ebenbild) bezeichnet.”165 Der Schatten eines Menschen oder anderer Lebewesen macht in vielen Kulturen einen wesentlichen Bestandteil seines Wesens aus. In ihm ist das Lebensprinzip, die Seele, enthalten.166 Diese Vorstellung mag aus verschiedenen Quellen herrühren. Zunächst einmal daher, daß sowohl Schatten als auch Hauch und Atem beweglich sind, mithin das Leben verkörpern. “Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens”167 weist in diesem Sinne auf die Herkunft des Wortes Seele vom gotischen Seiwala, dem sich Bewegenden, hin. Der Religionswissenschaftler Julius von Negelein vermutet als Ursache für diesen Zusammenhang hingegen, daß man lebende, stehende oder gehende Personen einen deutlichen Schatten werfen sieht. “Umgekehrt wird der Tote als der Liegende, derTod als der Dahinbettende bezeichnet [...].”168 Woraus sich 162Ebd., S. 82f. 163Ebd., S. 83 164Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 143 165Ebd. 166Vgl. ebd., S. 134. Tylor, a.a.O., Band 1, S. 422 faßt die Seelenvorstellungen der Naturvölker ganz ähnlich zusammen: “Es ist ein dünnes, körperloses, menschliches Bild, seiner Natur nach eine Art Dampf, Häutchen oder Schatten, die Ursache des Lebens und Denkens in dem Individuum, das es bewohnt”. 167Vgl. HddA. Band 9 (1941). Berlin 1987, S. 132-140 und Grimm, Jacob und Wilhelm (Begr.): Deutsches Wörterbuch. Band 8. Leipzig 1893, S. 2233f. 168Negelein, a.a.O., S. 12. Dem HddA., Band 9, a.a.O., S. 133 gilt Negeleins Erklärungsversuch lediglich als “Vermutung” und als “ein Ausgangspunkt unter anderen.” 55 http://www.mediaculture-online.de ergibt: “Der Tote als der Daliegende besitzt eben keinen Schatten”169, weil er flach am Boden liegt. Andere Erklärungsversuche weisen in die Richtung, daß Träume, Wachträume, Halluzinationen und Trance-Erfahrungen die Vorstellungen mit sich brachten, in den dabei aufscheinenden Bildern sähe man die Erlebnisse der eigenen Schatten- und Bildseele oder der fremder Menschen, die sich dazu von ihnen gelöst hätten.170 Wird der Schatten eines Lebewesens verletzt oder gar zum Verschwinden gebracht, so erkrankt sein Besitzer oder er stirbt. Den Schatten verletzen bedeutet, die Seele und damit auch den Menschen zu verletzen. In den Glaubensvorstellungen der Völker gibt es hierfür unzählige Beispiele: “‘Geht ein Basuto unvorsichtigerweise zu nahe dem Wasser hin, mag ein Krokodil seinen Schatten (seriti oder Seele) erfassen, um mit ihm den Körper in das Wasser hinabzuziehen.’ Hier zeigt sich besonders klar die begriffliche Einheit von Schatten und Leben, also auch Schatten und Leib. Man glaubt die Peter Schlemihl-Idee [...] in der Mitte jener afrikanischen Völker wiederentstanden zu sehen”,171 schrieb Negelein 1902. In der Tat scheint “Peter Schlemihls wundersame Geschichte”, von Adelbert von Chamisso im Jahre 1813 niedergeschrieben und im darauffolgenden Jahr veröffentlicht, wie eine Übertragung der Ängste der Basuto in die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts. Schlemihl gibt seinen Schatten, mithin seine Seele, um des bloßen materiellen Vorteils wegen fort, den sein literarischer Gegenspieler, der “Graue”, für ihn bereithält. Dies hat den Ausschluß aus der bürgerlichen Welt zur Folge. Thomas Mann hat 1911 den verlorenen Schatten als “Symbol aller bürgerlichen Solidität”172 gedeutet. Sein Verlust 169Negelein, a.a.O., S. 18 170Vgl. Tylor, a.a.O., Band 1, S. 423, 431-435 und Achelis, a.a.O., S. 248 171Negelein, a.a.O., S. 13. Vgl. auch die vielfältigen Beispiele aus den verschiedensten Völkern und Kulturen bei Tylor, Band 1, a.a.O., S. 423f.; Bastian, Adolf: Die Vorstellungen von der Seele. In: Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hrsg. von Rudolf Virchow und Fr. von Holtzendorff. Berlin NE 10. Serie, 1875, H. 226, S. 9f.; Lubbock, John: The Origin of Civilization and the primitive Condition of Man. London 1870. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden. Jena 1875, S. 182ff.; Frazer, a.a.O., Teil 2, S. 77-99 172Mann, Thomas: Chamisso (1911). In: Gesammelte Werke. Band 10. Berlin (DDR) 1965, S. 45. Vgl. auch Wilpert, Gero v.: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs. Stuttgart 1978, der Chamissos “Schlemihl” eher in der Tradition von Christoph Martin Wielands Satire “Onoskiamachia oder der Proceß um des Esels Schatten”, des 1779 veröffentlichten vierten Buchs des Romanes “Geschichte der Abderiten” (1774-779), als Groteske und Spießersatire sieht. 56 http://www.mediaculture-online.de bedeute, wenn auch nicht den Verlust der Seele als Lebensprinzip, gleichwohl aber “den Verlust des ‘sozialen Ich’”173, wie Benno von Wiese schreibt: “Der Schattenlose ist allein.”174 Der Versuch der Romantiker, den Prozeß der Auflösung überkommener Sozialformen und der schmerzlichen Herausbildung eines bürgerlichen Selbst-Konzepts durch die voranschreitende Industrialisierung zumindest literarisch zu bewältigen, scheint im Zuge des Kulturkontaktes auch in den Stammesgesellschaften zu einer vergleichbaren Irritation zu führen. So berichtet der Ethnologe Edmund Carpenter von einem Forschungsaufenthalt bei den Biami, einem Volk im Hochland von Papua-Neuguinea um 1970175, wo er das Verhalten der Einheimischen untersuchte, die zum ersten Mal Abbildungen von sich in Form von Spiegelbildern und Fotografien zu sehen bekamen. Dabei kam es immer wieder zu heftigen Reaktionen der Betrachter. Als sich einige Dorfbewohner zum ersten Male selbst im Spiegel sahen, “waren sie wie gelähmt. Nach der ersten erschrockenen Reaktion, Bedecken des Mundes und Einziehen des Kopfes, standen sie wie festgenagelt, starrten auf ihr Abbild und nur die Bauchmuskeln verrieten große Anspannung. Wie Narzissus waren sie erstarrt, total fasziniert von ihrem Spiegelbild [...].”176 Bei der Präsentation von Sofortbildern kam es zu ähnlichen Erscheinungen. Es trat hierbei allerdings eine gewisse Verzögerung auf, die aus dem anfänglich noch geringen ‘Verstehen’ der Fotografien177 herrührte. Carpenter mußte durch 173Wiese, Benno von: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Band 1. Düsseldorf 1964, S. 109 174Ebd. 175Carpenter, Edmund: The Tribal Terror of Self-Awareness. In: Hockings, a.a.O., S.451-461 176Ebd., S. 452 177Zu den häufig wiederkehrenden Fragestellungen bezüglich der Fotografie gehört es in der Völkerkunde, ob und in welcher Weise Naturvölker Fotografien zu “lesen”, zu “entziffern” oder eben zu “verstehen” vermögen. So gibt John Collier jr. in seinem Buch “Visual Anthropology: Photography as a Research Method”, New York 1967, S. 53, die Meinung von Fachkollegen wieder, derzufolge schriftlose Völker nicht in der Lage seien, mit Fotografien etwas anzufangen, da sie “nicht zweidimensional zu denken imstande seien”. Für eine solche Annahme finden sich allerdings nur wenige Belege in den ethnographischen Berichten oder in den Veröffentlichungen der Fotozeitschriften zur Fotografie auf Forschungsreisen. Die meisten Reisenden waren sich darin jedoch einig, daß die Fotografierten sich mehr oder weniger schnell auf den Bildern erkannten. Ehrenreich berichtet von den Bakairi im Gebiet des Rio Xingü in Zentralbrasilien, “dass sie das Bild auf der Visirscheibe immer sofort deutlich erkannten, was oft dem ungebildeten Europäer (sic!) das erste Mal nicht gleich gelingt.” Ehrenreich, a.a.O., S. 97. Auch Max Buchner, ein Münchner Arzt, Ethnograph und späterer Direktor des Münchner Ethnographischen Museums, berichtet aus Westafrika, daß “[...] die Porträte, nachdem die erste völlige Unwissenheit über ihren Zweck einmal beseitigt war, doch in der Regel schnell erkannt wurden.” Buchner, Max: Ein Tag in Mussumba. In: A.E.I.0.U. (Pseudonym): Ethnographie und Photographie. In: Photographische Correspondenz. 