BERND FRANKE Zerbrochene Nähe Szene für Bariton und Orchester nach Texten von Giorgio Caproni, Selma Meerbaum-Eisinger und dem Hohelied Salomos (1999-2000) UA: 8.09.2000/20.30 Uhr/Deutscher Pavillon/Elbland-Philharmonie Yaron Windmüller-Bariton (Israel) Zerbrochene Nähe entstand 1999/2000 auf Anregung von Yaron Windmüller, der auch Widmungsträger dieser Komposition ist, und im Auftrag der Elbland-Philharmonie, die mit Yaron Windmüller als Solist auch die Uraufführung am 8. September 2000 im Deutschen Pavillon während der EXPO 2000 in Hannover realisierte. Die künstlerische Zusammenarbeit mit Yaron Windmüller datiert zurück auf die Uraufführung meiner Oper Mottke der Dieb, die auf Anregung von Hans Werner Henze und im Auftrag der Münchener Biennale von 1994 bis 1998 entstand und im Juni 1998 in der Reihe bonn chance in der Bonner Bundeskunsthalle unter der Regie von Jonathan Moore aus London uraufgeführt wurde. Die Hauptpartie des Mottke wurde in dieser Uraufführung in beeindruckender Weise von Yaron Windmüller verkörpert, der diese Partie auch im Frühjahr 2000 im Theater Görlitz während einer Neuproduktion von Mottke der Dieb sang. Zerbrochene Nähe hat seine Wurzeln: es werden andere Werke und Werkkomplexe der letzten Jahre tangiert und strukturell weiterentwickelt. So knüpfe ich an Erfahrungen aus der Arbeit an meiner Oper Mottke der Dieb an, in der ein sozialer Außenseiter um seine Identität kämpft, wo existenziell-soziale Aspekte hinterfragt werden. Es werden aber auch strukturelle und formelle Denkansätze aus meinem Werkzyklus Solo xfach eingebracht, an dem ich seit 1988 arbeite. Zerbrochene Nähe ist in drei Teile mit einem Prolog in fließenden Übergängen gegliedert. Es wird der Versuch unternommen, quasi einen Film retrospektivisch ablaufen zu lassen: ausgehend von einem Gedicht des Italieners Giorgio Caproni, in dem das Resultat einer unfassbaren grausamen Realität skizziert und versuchsweise angedeutet wird, richtet sich der Blick im zweiten Teil auf die gescheiterte, nicht-gelebte und verwirklichte Liebe der Selma Meerbaum-Eisinger (in ihrem brutalen Schicksal verwandt mit Anne Frank). Diese Situation wird im dritten Teil mit den Texten von Salomo ins Irrationale, Überirdische, Un-faßbare transformiert. Kompositorisch spannt sich ein langer Bogen vom Geräuschhaften, vom Flüstern zum Sprechen und schließlich zum „künstlichen“ Gesang, zum Ton-Klang, vom Einzelnen, Verlorenen und Fragmentarischen zum Verschmelzen der menschlichen Stimme in der Gemeinsamkeit des orchestralen Klanges, zum Hymnus, zum überirdischen Cantus. Der Untertitel Szene im Titel von Zerbrochene Nähe evoziert eine theatralische Erwartungshaltung, die in der räumlichen Aufstellung und szenischen Entwicklung des Stückes geleistet und erfüllt wird. Bernd Franke, Februar 2001