1 Es gibt eine Heuristik, mit der sich die Primzahldichte ln(x) für großes x ∈ N plausibel machen lässt. Die Idee besteht darin, das Änderungsverhalten der Primzahldichte bei x zu untersuchen. Den Ansatz liefert ein einfaches, aber ineffizientes Verfahren zur Bestimmung aller Primzahlen, dass Sieb des Eratosthenes (1) Man startet mit der Menge S = {n ∈ N | n ≥ 2} und P = ∅. (2) Sei p das kleinste Element der Menge S. Nimm p zur Menge P hinzu. (3) Entferne alle Vielfachen von p aus der Menge S. (4) Gehe zurück zu Schritt 2. Wenn man dieses Programm“ unendlich lange laufen lässt, ” sammeln sich in der Menge P nach und nach alle Primzahlen. 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 2 12 22 32 42 52 62 72 82 92 3 13 23 33 43 53 63 73 83 93 4 14 24 34 44 54 64 74 84 94 5 15 25 35 45 55 65 75 85 95 6 16 26 36 46 56 66 76 86 96 7 17 27 37 47 57 67 77 87 97 8 18 28 38 48 58 68 78 88 98 9 10 19 20 29 30 39 40 49 50 59 60 69 70 79 80 89 90 99 100 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 2 12 22 32 42 52 62 72 82 92 3 13 23 33 43 53 63 73 83 93 4 14 24 34 44 54 64 74 84 94 5 15 25 35 45 55 65 75 85 95 6 16 26 36 46 56 66 76 86 96 7 17 27 37 47 57 67 77 87 97 8 18 28 38 48 58 68 78 88 98 9 10 19 20 29 30 39 40 49 50 59 60 69 70 79 80 89 90 99 100 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 2 12 22 32 42 52 62 72 82 92 3 13 23 33 43 53 63 73 83 93 4 14 24 34 44 54 64 74 84 94 5 15 25 35 45 55 65 75 85 95 6 16 26 36 46 56 66 76 86 96 7 17 27 37 47 57 67 77 87 97 8 18 28 38 48 58 68 78 88 98 9 10 19 20 29 30 39 40 49 50 59 60 69 70 79 80 89 90 99 100 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 2 12 22 32 42 52 62 72 82 92 3 13 23 33 43 53 63 73 83 93 4 14 24 34 44 54 64 74 84 94 5 15 25 35 45 55 65 75 85 95 6 16 26 36 46 56 66 76 86 96 7 17 27 37 47 57 67 77 87 97 8 18 28 38 48 58 68 78 88 98 9 10 19 20 29 30 39 40 49 50 59 60 69 70 79 80 89 90 99 100 1 11 21 31 41 51 61 71 81 91 2 12 22 32 42 52 62 72 82 92 3 13 23 33 43 53 63 73 83 93 4 14 24 34 44 54 64 74 84 94 5 15 25 35 45 55 65 75 85 95 6 16 26 36 46 56 66 76 86 96 7 17 27 37 47 57 67 77 87 97 8 18 28 38 48 58 68 78 88 98 9 10 19 20 29 30 39 40 49 50 59 60 69 70 79 80 89 90 99 100 Das Sieb des Erathosthenes zeigt, dass sich die Primzahldichte an jeder Primzahl p um den Faktor 1 − p1 ausdünnt, denn jedes p-te Element wird gestrichen. Diese Beobachtung kann genutzt werden, 1 um die Primzahldichte ln(x) herzuleiten. Dazu stellen wir uns vor, dass die Primzahldichte eine differenzierbare Funktion p : R+ → R ist. Sei nun x ∈ R+ eine große Zahl und s > 0 im Vergleich dazu klein. Da sich die Primzahldichte im Intervall [x, x + s] nicht wesentlich ändert, gibt es dort ≈ sp(x) Primzahlen. Wie wir anhand des Siebes gesehen haben, verringert sich die Primzahldichte nach jeder Primzahl um den Faktor ≈ 1 − x1 , insgesamt also um den Faktor ≈ (1 − x1 )sp(x) . Es gilt somit p(x + s) ≈ 1 1− x sp(x) p(x) Dies verwenden wir nun, um die Ableitung von p an der Stelle x zu bestimmen. Da s im Vergleich zu x klein ist, gilt p 0 (x) ≈ (1 − x1 )sp(x) p(x) − p(x) p(x + s) − p(x) ≈ s s = p(x) (1 − x1 )sp(x) − 1 s Für kleine Wert α und n ∈ N gilt (1 − α)n ≈ 1 − nα. Wenden wir dies auf α = x1 an, dann folgt 0 p (x) ≈ p(x) 1− sp(x) x s −1 =− p(x)2 x Die Funktion p(x) ist also (näherungsweise) eine Lösung der Differentialgleichung y2 y0 = − . x Eine solche Differentialgleichung kann mit Standard-Methoden der einschlägigen Vorlesung gelöst werden. Die Lösungen sind die Funktionen 1 ϕ(x) = , c ∈R ln(x) + c 1 Unsere Überlegung liefert einen weiteren Anhaltspunkt, dass ln(x) die richtige“ Funktion für die Primzahldichte ist. Die Konstante c ” spielt im Vergleich zu x eine wesentliche Rolle. Leider ist das nur eine Heuristik, kein Beweis. Unser Hauptziel in diesem Vorlesungsabschnitt ist der Nachweis der asympotischen Gleichheit π(x) ∼ Li(x). Diese Aussage ist unter dem Namen Primzahlsatz“ bekannt. Er ” wird sich aus der Untersuchung der Riemannschen ζ-Funktion ergeben. Einen ersten Hinweis, dass diese Funktion für die Primzahlverteilung bedeutsam sein könnte, lieferte ein neuer Beweis von Euler für die unendliche Anzahl der Primzahlen. Ziemlich am Anfang der ersten Semesters lernt man, dass die sogenannte harmonische Reihe ∞ X 1 n = 1+ 1 2 + 1 3 + 1 4 + ... n=1 den Wert +∞ hat. Man sagt dazu, dass die harmonische Reihe divergiert. Der Beweis besteht darin, dass man die Summanden nach folgendem Schema zusammenfasst. 1 + 12 + 13 + 14 + 51 + 16 + 17 + 18 + 1 1 1 1 1 1 1 1 9 + 10 + 11 + 12 + 13 + 14 + 15 + 16 + ... 1 Jede Summe in den Klammern P∞ist 1≥ 2 . Da es unendlich viele solche Summen gibt, muss n=1 n = +∞ sein. Andererseits kann man zeigen, dass die Summe ∞ X 1 ns n=1 für jedes s > 1 einen endlichen Wert annimmt, also konvergiert. Für jedes α ∈ R mit |α| < 1 gilt außerdem ∞ X αn n=0 Dies ist die geometrische Reihe. = 1 . 1−α Euler verwendete diese Ergebnisse über Reihen, um auf folgendem Wege die Existenz von unendlich vielen Primzahlen nachzuweisen. Sei P ⊆ N die Menge aller Primzahlen. Weil jede natürliche Zahl auf eindeutige Weise als Produkt von Primzahlen darstellbar ist, gilt für jedes s ∈ R mit s > 1 jeweils ∞ X 1 ns X = a2 ,a3 ,a5 n=1 ∞ X 1 2a2 s ! · a2 =0 = Y p∈P 1 a2 s 3a3 s 5a5 s ... 2 ,... ∞ X 1 3 a3 s a3 =0 ∞ X 1 p as a=0 ! = ! · ∞ X 1 5 a5 s = ! · ... a5 =0 Y 1 −1 1− s p , p∈P wobei im letzten Schritt die geometrische Reihe auf α = angewendet wurde. 1 ps Lassen wir nun s von rechts gegen 1 laufen, dann erhalten wir auf Grund der Divergenz der geometrischen Reihe Y 1 1 ! = 0. = 1− ∞ p X 1 p∈P n=1 n P Wäre die Summe p∈P p1 endlich, dann müsste der Ausdruck links der Theorie der unendlichen Produkte einen Wert 6= 0 annehmen. So aber ist X1 divergent , p p∈P und dazu muss P insbesondere unendlich sein. Der Beweis von Euler liefert mehr Informationen als der von Euklid, da er uns die Möglichkeit, die Menge der Primzahlen mit anderen unendlichen Teilmengen der natürlichen Zahlen zu vergleich. Da beispielsweise die Reihe ∞ X 1 n2 n=1 einen endlichen Wert besitzt, können wir schließen, dass es mehr“ ” Primzahlen als Quadratzahlen gibt, die Primzahlen in