21/1884, Nr. 286, S. 277. Buchner wird hier von dem Herausgeber im übrigen für seine “beinahe diplomatische Klugheit”, ebd., S. 278, im Umgang mit den Afrikanern gelobt, 57 http://www.mediaculture-online.de Zeigen auf den Körperteil und dann auf dessen Abbildung die Fotografie zunächst einmal verständlich machen. Dann “wurde das Wiedererkennen im Gesicht des Fotografierten allmählich deutlich. Plötzlich bedeckte er den Mund, zog den Kopf ein und drehte sich weg.”178 Die folgende Erstarrung glich derjenigen bei der Betrachtung des Spiegelbildes. Der Abgebildete zog sich zudem häufig “aus der Gruppe zurück, preßte sein Foto an die Brust, zeigte es niemanden und verschwand, um es allein zu studieren”.179 Diese Absonderung von der Gruppe dauerte manchmal bis zu zwanzig Minuten.180 Wie sind diese heftigen Gefühlsreaktionen der Biami zu verstehen, die Carpenter zufolge im allgemeinen bei Stammesvölkern auftreten181, wenn sie die ersten Fotografien von sich zu sehen bekommen? Aus den Seelenvorstellungen vieler Naturvölker ergibt sich, daß sie die Fotografie gleichsam als Analogon, als Vergegenständlichung ihrer “außerhalb” des Körpers liegenden Seelenbestandteile, der verschiedenen Formen der “Freiseele” wie Schatten-, Bildseele, Alter ego, Doppelgänger etc. ansehen. “Ein Spiegel [und auch die Fotografie, Anm. d. Verf] bestätigt diese Vorstellung und tut noch mehr. Er offenbart das symbolische Selbst außerhalb der physischen Erscheinung. Das symbolische Selbst liegt plötzlich offen zutage, ist öffentlich und verletzbar.”182 mit der, er “die Vorurtheile des Volkes zu bekämpfen verstand [...].”Ebd. Auch in neueren Untersuchungen, wie der von Carpenter bei den Biami im Hochland von Papua-Neuguinea, wird berichtet, daß “in erstaunlich kurzer Zeit”, Carpenter, a.a.O., S. 454, ein angstfreier Umgang mit dem fremden Medium gepflegt wurde. Die Dorfbewohner fotografierten sich gegenseitig mit SofortbildKameras: “Nicht mehr verängstigt durch ihre eigenen Porträts, trugen die Männer sie offen an ihrer Stirn.” Ebd. Collier jr. gelangte selbst zu ähnlichen Ergebnissen bei den Navajo im Südwesten der Vereinigten Staaten von Amerika: “Es gab keinen Zweifel daran, daß die Navajo zweidimensionale Bilder interpretieren konnten.” Collier jr. a.a.O., S. 53. Als bemerkenswert hob Collier lediglich hervor, daß sie in sehr spezifischer Weise über die vorgelegten Fotografien sprachen. Der Lebenswirklichkeit entsprechend erhielt er “wenig projektives Material, keine Geschichten, über das Universum oder die Zukunft der Navajo”. Ebd., S. 54. Stattdessen wurden detaillierte Berichte über die Geschehnisse auf den einzelnen Bildern aus Alltagsleben und Landwirtschaft gegeben. Sie waren vermutlich so spezifisch, als wenn ein Fischer von der Nordseeküste Fotografien vom Fischfang etc. beschreiben würde. Auch mit Blick auf andere Beispiele aus den peruanischen Anden und aus Mexiko, vgl. ebd., S. 53-58, äußert Collier jr. die Hoffnung, daß “viele Menschen aus schriftlosen und wenig entwickelten Kulturen ihre Art der Wahrnehmung (<native perception>) auf das zweidimensionale Bild der Fotografie zu übertragen vermögen.” Ebd., S.58 178Carpenter, a.a.O., S. 454 179Ebd. 180Ebd. 181Ebd., S. 451 58 http://www.mediaculture-online.de Als weitere angstauslösende Komponente des fotografischen Kulturkontaktes sind die Persönlichkeitskonzepte der Naturvölker von sich selbst zu nennen. Lévy-Bruhl hatte, allerdings in eurozentrischer Weise, die Grenzen der Persönlichkeit bei ihnen als “ ungewiß, schlecht bestimmt und sogar veränderlich”183 bewertet. “Die Individualität des einzelnen erscheint nicht durch den Umfang seiner Person begrenzt und abgeschlossen.”184 In vielen Kulturen erscheint das Individuum in unserem westlich-bürgerlichen Sinne nicht als das Wesentliche, sondern die soziale Gruppe, die Familie, der Clan oder die Sippe als kleinste soziale Einheit, mit der der einzelne verschmolzen ist. Sie stehen “in einem geradezu organischen Zusammenhang, so daß der einzelne gleichzeitig die Gesamtheit und die Gesamtheit gleichzeitig das Einzelwesen vorstellt”.185 Lévy-Bruhl spricht sogar von einer “Individualität zu mehreren”186, um dieses Selbstkonzept zu charakterisieren. Auch Carpenter sieht für die von ihm besuchten Biami “ein nahtloses Gewebe von Blutsverwandtschaft und Verantwortlichkeit. Sie betrachten sich als integraler Bestandteil der Natur. Sie verschmelzen das Individuum mit der ganzen Gesellschaft.”187 Man muß dies nicht als besondere Form “primitiven Denkens” deuten, wie dies von Negelein und Lévy-Bruhl taten, sondern kann in diesen Kennzeichnungen des Selbstbildes Zeugnisse ausmachen, die eine Lebensweise oder Kultur beschreiben, wie sie sich in Anpassung an eine spezifische Umwelt in langer Zeit entwickelt und als die adäquate herausgestellt hat. Nach der Ansicht Carpenters findet in der Konfrontation des “Stammesmenschen” mit seiner Fotografie somit auch eine harsche Kollision der Selbstkonzepte statt: Auf der einen Seite das Aufgehobensein des Einzelnen in der Gruppe und auf der anderen der atomisierende Blick der Fotografie, das Zerlegen in Einzeltatsachen, das den 182Carpenter, a.a.O., S. 453. Die Vorstellungen unseres Volksglaubens von der bösen Wirkung des Spiegels, wie zum Beispiel das Verhängen oder Umdrehen der Spiegel nach einem Todesfall, weil die Seele des Toten sonst die im Spiegel frei zutageliegende Seele des Betrachters angreifen könnte, sind ganz ähnlich begründet. Vgl. HddA., a.a.O., Band 9, 1941/1987, S. 565-569 183Levy-Bruhl, a.a.O., S. 110 184Ebd. 185Karsten, Rafael: Blood revenge, war, and victory feasts among the Jibaro Indians of eastern Ecuador. In: E. B., o. O. u. J. Bulletin 79, S. 11 f. Zitiert nach Levy-Bruhl, a.a.O., S.100 186Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 83 187Carpenter, a.a.O., S. 458 59 http://www.mediaculture-online.de Fotografierten aus seiner sozialen Einheit zu reißen droht. Die Fotografie “hebt die Individualität, die persönliche Identität hervor [...]. Sie bietet Gelegenheit zur Selbsterkenntnis, Selbstbeobachtung. Sie liefert das zusätzliche Gefühl der Objektivierung des Selbst.”188 Mit anderen Worten: Die Fotografie zeigte den Biami ein Bild ihrer Persönlichkeit im westlichen Sinne, einer Individualität, die losgelöst von ihren sozialen Bindungen erschien. “Wo solche Erfahrung neu ist, kann sie traumatisch sein.”189 188Ebd. 189Ebd., S. 455 60 http://www.mediaculture-online.de Schatten und Bild als Teile der erweiterten Persönlichkeit Viele Völker haben, anders als wir in unserer heutigen westlichen Kultur190 keinen so eng umrissenen Persönlichkeitsbegriff, sondern schließen darin Dinge ein, die uns als unbelebt und nicht mehr als einer Person zugehörig erscheinen würden. Dazu zählen etwa Haare, Fingernägel, Ausscheidungen, also Dinge, die zum Körper gehörten, Fußspuren, Sitzspuren, Speisereste, mithin Dinge, die als Folge von Handlungen einer Person zurückbleiben, aber auch Kleidung und Gegenstände des persönlichen Besitzes. Lévy-Bruhl hat diese Dinge mit dem Begriff des “Zubehörs” und als ”Erweiterung der Persönlichkeit”191 bezeichnet. Das Wort “Zubehör” ist allerdings nicht in unserem Sinne als Gegenstand zu verstehen, der einerseits getrennt wahrgenommen wird, andererseits aber einer Person gehört. Vielmehr verschmelzen die verschiedenen Möglichkeiten des “Zubehörs” mit der Person selbst, sie stellen “integrierende Bestandteile der Persönlichkeit”192 dar, sie bilden ein Wesen. Diese Identität von “Zubehör” und Persönlichkeit gilt naturgemäß auch für den Schatten, das Spiegelbild oder andere Formen von Abbildungen. Sie sind keine außenliegenden Gegenstände, die getrennt von der Persönlichkeit aufgefaßt werden, sondern in der Anschauung vieler Völker “sind der Schatten, das Bild usw. von Haus aus in der Persönlichkeit inbegriffen. Sie sind im vollsten Sinne des Wortes Teile von ihr: die Partizipation ist eine Vollkommene”.193 In diesem Persönlichkeitskonzept kommt nicht nur der Unversehrtheit des Körpers, dem Funktionieren der Organe und der Unverletztheit eine Bedeutung für das Leben und die Gesundheit des Menschen zu, sondern eben auch der Unversehrtheit des “Zubehörs”. “Die Unversehrtheit dieser Dinge erscheint [als, Anm. d. Verf.] eine Conditio sine qua non der Sicherheit und des Lebens der Menschen.”194 Wenn es Feinden oder, wie in dem erwähnten Beispiel, einem Krokodil gelingen würde, dieses “Zubehör” zu erlangen “und 190Es muß hier ausdrücklich betont werden, daß in unserem “Aberglauben” oder Volksglauben die Vorstellungen des “Zubehörs” als einer “Erweiterung der Persönlichkeit” durchaus noch lebendig sind. Diese Vorstellungen sind also nicht nur als ausschließliches Spezifikum der Vorstellungswelt der ‘Naturvölker’ anzusehen, wie dies noch Lévy-Bruhl tat. 191Vgl. Ldvy-Bruhl, a.a.O., S. 118 192Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 124 193Ebd., S. 154 194Ebd., S. 125 61 http://www.mediaculture-online.de das betroffene Individuum darum weiß, wird es sich für unrettbar verloren halten”.195 Dies gilt um so mehr für solche Dinge des Zubehörs, die in besonderer Weise mit der Lebenskraft oder der Seele identifiziert werden, wie Schatten oder Abbild.196 Dabei ist in Erinnerung zu rufen, daß Gesundheit, Wohlbefinden oder Unversehrtheit im Denken vieler Völker nicht vom reibungslosen Ablauf der körperlichen Funktionen bestimmt werden, sondern daß vielmehr die Unversehrtheit der Seele den Ausgangspunkt der Überlegungen über Krankheit oder Gesundheit darstellt: “Solange ‘das Leben’, [...], ‘das Lebensprinzip’, die ‘Lebenskraft’ oder die ‘Seele’ in ihm vorhanden ist, bleibt der Mensch lebend und gesund. Wenn es ihm verloren geht [...], muß er mehr oder weniger rasch sterben.”197 Für uns hat unser Bildnis “etwas außerhalb unserer Persönlichkeit gelegenes, von ihr getrenntes”, schreibt Levy-Bruhl.198 Für uns “drückt es Ähnlichkeit, nicht eine Identität aus. Mein Bildnis hat ein von dem meinen völlig getrenntes Dasein und sein Los hat gar keinen Einfluß auf mein Geschick.”199 Anders dagegen in den Vorstellungen vieler “Naturvölker”: Dort ist es seiner Ansicht nach mehr als eine Abbildung, eine Kopie, sondern “es ist das Original selbst. [...] Mein Bild, mein Schatten, mein Spiegelbild, mein Echo usw sind buchstäblich ich selbst.”200 Diese Anschauungen sind allerdings nicht nur, wie Lévy-Bruhl schrieb, bei den “Naturvölkern”, sondern auch in unserem Volksglauben anzutreffen. Dem “Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens” zufolge sind Spiegelbild, Abbildung und Schatten gleichsam “ein Stück erweiteres Selbst, animistisch als Seele gedeutet”201 und somit “ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit”.202 195Ebd. Vgl. auch Negelein, a.a.O., S. 17, demzufolge “die Vernichtung oder Verletzung des Schattens der Tötung der Persönlichkeit des Betreffenden dient”, und Frazer, a.a.O., Teil 2, S. 77-79, der in der Zusammenfassung dazu schreibt: “Die menschliche Seele als Schatten betrachtet, so daß die Verletzung des Schattens die Verletzung des Menschen bedeutet”. 196Vgl. Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 124: “Das ‘Zubehör’ wird in gewissen Fällen als das ‘zweite Ich’ oder Ebenbild des Individuums betrachtet, und dieses ‘zweite Ich’ ist wieder das Individuum selbst und kann an dessen Stelle treten.” 197Ebd., S. 128 198Ebd., S. 154 199Ebd. 200Ebd. 201HddA., a.a.0., Band 9, S. 550 202Ebd. Vgl. auch ebd., S. 134. Dort wird der Schatten ähnlich wie bei Lévy-Bruhl “zur erweiterten Sphäre der Person” gezählt. 62 http://www.mediaculture-online.de Schatten und Bild sind also nicht etwa ein “zweites Ich”, das ein vom “ersten” gesondertes Eigenleben führt, sondern nur Aspekte, “eine andere Auffassung des einen einzigen ‘Ich’”.203 So sehen wir, wie im Bilde die “geistige Wesenheit des Menschen, die Quintessenz seiner Existenz, festgenagelt erscheint”.204 Diese existentielle Aussage über uns und unser Wesen wünschen wir zuweilen nur ungern in die Hand anderer Menschen zu legen, zumal, wenn wir wenig darüber wissen, was mit unserem Bild geschieht. Die Fotografie vermag es durch die Konservierung winziger Zeitbruchstücke und durch die ihr innewohnenden gestalterischen Möglichkeiten, ein Bild von uns zu entwerfen, das von unserem Selbstbild mehr oder weniger deutlich abweicht. Diesem Medium wird daher auch gern eine enthüllende, bisweilen auch entlarvende Kraft205 nachgesagt. In den Vorstellungen vieler Völker ist es nicht immer nötig, daß Abbildung und Original genau übereinstimmen oder sich einander besonders ähnlich sein müssen. “Die Ähnlichkeit drückt in gewissen Fällen die Partizipation (oder die Wesensgemeinschaft) aus: sie macht aber nicht deren Wesen aus, ist nicht dazu notwendig.”206 Die besondere Wirkung des Bildes beruht auf der Gemeinsamkeit des Dargestellten mit seiner Abbildung. Auch der Bilderzauber des Volksglaubens, das Verwünschen der abgebildeten Person durch Herbeirufen von Unglück, aber auch das Herbeiwünschen eines geliebten Menschen und das Bitten um Glück oder Gesundheit, “beruht auf dem Glauben an den innigen, bis zur Identifikation gehenden Zusammenhang von Bild und Dargestelltem”.207 Lévy-Bruhl nennt dies eine “imaginäre Konsubstantialität”208, die den Betrachter anrührt, und Negelein spricht im Gegensatz zu Reproduktionen des Originals von den Abbildungen als “Substituten”209, also von Stellvertretern und faßt zusammen: “An die Vorbedingung der photographischen Treue ist niemals und nirgend zu denken”210, denn 203Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 155 204Negelein, a.a.O., S. 11 205Vgl. Sontag, a.a.O., S. 20 206Levy-Bruhl, a.a.O., S. 157 207HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 1293 208Lévy-Bruhl, a.a.O., S. 157 209Negelein, a.a.O., S. 9f. 63 http://www.mediaculture-online.de die Fotografie kann ihm das menschliche Antlitz nur in “seinem augenblicklichen, zufälligen Zustande wiedergeben”.211 Max Dauthendey schildert 1912 in seinen Erinnerungen “Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert” das Erstaunen, das der Anblick der ersten fotografischen Porträts (Daguerreotypien), die jener angefertigt hatte, bei den Zeitgenossen hervorrief: “Man getraute sich auch zuerst nicht, so erzählte oft mein Vater, die ersten Bilder, die er anfertigte, lange anzusehen. Man scheute sich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, daß die kleinen winzigen Gesichter der Personen, die da auf dem Bilde waren, einen selbst sehen könnten [...].”212 In diesem Bericht schwingt etwas von dem Motiv des “Spiegels mit Erinnerung” mit, der Furcht vor dem Doppelgänger, der einem wie das Spiegelbild entgegenblickt, aber darin durch die Kunst des Fotografen festgehalten wird. Diese Abbildungen erschienen den Zeitgenossen geradezu als zweites Ich oder als “Quintessenz der Persönlichkeit”213, wie Negelein es nennt. Auch wenn zur Darstellung dieser “Realität im höheren Sinne”214 nicht unbedingt fotografische Genauigkeit erforderlich schien, so muß doch das Erstaunen in vielen Fällen ein um so größeres gewesen sein, je präziser die Abgebildeten dargestellt wurden – wie eben in der Fotografie: “Je größer die Aehnlichkeit eines Bildes, um so schlimmer ist es nach ihrer Meinung [der “Naturvölker”, Anm. d. Verf.] für den Abgezeichneten. Nur auf Kosten des Originals [...] könne eine Copie so lebensvoll sein”215, heißt es unter anderem 1875 in John Lubbocks “Entstehung der Civilisation” als Zusammenfassung von Berichten über die Reaktionen der nordamerikanischen Indianer auf das Porträtiertwerden. 