den natürlichen Zahlen also dichter liegen als die Quadratzahlen. Von Riemann stammt die Idee, die Funktion s X Y 1 1 −1 = 1− s ns p n=1 p∈P nicht nur für reelle s > 1, sondern für beliebige komplexe Werte zu betrachten, um mehr über die Primzahlverteilung in Erfahrung zu bringen. Um dies im Detail nachvollziehen zu können, benötigen wir noch einige Grundlagen über komplexe Zahlen. Die komplexe Exponentialfunktion Wir wissen bereits, dass die Exponentialfunktion für beliebige x ∈ R eine Reihendarstellung der Form exp(x) = ∞ X xn n=0 n! besitzt. In diese Reihe können auch komplexe Werte eingesetzt werden. Man erhält auf diese Weise die komplexe Exponentialfunktion. Diese hängt auf direkte Weise mit den trigonometrischen Funktionen Sinus und Kosinus zusammen. Funktionsgraphen von sin(x) und cos(x) Für beliebiges ϕ ∈ R gilt exp(iϕ) = ∞ X (iϕ)n n=0 ∞ X (iϕ)4n n=0 (4n)! + n! = ∞ ∞ ∞ X X X (iϕ)4n+1 (iϕ)4n+2 (iϕ)4n+3 + + (4n + 1)! (4n + 2)! (4n + 3)! n=0 n=0 = n=0 ∞ ∞ ∞ ∞ X X X X ϕ4n (−1)ϕ4n+2 ϕ4n+1 ϕ4n+3 + +i + (−i) (4n)! (4n + 2)! (4n + 1)! (4n + 3)! n=0 n=0 n=0 n=0 wobei im letzten Schritt i 1 = i, i 2 = −1, i 3 = −i und i 4 = 1 verwendet wurde. Das kann weiter umgeformt werden zu X (−1)n n=0 n gerade i X (−1)n n gerade ∞ X ϕ2n + (2n)! ∞ X ϕ2n+1 +i (2n + 1)! n=0 X (−1)n n ungerade X n ungerade (−1)n ∞ X ϕ2n + (2n)! n=0 ∞ X ϕ2n+1 (2n + 1)! n=0 ∞ ∞ X X ϕ2n+1 ϕ2n (−1)n +i (−1)n (2n)! (2n + 1)! n=0 n=0 = Sinus- und Kosinusfunktion besitzen die Reihendarstellungen cos(ϕ) = ∞ X n=0 ϕ2n (−1) (2n)! n und ∞ X ϕ2n+1 sin(ϕ) = (−1)n . (2n + 1)! n=0 Somit erhalten wir insgesamt exp(iϕ) = e iϕ = cos(ϕ) + i sin(ϕ). In die Reihen für Sinus und Kosinus lassen sich auch komplexe Werte einsetzen. Man erhält so die komplexe Sinus- und Kosinusfunktion. Die komplexe Exponentialfunktion liefert eine neue Möglichkeit zur Darstellung komplexer Zahlen. Satz Ist z ∈ C, z = x + iy mit Betrag |z| = 1, also x 2 + y 2 = 1, dann gibt es ein eindeutig bestimmtes ϕ ∈ [0, 2π[, so dass z = cos(ϕ) + i sin(ϕ) = e iϕ erfüllt ist. Folgerung Jede komplexe Zahl z besitzt eine eindeutige Darstellung der Form z = re iϕ mit r ∈ R+ , ϕ ∈ [0, 2π[ . Den Winkel ϕ nennt man das Argument von z. Beweis: Sei r = |z|. Dann ist z1 = r −1 z eine komplexe Zahl vom Betrag 1. Folglich gibt es ein ϕ ∈ [0, 2π[ mit z1 = e iϕ , und wir erhalten z = rz1 = re iϕ . Mit Hilfe der komplexen Exponentialfunktion können wir komplexe Exponentiation zu einer beliebigen Basis a ∈ R+ definieren. Man setzt as = e s ln(a) Für s ∈ R stimmt dies mit der alten Definition überein. Im folgenden werden wir an Stelle von reellen Funktionen f : R → R des öfteren komplexe Funktionen der Form C → C. Frage: Wie lässt sich eine solche Funktion graphisch darstellen? Weil Definitions- und Bildbereich der Funktion zweidimensional sind, bräuchte man für die Darstellung des Funktionsgraphen vier Dimensionen! Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Problem zu lösen. Sei f : C → C eine komplexe Funktion und z ∈ C. I Für den Definitionsbereich verwendet man die zweidimensionale Ebene. Man hat dann noch eine Dimension, die Höhe, zur Verfügung. Diese verwendet man, um nur den Betrag |f (z)|, oder um Real- oder Imaginärteil von f (z) darzustellen. I Wird nur |f (z)| dargestellt, geht natürlich Information über die Funktion verloren, nämlich das Argument von f (z). Dies kann aber mit Hilfe der Farbe des Funktionsgraphen dargestellt werden. I Man kann die gesamte Funktion auch nur zweidimensional darstellen, indem man den Betrag nicht durch die Höhe, sondern durch die Helligkeit zum Ausdruck bring. Betrachten wir einige Darstellungen der komplexen Kosinusfunktion. Darstellung der Funktion z 7→ | cos(z)| Darstellung der Funktion z 7→ Im cos(z) zweidimensionale Darstellung von z 7→ cos(z) zweidimensionale Darstellung von z 7→ z 2 zweidimensionale Darstellung von z 7→ e z Wir können nun definieren Definition Die Riemannsche ζ-Funktion ist für s ∈ C mit Re(s) > 1 gegeben durch ∞ X Y 1 −1 −s ζ(s) = n = 1− s p n=1 p∈P Die Gleichung rechts haben wir bereits für s ∈ R bewiesen. Aber warum ist die Einschränkung Re(s) > 1 notwendig? Dazu schauen wir uns den Betrag der Summanden an. Ist n ∈ N, s ∈ C mit σ = Re(s), t = Im(s), dann gilt |n−s | = |e −s ln(n) | |e −σ ln(n) | · |e −it ln(n) | |e −(σ+it) ln(n) | = = e −σ ln(n) · 1 = = n−σ Wir haben bereits gesehen, dass die Summe ∞ X n−σ n=1 für σ > 1 konvergiert, aber für σ ≤ 1 divergiert. Dies bedeutet, dass die Summe ∞ X n−s n=1 nur für Re(s) > 1 wirklich einen komplexen Wert liefert! Leider ist dieser Bereich der Zetafunktion aus zahlentheoretischer Sicht nicht besonders interessant. Auch die graphische Darstellung in diesem Bereich wirkt nicht besonders spektakulär. zweidimensionale Darstellung der ζ-Funktion im Bereich Re(s) > 1 dreidimensionale Darstellung von s 7→ Re ζ(s) im Bereich Re(s) > 1 Wie wir aber sehen werden, lässt sich die Definition der ζ-Funktion auf (fast) die gesamte komplexe Ebene ausdehnen. In diesem Bereich zeigt die Funktion ein deutlich interessanteres Verhalten. zweidimensionale Darstellung der ζ-Funktion im Bereich −5 < Re(s) < 5 dreidimensionale Darstellung von s 7→ Re ζ(s) im Bereich −5 < Re(s) < 5 Wie ist es möglich, dass sich die ζ-Funktion auf fast ganz C definieren lässt, obwohl die Darstellung ζ(s) = ∞ X n−s n=1 im Bereich Re(s) ≤ 1 gar keine Werte liefert? Hier kommt eine wichtige Eigenschaft der ζ-Funktion ins Spiel, nämlich die komplexe Differenzierbarkeit. Im Mathematikunterricht der Oberstufe wird der Begriff der Differenzierbarkeit für reelle Funktionen behandelt. Eine Funktion f : R → R ist an einer Stelle x ∈ R differenzierbar, wenn der Grenzwert f (x + h) − f (x) f 0 (x) = lim h→0 h existiert. Anschaulich bedeutet dies, dass der Funktionsgraph im Punkt (x, f (x)) eine Tangente besitzt, und f 0 (x) ist die Steigung dieser Tangente. Ableitung der Kosinusfunktion an der Stelle 0 Die komplexe Differenzierbarkeit einer Funktion f ist völlig analog definiert, nämlich durch den Grenzwert f 0 (z) = f (z + h) − f (z) . h→0 h lim Der einzige Unterschied besteht darin, dass z und h komplexe Zahlen sind. Der Punkt h nähert sich dem Nullpunkt also