210Ebd., S. 10. Vgl. HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 1293: “Das Bild braucht natürlich auch nicht photographisch getreu zu sein; es genügt eine Andeutung, etwa drei Nägel in einen Baum geschlagen, von denen [beim Bilderzauber, Anm. d. Verf] je einer dem Kopfe, der Brust und dem Bauch gilt.” 211Negelein, a.a.O., S.28. Negelein macht hier einen deutlichen Unterschied zwischen Abbild = Fotografie und Bild in einem höheren Sinne; im Gegensatz zu der seiner Ansicht nach bloß abbildenden Fotografie schreibt er der “porträtierenden Kunst”, ebd., “die höhere Wahrheit zu, [die, Anm. d. Verf] das Geheimnis des individuellen Charakters für Vergangenheit und Zukunft löst.” Ebd. 212Dauthendey, Max: Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert. München 1912, S. 72 213Negelein, a.a.O., S. 27 214Ebd. 215Lubbock, a.a.O., S. 17 64 http://www.mediaculture-online.de Die Furcht vor der Fotografie und ihre Ursachen James George Frazer gibt im zweiten Teil seines Hauptwerkes “The Golden Bough” (deutsch: “Der goldene Zweig”) unter der Überschrift “Die Gefahren der Seele” einen eindrucksvollen Bericht von Edward William Nelson216 aus dem Jahre 1899 wieder, der für die Erklärung der Ängste vor der Fotografie und dem Fotografiertwerden einigen Aufschluß gibt: Als ein Forscher am unteren Yukon in Alaska seine Kamera mit dem großen Stativ aufgebaut hatte, um ein Bild des Dorfes und seiner Bewohner aufzunehmen, rannten ihm die letzteren erst einmal davon. Daher ging er daran, die Häuser zu fotografieren. Er richtete seine Kamera darauf ein und stellte scharf, wozu er unter seinem schwarzen Tuch verschwand. Währenddessen erschien der Häuptling und wollte auch einmal einen Blick unter das Tuch werfen. Die Einheimischen hatten sich inzwischen wieder aus ihren Häusern hervorgetraut und gingen davor ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Der Häuptling betrachtete dieses Treiben eine kleine Weile auf der Mattscheibe der Kamera, um dann plötzlich seinen Kopf zurückzuziehen und aus voller Kehle zu brüllen: “Er hat alle unsere Schatten in diesem Kasten!” Allgemeine Panik breitete sich in der Gruppe aus und augenblicklich waren alle in ihren Häusern verschwunden. Es ist nicht mehr zu ergründen, ob der Häuptling auf der Mattscheibe der Kamera neben den Dorfbewohnern auch tatsächlich deren Schatten wahrnahm oder ob er die schemenhaften Abbildungen, in denen sich seine Mitmenschen seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend auf der Mattscheibe abzeichneten, als Schatten bezeichnete. Gleichwie, der Schatten wie auch das Abbild gehörten in der Vorstellung der Eskimo untrennbar zu der jeweiligen Person. Wer seinen Schatten und damit seine Seele verlöre, der würde auch demzufolge vor Gram vergehen und bald sterben. Nun sah der Häuptling Schemen oder Schatten seiner Mitmenschen unter einem dunklen Tuch verborgen in einer geheimnisvollen Kiste. Auch wenn die Fotografierten nach wie vor prächtige Schatten werfen, mußte doch der Eindruck entstehen, als befände sich wenigstens ein Teil des Schattens und der Seele nunmehr in der Kamera und damit im Besitz des Fotografen. Dieser Verlust eines Teils der Seele wird vielfach als gravierende Einbuße der Vitalkraft oder Lebensenergie verstanden. Güssfeldt berichtet zutreffend von dem 65 http://www.mediaculture-online.de “stummen Staunen, mit dem das Erscheinen des Bildes [beim Entwickeln, Anm. d. Verf.] auf der Platte betrachtet wurde”217 und der Annahme der Menschen, daß darin “ein Theil der lebendigen Kraft des Individuums auf jene [die Platte, Anm. d. Verf.] übergegangen, also für diese verloren sei”.218 Der Gedanke, durch den Verlust dieser Lebenskraft bald sterben zu müssen, wird auch von Kurt Boeck aus Indien überliefert, demzufolge “die meisten Hindus eine unbesiegbare Angst vor dem Photographiertwerden bezeigten. Mein Babu [ein einheimischer Schreiber, häufig ein Bengali, der des Englischen mächtig war, Anm. d. Verf] hatte mir diese Furcht aus der weit verbreiteten Annahme erklärt, daß der, der das Bild eines anderen Menschen anfertige und mit sich davontrüge, etwas von der Seele des Abgebildeten mitnähme.”219 Solche Befürchtungen führten neben dem verständlicherweise nachdenklichen und erschrockenen Gesichtsausdruck der Fotografierten auf einigen Fotografien zu einer deutlichen Abwehrhaltung des Körpers. Gelegentlich drehten sich die Fotografierten weg und warfen den Fotografen über die Schulter hinweg ihrerseits noch einen ziemlich grimmigen und vielleicht auch “bösen” Blick zu, wie dies das Bild des Schweizer Ethnologen Alfred Bühler verdeutlicht, das er um 1931 von einer “Frauenversammlung in Mataworei” auf den Admiralitätsinseln aufnahm. Eine ähnliche Reaktion zeigen auch die Menschen in zwei Fotografien von Fritz Sarasin aus Celebes, die um 1902/03 entstanden. In einer Abwehrgeste wird der rechte Arm schützend vor den Oberkörper gehalten, während die linke Hand zum Mund geführt ist, um diesen vor dem Auge der Kamera zu verschließen. Auf diese Weise dachte man wohl, sich vor dem Fremden abzuschließen, den Atem am Ausströmen zu hindern und damit möglichst die Atem- oder Hauchseele bei sich zu behalten, damit sie nicht von der Kamera angezogen würde und ihrem Besitzer dann verlorenginge.220 Ebenso bedeutsam ist die Furcht, daß durch den geöffneten Mund Dämonen und böse Geister, ähnlich dem 217Güssfeldt, a.a.O., S. 16 218Ebd., S. 17 219Boeck, a.a.O., S. 220. Zusammenfassungen ähnlicher Berichte über die Abbildungsfurcht, sowohl gegenüber Zeichnung und Malerei als auch gegenüber der Fotografie, finden sich bei Lubbock, a.a.O., S. 1719; Andree, Richard: Ethnographische Parallelen und Vergleiche. Neue Folge. Leipzig 1889, S. 18-20; Negelein, a.a.O., S. 10f., 24, 32f.; Frazer, a.a.O., Teil 2, S. 96-100. Vgl. auch die entsprechenden Stichworte im HddA: “Photographie”. In: Band 9. 1941/ 1987, S. 19f.; “Bild”. In: Band 1. 1927/1987, S. 1282-1298, und insbesondere ebd., S. 1296 unter dem Stichwort “Abbildungsfurcht”. 220Vgl. HddA., a.a.O., Band 6. 1935/ 1987, S. 623f. 66 http://www.mediaculture-online.de “bösen Blick”, die vom Fotografen und seiner Kamera ausgehen, in den Körper eindringen könnten.221 Die Sorge der Menschen um ihre Unversehrtheit drückt sich zudem augenfällig in den angestrengt zusammengezogenen Augenbrauen aus; die Operationen des Fotografen werden äußerst skeptisch betrachtet. Nicht ohne Grund schreiben dazu die Vettern Sarasin in ihrem Reisebericht zur Aufnahme der “Frauen von Bada im Festschmuck”: “Ein Trüppchen Frauen kommt an, die wir gleich zu photographieren versuchen wollen; es kostet viele Arbeit, sie kirre zu machen.”222 Ganz ähnlich reagierte wohl auch eine Efé-Pygmäin aus Zaire gegenüber dem Ansinnen des Ethnologen und Anthropologen Paul Schebesta, sie zu fotografieren. Sie hält gleichfalls ihre Hand schützend vor den Mund. Die leise Trauer und Melancholie der Fotografierten über den durch verschiedene Formen der Aufnahme erlittenen Verlust läßt auch der Bericht des Anthropologen und Ethnologen Rudolf Pöch von seiner Reise nach Südafrika in den Jahren 1907 bis 1909 deutlich werden: Ein “Kalahari-Buschmann” aus einem Orte, an dem Pöch “fast ein Vierteljahr gestanden [...] und von einem Volksstamme photographische, phonographische und kinematographische Aufnahmen gemacht hatte, [...] sagte, als Pöch aufbrach, anscheinend ganz betrübt: ‘Nun hast du uns unsere Tänze, unsere Gesänge, unsere Sprache und unsere Porträts genommen, und alles geht weg in dein Land!’”223 Die für Negelein so “unverständliche Scheu vor dem harmlosen Lichtbild-Apparat”224 wird nachvollziehbar durch die Kenntnis der sie begründenden Persönlichkeits- und 221Ebd., S. 621f. 222Sarasin, Paul und Fritz: Reisen in Celebes. Ausgeführt in den Jahren 1893-96 und 1902-03. Band 2. Wiesbaden 1905, S. 104 223Pöch, Rudolf: Das Photographieren auf anthropologischen Forschungsreisen. In: Photographische Correspondenz 47/1910, S. 111. Vgl. auch Zabel, Rudolf: Erlebnisse berühmter Forscher unter den Wilden [...]. Hamburg 1910, S. 503, wo über die Reaktion der Batwa, eines zentralafrikanischen Pygmäenvolkes, auf die anthropologische Vermessung berichtet wird. Sie waren der Meinung, “daß ihr Leben nun in den Büchern der Weißen liege”. 224Negelein, Julius von: Weltgeschichte des Aberglaubens. Band 1. Die Idee des Aberglaubens. Sein Wachsen und Werden. Berlin/ Leipzig 1931, S. 112. Für die Scheu vor der Fotografie führt das HddA., a.a.O., Band 9. 1941/1987, S. 19, drei Gründe an, nämlich “die unheimliche Ähnlichkeit des Lichtbildes sowie die Schnelligkeit und Mysteriosität des ganzen Verfahrens.” 67 http://www.mediaculture-online.de Seelenvorstellungen, nach denen “der Besitzer des Bildes den Abgebildeten in seiner Gewalt hat, oder, wie es auch ausgedrückt wird, das Bild raubt die Seele”.225 Pöch berichtet aus Neuguinea von einer ähnlich lautenden Bezeichnung der Einheimischen für das Fotografieren, nämlich “die Seele einfangen”226, und der Missionar Ernst Bürgi sieht die Furcht der Einheimischen in Togo gleichfalls in dem Glauben begründet, “der Weiße kann ihre Seele einfangen”.227 Auch die Canelos-Indianer meinten nach einer Schilderung von Sarkady, “ihre Seele werde mit dem Bilde fortgetragen. Es war für sie jedoch zu spät, das Negativ war aufgenommen und sie waren nun untröstlich, daß sie ihre Seele verloren hatten”.228 Nicht umsonst nannten die nordamerikanischen Indianer die Fotografen “Shadow-Catcher”229, Schattenräuber, oder, im übertragenen Sinne, Seelenräuber. 225HddA., a.a.O, Band 1. 1927/1987, S. 1296. Vgl. die Überschrift des entsprechenden Kapitels bei Andree, a.a.O., S. 18: “Bildnis raubt die Seele.” 226Pöch, a.a.O., S. 110 227Bürgi, a.a.O. Zitiert nach Müller, a.a.O., S. 24f. 228Sarkady: o. T. In: Journal of the Anthropological Institute. 9/1880, S. 392. Zitiert nach Andree, a.a.O., S. 19 229Shadow Catchers. Photographs of Native Americans from the Huntington Library. Ausstellungskatalog. San Marino, Kalifornien, 1985, S. 4 68 http://www.mediaculture-online.de Der Verlust der Seele oder eines Teils der Persönlichkeit wird auch deswegen als so gravierend empfunden, weil das Verlorene, wie im Falle einer Fotografie besonders deutlich, in den Besitz eines anderen Menschen übergeht, der somit dem Fotografierten großen Schaden zufügen könnte. Wie durch Beeinträchtigungen des Schattens oder Spiegelbildes die jeweilige Person geschädigt werden würde, sah man auch den Abgebildeten an den Besitzer der Abbildung schutzlos ausgeliefert. So wollten sich die Giljaken an der Mündung des Amur um 1880 nicht porträtieren lassen, damit der Zeichner nicht über das Bild in den Besitz ihrer Seelen gelangen sollte. Der Zeichner hätte nämlich durch Zerreißen der Bilder auch der Existenz der dargestellten Menschen ein Ende machen können.230 Arthur Baessler berichtet 1889 von “der fast unüberwindlichen Abneigung” der Menschen im Malaiischen Archipel, “ihr Bild bei Lebzeiten aufnehmen zu lassen, – sie glauben entweder, dass sie sogleich sterben müssen, oder dass der Betreffende, der ihr Bild in den Händen hat, dadurch vollständige Macht über sie gewinnt und sie dann willenlos alles das thun müssen, was er dem Bilde befiehlt”.231 Ähnliche Berichte gibt Baessler an anderer Stelle232, Adolf Fischer 1903 von den Selung im Mergui-Archipel in Südbirma233 und Güssfeldt 1879 von der Loango-Küste im Südwesten Afrikas234. 230Schrenck, Leopold von: Die Völker des Amurlandes. St. Petersburg 1881, S. 215. Zitiert nach Andree, a.a.O., S. 20 231Baessler, Arthur: Reisen im Malayischen Archipel. In: ZfE. 21/1889, S. 121 232Baessler, Arthur: Reisen im Malayischen Archipel. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 22/1890, S. 494f. 233Fischer, Adolf: Über die Selungs im Mergui-Archipel in Südbirma, sowie über die südlichen Shanstaaten. In: ZfE. 35/1903, S.986 234Güssfeldt, a.a.O., S. 16f. 69 http://www.mediaculture-online.de Paul Schebesta “Efé da Dese”, Porträt einer kleinwüchsigen Frau, die sich ihre Hand vor den Mund hält, Ituri-Gebiet, Belgisch-Kongo, heutiges Zaire, 1929/30 oder 1934/35. Anthropos-Institut, St. Augustin. Kameraauge und “böser Blick” Neben diese Vorstellungen des Seelenraubes und der fotografischen Spielart des Bilderzaubers tritt noch der weitverbreitete Volksglauben an den “bösen Blick” als furchtauslösendes Moment hinzu, wie es einige ethnographische Quellen verdeutlichen. Unter dem “bösen Blick” versteht man gemeinhin solche Blicke, die als verderbliche Ausstrahlungen über die Augen, darum auch “Augendunst”235 genannt, von Personen ausgesandt werden, deren “Seele durch irgendeine böse Eigenschaft, wie Zorn, Eifersucht, Neid und dergleichen, affiziert [das heißt von einer Krankheit befallen, Anm. d. Verf] ist. Denn eine derartig verderbte Seele beeinflußt den Körper und seine Säfte und sendet aus den Augen gleichsam vergiftete Pfeile aus, die Menschen und Tiere krank machen und leblose Dinge zu beschädigen vermögen.”236 Solch zerstörerische Kräfte werden der Fotografie in vielen Kulturen zugeschrieben: Der Fotoapparat wird zu einem 235HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 685 236Ebd. 70 http://www.mediaculture-online.de “Cholerakasten”237, das heißt seine Emanationen lassen den Fotografierten krank werden. Oder er beherbergt dadurch, daß er bereits viele Menschen, darunter auch böse oder zauberkräftige, abgelichtet hat, auch deren verderbliche Ausstrahlung oder auch diejenige des Fotografen. Diese wird wiederum beim Fotografieren auf die Abgebildeten gerichtet und führt zu Krankheit oder Tod. Die Kamera mit den schimmernden und spiegelnden Linsen ihres Objektivs wird so zu einem “gläsernen Teufelsauge”238, dessen Blick man sich besser nicht aussetzen sollte. In diese Richtung weist auch jene Episode, die der Schweizer Bildjournalist und Schriftsteller Walter Bosshard um 1927 bei einem Besuch des Königshauses von Ladakh im Himalaja erlebte. Nachdem er den jungen König, seine Frau und die Königinmutter fotografiert hatte, wollte Bosshard noch auf Wunsch der jungen Königin den kleinen, erst einjährigen Prinzen aufnehmen. Allein dies wurde ihm jedoch durch die Königinmutter verwehrt: “Die alte Dame fürchtete, daß in dem schwarzen unheimlichen ‘Ding’, der Kamera, das ‘böse Auge’ verborgen sein könnte, oder daß die das Schloß umgebenden Dämonen, durch die Vorbereitungen für die photographische Aufnahme aufmerksam gemacht, den jugendlichen Prinzen rauben könnten.”239 Die Furcht vor dem ‘bösen Blick’ führte zu verschiedenen Formen von Abwehrhaltungen bei den Fotografierten, die sich darin ähneln, das Objekt des fotografischen Interesses zu verhüllen oder aber selbst den Blickkontakt mit dem Fotografen und dem “Auge” der Kamera tunlichst zu vermeiden. Boeck berichtet von den “widerwilligen”240 Stellungen, welche die meisten Familienmitglieder einer indischen Hochzeitsgesellschaft im Punjab einnahmen: “Fast könnte es sogar scheinen, als ob die Brautmutter, die neben ihrer, man möchte sagen hermetisch verschleierten Tochter kauert, die Faust drohend ballt, um ihrer Besorgnis vor dem bösen Blick des aus dem Apparat hervorlugenden blanken Objektivauges Ausdruck zu geben”.241 In ganz ähnlicher Weise halten auch auf anderen Fotografien die Menschen ihre Hand vor Augen, um eben nicht dem “bösen Blick” der 237Schrank (1863), a.a.O., S. 194 238Seligmann, Siegfried: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker. Band 1. Berlin 1910, S. 166. Michel Tournier sieht in seinem Roman “Der Goldtropfen”, Hamburg 1987, S. 14, 27, diese Vorstellung als wesentliche Triebkraft für die heftige Abneigung der nordafrikanischen Oasenbewohner gegen die Fotografie. 