in der komplexen Ebene! Beispiel: Die Funktion f : C → C, z 7→ z 2 ist überall komplex differenzierbar. Die Ableitung an der Stelle 1 + i erhält man durch die Rechnung f 0 (1 + i) = 1 (f (1 + i + h) − f (1 + i)) h→0 h lim 1 ((1 + i + h)2 − (1 + i)2 ) h→0 h lim lim h→0 lim h→0 = 1 ((1 + i)2 + 2h(1 + i) + h2 − (1 + i)2 ) h 1 (2h(1 + i) + h2 ) h = lim (2(1 + i) + h) h→0 = = = 2 + 2i. Genauso kann man nachrechnen, dass f 0 (z) = 2z für alle z ∈ C erfüllt ist. Bis hierhin gibt es also keinen Unterschied zur reellen Differenzierbarkeit. Allerdings besitzen komplex differenzierbare Funktionen im Vergleich zu den reell differenzierbaren einige sehr verblüffende Eigenschaften, die sie von den reell differenzierbaren deutlich unterscheiden. Satz (VEKDF, Teil I) Stimmen zwei komplex differenzierbare Funktion f , g : C → C nur auf einem winzigen Bereich der komplexen Ebene überein, dann sind sie auf ganz C gleich. Dieses Ergebnis ist unter den Namen Identitätssatz oder Permanenzprinzip bekannt. Beispielsweise gibt es nur eine einzige, komplex differenzierbare Funktion f : C → C mit der Eigenschaft f (x) = x2 für x ∈ R, 0 ≤ x ≤ 1 , nämlich f (z) = z 2 . Die Funktion ist durch die Werte auf dem Intervall [0, 1] eindeutig festgelegt. Man bezeichnet deshalb komplex differenzierbare Funktionen auch als holomorph: Ein winziger Teil der Funktionswerte enthält die Information über die gesamte Funktion! Für differenzierbare Funktionen f : R → R gilt das Permanenzprinzip nicht. Auch wenn man f (x) für x ∈ [0, 1] kennt, weiß man noch nichts über den Wert f (5). Wenden wir uns einer weiteren wichtigen Eigenschaft der holomorphen Funktionen zu. Definition Eine Potenzreihe ist eine komplexe Funktion der Form f (z) = ∞ X an (z − a)n n=0 mit a ∈ C und an ∈ C für alle n ∈ N. Beispiele für Potenzreihen haben wir bereits gesehen, etwa die komplexe Exponentialfunktion exp(z) = ∞ X zn n=1 n! = 1 + z + 21 z 2 + 61 z 3 + ... Die Potenzreihe der Exponentialfunktion konvergiert in jedem Punkt, d.h. das Einsetzen beliebiger komplexer Werte liefert immer ein endliches Ergebnis. Bei andere Reihen braucht dies nicht der Fall zu sein. Beispielsweise konvergiert die Potenzreihe ∞ X zn n=0 nur für komplexe Zahlen z mit |z| < 12 , also für alle Zahlen im offenen Kreis vom Radius 12 . Allgemein gilt: Entweder eine Potenzreihe konvergiert auf ganz C, oder sie konvergiert auf einer offenen Kreisscheibe mit einem gewissen Radius r > 0. Hierbei kann im Prinzip Radius r vorkommen. Satz (VEKDF, Teil II) Sei D ⊆ C und f : D → C eine holomorphe Funktion. Dann ist f in einer Umgebung von jedem Punkt a ∈ D durch eine Potenzreihe darstellbar. Das bedeutet: Es gibt einen Kreis K um a und a0 , a1 , ... ∈ C, so dass f (z) = ∞ X an (z − a) n=0 für alle z ∈ K erfüllt ist. Dabei kann es vorkommen, dass die Potenzreihe auf der rechten Seite sogar auf einem Kreis K konvergiert, der über den Definitionsbereich D der Funktion hinausgeht! Auf diese Weise kann man den Definitionsbereich von f erweitern. Man bezeichnet diesen Vorgang als analytische Fortsetzung der Funktion f .