239Bosshard, Walter: Durch Tibet und Turkestan. Reisen im unberührten Asien. Stuttgart 1930, S. 30 240Boeck, Kurt: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Leipzig 1903, S. 212 241Ebd. 71 http://www.mediaculture-online.de Kamera ausgesetzt zu sein und um ihrem verderblichen “Bannstrahl” zu entgehen. Hierin offenbaren sich deutlich die beiden Aspekte der Furcht vor dem Fotografiertwerden: die Befürchtung, es könne einerseits ein Seelenbestandteil entweichen und andererseits könnte der ‘böse Blick’, von der Kamera ausgehend, den Menschen schädigen. Die bösen Geister konnten nun nicht etwa nur in der Kamera enthalten sein, sondern auch in den Fotografien anderer Menschen. Auch hier wird von ähnlichen Reaktionen berichtet, dem Zukneifen der Augen oder dem Weg schauen.242 Die Vorstellungen des “bösen Blickes” sind in allen Kulturen anzutreffen und bewirkten eine große Vielfalt von Schutzvorkehrungen: Abwehrgesten, Amulette, Plastiken, gezeichnete oder gemalte Symbole an den Hauswänden und viele andere. Unter den Abwehrmitteln zählen besonders die Gesten zu den weit verbreiteten Formen: Die sogenannte “Feige”, auch “Neidfeige”243 genannt, bei der der Daumen zwischen die gekrümmten Zeige- und Mittelfinger gehalten wird, und diejenige, bei der aus der Faust Zeigefinger und kleiner Finger vorgestreckt werden. Der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen, wie ihn eine Daguerreotypie aus den frühen 40er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigt, scheint auch nicht eben glücklich über die Fotografie zu sein, die man von ihm aufnahm. Der mißgestimmte Gesichtsausdruck findet eine zusätzliche Bekräftigung in einer Schutzgeste seiner linken Hand gegen den “bösen Blick” des Kameraauges – mithin auch ein Beleg, daß die Ängste vor dem Fotografiertwerden keineswegs nur eine Sache der “Naturvölker” waren. Die Übertragung der Vorstellungen des “bösen Auges” und des “bösen Blicks” auf die Kameras der Fotografen dürfte auch mit dem Erschrecken zusammenhängen, das stets auftrat, wenn die Fotografen aufgrund zu geringer Helligkeit und mangelnder Lichtempfindlichkeit ihres Aufnahmematerials gezwungen waren, Magnesiumpulver als Blitzlicht abzubrennen. Die gleißende Helligkeit des Magnesiums, gepaart mit dem lauten Geräusch der gleichzeitigen Verpuffung mag zu der weit verbreiteten Vorstellung geführt haben, Kamera und Gewehr hätten mehr als nur den Knall beim Abdrücken gemeinsam. 242Vgl. Schebesta, Paul: Orang Utan. Bei den Urwaldmenschen Malayas und Sumatras. Leipzig 1928, S. 39. Schebesta berichtet hier von den Ple, einem Volksstamm im Inneren der Halbinsel Malakka (Malaya). Vgl. HddA., a.a.O., Band 1. 1927/1987, S. 698 zum Stichwort “Augen bedecken”. 243Ebd., S. 686. Vgl. Rettenbeck, Lenz: “Feige”. Wort-Gebärde-Amulett. München 1955, S. 9-13 und 42 sowie die Abb. 11: “Chinese macht zur Abwehr gegen den Photographen die Feige.” 72 http://www.mediaculture-online.de Schebesta berichtet von einem Besuch im Jahre 1924 bei den Semang-Djahai im Inneren der Halbinsel Malakka (Malaya): “Vor dem [Foto-, Anm. d. Verf.] Apparat zeigten die Mädchen große Angst und vermuteten darin eine Höllenmaschine: ‘Na bedel ie!’ (Er erschießt mich!) rief das kleinere aus und konnte nur mit Gewalt zurückgehalten werden, bis das Bild fertig war.”244 Gelegentlich werden in dem Bild, das die Fotografie von einem Menschen übermittelt, schlechte Vorzeichen gesehen, die auf Krankheit oder gar baldiges Ableben hindeuten. So bekam der Sibayak (Häuptling) Pa Melga der Karo-Batak auf Sumatra von Tassilo Adam, einem holländischen Plantagenverwalter in Diensten der “Deli Maatschappij”, Amateurfotografen und Sammler von Ethnographica um 1920, zwei Fotografien geschenkt: Eine zeigte die ganze Person von Kopf bis Fuß und maß dabei etwa einen Meter in der Höhe. Das andere Bild stellte ein Porträt des Mannes dar und zeigte seinen Kopf in Lebensgröße. Die erstgenannte Fotografie fand große Zustimmung, während Pa Melga das Porträt nur widerwillig annahm. Nachdem “er es lange Zeit betrachtet hatte, legte er es offensichtlich mißvergnügt zur Seite.”245 Als der Fotograf nach dem Grund seiner Ablehnung frage, “umwölkte sich Pa Melgas Stirn und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, mit beiden Bildern fort”.246 Die Abneigung des Sibayak rührte vermutlich daher, daß ihn das Bild seines Kopfes an die Schädel seiner Ahnen gemahnte. “Er und seine Frauen sahen das Foto als ein Omen dafür an, daß sein Schädel auch bald neben denen seiner Vorfahren liegen würde.”247 Die Familie bewahrte diese Fotografie ganz folgerichtig auch auf einer Matte bei diesen Schädeln auf und bat Adam ängstlich darum, das Porträt wieder mitzunehmen.248 244Schebesta, Paul: Bei den Urwaldzwergen von Malaya. Leipzig 1927, S. 147 245Adam, Tassilo: Battak Days and Ways. In: Asia 30/1930, S. 123. Ich verdanke den Hinweis auf diese Episode Achim Sibeth vom Linden-Museum Stuttgart. 246Ebd., S. 124 247Ebd., S. 125 248Ebd. 73 http://www.mediaculture-online.de Kolonialismus Rudolf Virchow zufolge war “die Anthropologie wie eine Art Jagd zu betrachten”249, die sich entweder auf das lebende “Material” richtete, das in möglichst großer Zahl zu beschreiben und vermessen war, oder den Toten galt: “Zuweilen ist es möglich, ganze, frisch abgeschnittene Köpfe zu erhalten. [...] Wo es irgend geschehen kann, da ist es daher sehr zu empfehlen, solche Gelegenheiten nicht zu verabsäumen.”250 Für den Transport dieser ‘Reisemitbringsel’ besonderer Art riet Virchow zu einem “verlötheten und mit Spiritus gefüllten Zinkgefäss”251, falls nicht vorhanden, sollte man die abgeschnittenen Hände oder Füße einfach trocknen oder in Salz einlegen. Nicht ohne gewissen Stolz schilderten die Forschungsreisenden252, wie sie nächtens die Ruhe von Bestattungsplätzen störten, um die ersehnten Belegstücke für die anthropologischen Forschungen, die sich im wesentlichen auf den Schädel konzentrierte, zu erlangen. Adolf Bernhard Meyer, Direktor am Dresdener Königlichen Zoologischen und AnthropologischEthnographischen Museum schildert zwar durchaus seine Skrupel, “das Heiligste, was diese armen Wilden vielleicht besitzen”253, anzutasten. Indes “hätte sich ihm wohl nie mehr eine so günstige Gelegenheit geboten, und andererseits bis jetzt [...] Nichts [...] nach Europa gekommen ist, das vollkommen sicher unvermischten Negritos [einer kleinwüchsigen Bevölkerungsgruppe auf den Philippinen, Anm. d. Verf.] angehörte, und ohne weiteres Material die interessante Frage nach der Verwandtschaft und Herkunft dieses isolierten Negerstammes nicht sachlich ventiliert werden kann.”254 Andere Reisende beschritten offenere Wege und verkündeten, wie der Afrikareisende Georg Schweinfurth, in den Dörfern, die sie besuchten, lauthals: “‘Bringt Waffen und kunstvolles 249Virchow, Rudolf: Verwaltungsbericht für das Vereinsjahr 1876. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 8/1876, S. 266 250Ders., in: Neumayer, a.a.O., S. 582 251Ebd. 252Vgl. Fritsch, Gustav: Über anthropologische Studien in Verbindung mit der deutschen Venus-Expedition nach Ispahan. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 7/1875, S. 64-67. Dort heißt es von einem Friedhof, “dessen scheinbar unersteigliche Umwallung unter der freiwilligen Mitwirkung mehrerer befreundeter Herren von Teheran glücklich erstiegen wurde und einen Theil seiner Schätze der Wissenschaft opfern musste”. Ebd., S. 65. Ähnlich verfuhr man in Konstantinopel, vgl. ebd., S. 66 und brachte insgesamt “sechs typische Türkenschädel”, ebd., S. 167, von dort mit. 253Meyer, Adolf Bernhard: Brief an Rudolf Virchow, darin: Notiz über den Fundort der von ihm überbrachten Skelette und Schädel von Negritos [...]. In: ZfE. 5/1873, S. 91 254Ebd., S. 92 74 http://www.mediaculture-online.de Gerät, Schmucksachen und Utensilien aller Art, [...] ich will auch andere schöne Sachen dafür geben, dann schafft herbei Felle und Schädel von Tieren, die Früchte des Waldes nicht zu vergessen, die Blätter dabei, die dazu gehören, vor allem aber bringt Menschenschädel, soviel als ihr von euern Mahlzeiten erübrigt euch taugen sie doch zu nichts, ich aber gebe euch Kupfer.’”255 Schweinfurth befleißigte sich dabei einer Ausdrucksweise, die deutlich macht, daß ihm die fremden Menschen nur als Merkmalsträger und potentielle Meßobjekte erschienen: “Auch kann ich mit Massen operieren, denn hier sind immer einige 300 bis 500 Sklaven auf Lager, abgesehen von den dienstbaren Sklaven, die noch weit zahlreicher sind, sowie schließlich die in der Nachbarschaft angesiedelten Neger, zusammen mindestens 5000, mit denen ich machen kann, was ich will.”256 Diese Wissenschaft vermochte zwar dem Kolonialismus nicht unbedingt direkt zu nutzen. Sie tat dies indirekt, indem sie mit ihren bisweilen rassistischen Ergebnissen andere Völker als tiernah, primitiv oder minderwertig abklassifiziert. In jedem Falle bedurfte sie aber der kolonialistischen Herrschaft, denn ohne diese Sicherheit hätten die Forscher kaum in solchem Maße den bisweilen menschenverachtenden Forschungen frönen können. Der anthropologische und als solcher zumeist “indiskrete Blick”257 richtete sich neben dem Schädel mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Untersuchung des menschlichen Geschlechtsapparates. Dabei widmeten sich die der heimischen Enge und Prüderie entflohenen Wissenschaftler mit naheliegend männlicher Vorliebe “prallen, ein Kugelsegment darstellenden Brüsten mit sehr erectilen, aber weichen Warzen”258 und gaben sich dem “weichen sanften Gefühl”259 hin, das die “ausserordentliche Zartheit der glatten, samtweichen Haut”260 der fremden Frauen ihnen bot. 255Schweinfurth, Georg: Im Herzen von Afrika [...]. Leipzig 41922, S. 317 256Ders.: Brief an Robert Hartmann vom 10. Juli 1869. In: ZfE. 2/1870, S. 65, Hervorhebungen durch den Verf. 257Vgl. Duerr, Hans Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Frankfurt/M. 21988, S. 135-148 258Ploss, Heinrich: Die ethnographischen Merkmale der Frauenbrust. In: Archiv für Anthropologie. 5/1872, S. 217 259Virchow, Rudolf: Australier. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 15/1883, S. 191 260Anonym: Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes. Stuttgart 1902. Rezension. In: Photographische Correspondenz. 39/1902, Nr. 504, S. 489 75 http://www.mediaculture-online.de Obwohl auch die Männer zum Objekt der Messungen, des Betastens und Beschreibens wurden – einer der Forscher, der spätere Direktor des Museums für Völkerkunde in Frankfurt am Main, Bernhard Hagen, steuerte zur fragwürdigen Bereicherung der anthropologischen Kenntnisse vom Menschen sogar Maßzahlen über die Penislänge in schlaffem und eregiertem Zustande bei261 – waren doch vornehmlich fremde Frauen262 der ‘wissenschaftlichen’ Exploration ausgesetzt. Die fotografische Praxis der Anthropologen mag das nachfolgende Beispiel erläutern: So schildert Gustav Fritsch, wie er zwei nach Berlin gebrachte Akka-Mädchen, von denen er die eine auch noch passenderweise “Rührmich-nicht-an”263 nannte, fotografiert hatte: “Da es sich dabei um Aufnahmen in beträchtlicher Grösse handelte [...] so war es der Unbändigkeit der Mädchen gegenüber notwendig, Blitzlicht neben Tageslicht in Anwendung zu bringen. Auch unter derartigen Bedingungen galt es eine Art von Kampf um die Widerspenstigkeit und den Schrecken der Mädchen vor der Entzündung des Magnesiums einigermassen zu überwinden.”264 Der Fotografie ist deutlich die Angst, das Entsetzen und die Scham des Mädchens anzusehen, die bei ihr durch die Aufnahmeprozedur ausgelöst wurden. Fritsch ging es wohl weniger um eine Besänftigung seiner “Opfer”, sondern um die Brechung deren Widerstandes. Daß es dabei nicht eben friedlich zuging, belegt das Bild augenfällig durch die vor Angst weit aufgerissenen Augen, die geöffneten Poren der Haut und das Glänzen derselben vom Angstschweiß. Schließlich stellte eine solche korrekt ausgeführte anthropologische Fotografie der Angehörigen einer kleinwüchsigen Ethnie aus Zentralafrika damals noch eine wissenschaftliche “Kostbarkeit” ersten Ranges dar, seit Schweinfurth auf seiner Afrikareise in den Jahren 1868 bis 1871 die Existenz von Pygmäenvölkern nachgewiesen hatte. Es gibt nur wenige so offene Schilderungen von Forschern und Fotografen, wie sie jeweils zu ihren Bildern gelangten. Insofern hat die preußische Korrektheit Fritschs, mit der er den Vorfall verzeichnete, auch ihr Gutes. Aus den Berichten der Teilnehmer der Hamburger 261Hagen, Bernhard: Anthropologischer Atlas Ostasiatischer und Melanesischer Völker. Wiesbaden 1898, S. VII 262Vgl. Mamozai, Martha: Herrenmenschen. Frauen im deutschen Kolonialismus. Reinbek 1982, besonders das Kapitel “Völkerkundler unterwegs”, S. 59-63 263Die Fotografie befindet sich in der Abteilung Afrika des Museums für Völkerkunde Berlin SMPK. Fritsch, Gustav: Akka-Mädchen. In: Verh. d. BGAEU. In: ZfE. 28/1896, S. 545 264Ebd., S. 544 76 http://www.mediaculture-online.de Südsee-Expedition von 1908 bis 1910 ist durch die Aufbereitung Hans Fischers allerdings deutlich zu ersehen, daß der Umgang mit fremden Menschen kaum einmal andere Formen annahm. “Die Expeditionsteilnehmer scheinen nie überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, daß sie in das Leben anderer Menschen eindrangen und daß diese vielleicht das Recht haben könnten, dieses Eindringen abzulehnen.”265 Für die überseeischen Völker ist die Fotografie inzwischen zu einer symbolischen Handlung geworden, die den gesamten westlichen Kolonialismus gleichsam in sich vereint und auf die Spitze treibt. Der Widerstand gegen das Fotografiertwerden ist vor diesem Hintergrund auch als eine Variante des Widerstandes gegen das kolonialistische System und die westliche Zivilisation im ganzen anzusehen.266 Indes praktizierte man ähnliche Umgangsformen bei anthropologischen Untersuchungen auch daheim,267 denn das anthropologische Interesse an körperlichen Absonderlichkeiten stand der in Übersee üblichen Neugierde in nichts nach. So berichtete ein Schulpfleger Leudesdorf aus Hamburg in der Zeitschrift für Ethnologie über einen frühreifen Knaben. Er hatte ihn dem “ärztlichen Vereine”268 vorgestellt, dessen Mitglieder “entzückt waren”269. Leudesdorf schreibt selbst über seinen Schützling: “Wenn er wie ein Kind schreit und mit männlicher Stimme weint, so macht das einen ganz wunderbaren Eindruck.”270 Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang, daß auf Anregungen von Virchow um 1875 eine großangelegte Vermessung aller Schulkinder in Preußen durchgeführt wurde, die zum Teil auf recht heftigen Widerstand der Bevölkerung stieß.271 265Fischer, Hans: Die Hamburger Südsee-Expedition. Über Ethnographie und Kolonialismus. Frankfurt/M. 1981, S. 132 266Vgl. Zünd, Marcel: Der Fotograf und der Fotografierte. In: Brauen, a.a.O., S. 75 267Vgl. unter anderem das durch maßlosen Forscherdrang hervorgerufene Interesse an “Frühreifen”, “Haarmenschen”, Kleinwüchsigen, Riesen oder “Schwanzmenschen”, das auch der hiesigen Bevölkerung galt. Über diese Phänomene wurde in der BGAEU anhaltend diskutiert, ob es sich um pathologische Erscheinungen oder um Atavismen, Rückschläge auf frühere Stadien der Menschheitsentwicklung handelte. 268Dr. Leudesdorf: Beschreibung und photographische Abbildung eines frühreifen Knaben. In: ZfE. 8/1876, S. 87 269Ebd. 270Ebd. 271So heißt es in den Verh. d. BGAEU: “Hie und da sind [...] grosse Beunruhigungen, in Oberschlesien und Westpreussen sogar aufständische Bewegungen der Bevölkerung, namentlich der weiblichen herbeigeführt worden [...].” In: ZfE. 7/1875, S. 90 77 http://www.mediaculture-online.de Auch dies ist ein Beleg dafür, daß die Anthropologie keinesfalls nur die überseeischen Völker in den Blick nahm. Insofern muß eine Kritik der physischen Anthropologie als einer bloßen Kolonialwissenschaft zu kurz greifen. Vielmehr muß das wissenschaftliche Konzept einer umfassenden Anhäufung der verschiedensten Meßwerte aller Menschen als sinnloser Irrweg der Forschung und seine Funktion als Legitimation der westlichen Kolonialherrschaft beziehungsweise der Ausrottung anderer Völker erkannt werden. Martin Johnson “Osa Johnson, die Gattin des Forschers Martin Johnson mit Pygmäen im Kongo”, Belgisch-Kongo, heutiges Zaire, 1933. Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz Berlin Nicht viel anders als in der physischen Anthropologie, wo es weniger um direkte Verwendung der Forschungsergebnisse für koloniale Zwecke ging, sondern vielmehr das kolonialistische Herrschaftssystem in Übersee erst solche Forschungen ermöglichte, verhielt es sich mit der deutschsprachigen ethnographischen Feldforschung, wie sie etwa um die Jahrhundertwende aufkam. 78 http://www.mediaculture-online.de Kolonialismus und Ethnologie stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander: Einerseits war zur Ausübung kolonialer Herrschaft “Wissen um die Formen des Zusammenlebens, der Kultur und der Denkweise dieser Völker notwendig”.272 Dieses Informationsbedürfnis hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der Völkerkunde wesentlich mitbedingt. Zum entscheidenden Faktor der Kolonialpolitik wurde die Völkerkunde allerdings erst, als mit der aufkommenden Feldforschung und dem Funktionalismus in den Jahren um den Ersten Weltkrieg eingehenderes Wissen über die fremden Gesellschaften, ihre Sozialstruktur und Rechtssysteme bereitgestellt werden konnte. Britische und französische Kolonialverwaltungen sahen sich in ihren Bemühungen, die Kolonialgebiete wirtschaftlich fortzuentwickeln und die Herrschaft an einheimische Instanzen im Sinne einer “indirect Rule”, einer indirekten Herrschaft, zu delegieren, auf solche ethnologischen Kenntnisse angewiesen. Gerade die von Bronislaw Malinowski eingeführte empirische Methode der stationären Feldforschung und “teilnehmenden Beobachtung” versprach, “detaillierte soziologische und ökonomische Untersuchungen leisten zu können”.273 Karl Heinz Kohl wie auch Gerard Leclerc274 führen eine Reihe von Forschungsunternehmungen im Bereich der britischen und französischen kolonialen Besitzungen an, die direkte Auftragsforschungen darstellten oder indirekt darüber finanziert wurden. Für die deutsche Ethnologie und Kolonialverwaltung lassen sich solche Zusammenhänge nur in weit geringerem Maße nachweisen. Dies hängt damit zusammen, daß Deutschland zu der Zeit, als die Forschungsweise Malinowskis aufkam, bereits nicht mehr über eigene Kolonien verfügte. Außerdem waren die seit der Jahrhundertwende sich immer stärker durchsetzenden Arbeiten der kulturhistorischen Richtung, welche die Ursprünge und die Verbreitung vorwiegend von Bestandteilen des materiellen Kulturinventars zu erhellen suchten, auch weit weniger als koloniales Instrument geeignet als Untersuchungen zu den einheimischen Herrschaftsstrukturen. Zugespitzt formuliert, beschränkten sich die ‘Dienstleistungen’ der Völkerkunde auf das Formulieren von ethnologischen Fragekatalogen und Sammlungsanleitungen275, mit denen versehen man die ausreisenden Beamten, Offiziere und Kaufleute genügend vorbereitet glaubte. Die 272Junge, a.a.O., S. 16 273Kohl, Karl-Heinz: Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt am Main/New York 1987, S. 60 274Vgl. ebd. und Leclerc, Gérard: Anthropologie und Kolonialismus. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1976, S. 31-36 79 http://www.mediaculture-online.de Zielsetzung der Hamburger Südsee-Expedition von 1908 bis 1910276 macht zudem auch deutlich, daß der Impuls zur Erforschung einer bestimmten Region eher von den Wissenschaftlern und weniger von der Kolonialverwaltung ausging, und daß sich die Völkerkundler um ihre und ihrer Wissenschaft Anerkennung bemühten, indem sie ‘praktische Aufgaben’ mit in ihr Forschungsprogramm aufnahmen. Gleichwohl gab es keinen Mangel an Stimmen, die über die geringen ethnologischen Kenntnisse der Offiziere und Kolonialbeamten klagten und diese Unkenntnis der Vorstellungswelt der Einheimischen für militärische Konflikte und das Scheitern kolonisatorischer Pläne verantwortlich machten.277 Als Weg, wie sich die Kolonialherren in ihrer Herrschaft über die “grossen unüberlegten, dem ersten Impuls folgenden Kinder [...] mit einer gütigen, aber gerechten, festen Hand”278 vertraut machen sollten, wurden Kurse in Völkerkunde und besonders der Besuch der heimischen Völkerkundemuseen279 vorgeschlagen. Ob allerdings der damalige Besucher solcher Institutionen mit dem erwünschten Wissenszuwachs vom Platz gegangen ist, bleibt dahingestellt. Adolf Bastians eigene Sammlungen, so schreibt Fritz Kramer, “waren in keiner Weise geeignet, dem Kolonialismus zu dienen, wohl aber waren sie selbst ein Teil kolonialer Ausbeutung [...]; die ethnographischen Museen selbst sind das Ergebnis einer gigantischen Plünderungsaktion.”280 Hier nun liegt der eigentliche Zusammenhang zwischen Ethnologie und Kolonialismus – das ‘Ausräumen’ der fremden Kulturen, um für ein bestimmtes Forschungsziel das Material zu beschaffen, das mit dem Argument gerechtfertigt wurde, es geschehe alles 275Westphal-Hellbusch, Sigrid: Hundert Jahre Ethnologie in Berlin [...]. In: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der BGAEU. Band 1. Berlin 1969, S. 165. 276Vgl. Fischer (1981), a.a.O., S. 38-48 277Bastian (1899), a.a.O., S. 12 278Hagen, Bernhard: Unter den Papuas. Beobachtungen und Studien über Land und Leute, Thier- und Pflanzenwelt in Kaiser-Wilhelms-Land. Wiesbaden 1899, S. 250 279Vgl. Thaulow, Gustav: Vortrag über die [...] Rathschläge für anthropologische Untersuchungen auf Expeditionen der Marine. In: ZfE. 6/1874, S. 116; Martin, Rudolf: Anthropologie als Wissenschaft und Lehrfach. Jena 1901, S. 26; Steinmetz, Sebald Richard: Ethnographische Fragesammlung zur Erforschung des sozialen Lebens der Völker außerhalb des modernen europäisch-amerikanischen Kulturkreises. Berlin 1906, S. 5; Ankermann, Bernhard: Anleitung Zum Ethnologischen Beobachten Und Sammeln. Berlin 1914,S. 12 280Kramer, Fritz: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1977, S. 77f. 80 http://www.mediaculture-online.de nur, um die authentischen Kulturgüter vor dem Kulturwandel in Sicherheit zu bringen. Daß mit dem Beschaffen des Materials eben diesem Prozeß entschieden Vorschub geleistet wurde und viele Kulturen so ihrer Identität beraubt wurden, vermochte man damals noch nicht zu erkennen. Wie die Diskussion um die Rückgabe solchen Kulturgutes zeigt, beginnt man allerdings aber auch heute erst allmählich, in dieser Frage umzudenken. Bronislaw Malinowski bestimmte in der Einleitung zu den “Argonauten des westlichen Pazifik” 1922 das oberste Ziel der Ethnologie darin, “den Standpunkt des Eingeborenen, seinen Bezug zum Leben zu verstehen und sich seine Sicht seiner Welt vor Augen zu führen.”281 Malinowskis Methode der “teilnehmenden Beobachtung” bereitete den Weg zu einem tieferen Verständnis der Stammeskulturen, indem er selbst bizarr anmutende Bräuche auf ihre Funktion innerhalb der fremden Gesellschaft zurückführte. Verfolgt man das Ziel, die anderen aus dem heraus zu verstehen, wie sie es selbst sehen, so stellt sich die Frage nach der Verwendbarkeit der Fotografie, gestern und heute. Schließlich stellt gerade sie ein zerlegendes Beobachtungsmedium von besonderer Schärfe dar. Auswege können nur in gemeinsamem Vorgehen mit den Besuchten, in der gemeinsamen Nutzung des Bildmaterials und einem Prozeß des Austausches und der Teilhabe gefunden werden. Erst in diesem Rahmen könnte die Fotografie ihr aufklärerisches Potential realisieren. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 281Malinowski, Bronislaw: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. Frankfurt/M. 1979, S. 49 81