Kirchen + Kino. DER FILMTIPP 4. Staffel September 2010 - Juni 2011 DAS HERZ VON JENIN Deutschland 2008 (Deutsche Aufführung: Mai 2010) Regie: Marcus Vetter und Leon Geller Drehbuch: Marcus Vetter und Leon Geller Originalsprache: Englisch, Hebräisch und Arabisch mit deutschen Untertiteln Länge: 89 Minuten Produktion: Ernst Ludwig Ganzert und Ulli Pfau (= evangelische Filmgesellschaft EIKON) Musik: Ezres Koskas Kamera: Nadav Hekselmann Schnitt: Saskia Metten Preise: Publikumspreis des Internationalen Filmfestivals Dubai DEFA-Preis des DOKLeipzig Festivals 2008 Valladolid Internationales Film Festival 2008 - 1. Preis der Sektion „Time of History“ Publikumspreis „Movies that Matter“ 2009 von Amnesty International Cinema for Peace Award 2009 auf der Berlinale - Wertvollster Dokumentarfilm Nominierung für den Europäischen Filmpreis/Dokumentation Deutscher Filmpreis 2010 - Bester Dokumentarfilm Kurzcharakteristik: Der 12 jährige Ahmed wird bei einem israelischen Angriff im Gaza-Streifen tödlich getroffen. Nachdem die Ärzte im Krankenhaus nur noch Ahmeds Hirntod feststellen können, entscheidet sein Vater, der Palästinenser Ismael Khatib, die Organe seines Sohnes israelischen Kindern zu spenden und damit deren Leben zu retten. Zwei Jahre später begibt er sich auf eine Reise quer durch Israel, um diese Kinder zu besuchen. Eine schmerzhafte und zugleich befreiende Reise der Versöhnung durch ein zutiefst gespaltenes Land. Ein herausragender Film über Schmerz, Versöhnung und Hoffnung im Nahen Osten. Der eindrückliche Film wird vor allem durch den trauernden Vater Ismael Khatib getragen, der dem Hass und Krieg die Versöhnung und das Arbeiten für die Zukunft entgegensetzt. So hat er nach dem Tod seines Sohnes das „Cuneo Center“ mitbegründet, wo Jugendlichen eine kulturelle Alternative zur Auseinandersetzung mit der alltäglichen Gewalt geboten wird, v.a. durch Tanz und Theater. Inhalt/Begründung für Auszeichnung als Film des Monats der Evangelischen Juryarbeit: „Im Jahr 2005 in Jenin, einem der größten palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland: Der 12-jährige Ahmed Khatib wird bei einer Razzia der israelischen Armee tödlich verletzt. Ein Soldat hatte Ahmeds Spielzeuggewehr für eine echte Waffe gehalten. Nach Rücksprache mit einem Imam und einem Vertreter der Al-Aksa-Brigaden beschließen die Eltern, die Organe ihres hirntoten Kindes sechs kranken israelischen Kindern zur Verfügung zu stellen. Ein Drusenmädchen kann nun mit Ahmeds Herz weiterleben, einem Beduinenjungen bleibt dank der Spenderniere die weitere Dialyse erspart. Was den Fall zu einem Medienthema macht, ist, dass Ahmeds zweite Niere der kleinen Tochter eines araberfeindlichen, orthodoxen jüdischen Siedlers eingepflanzt wird. Der israelische Filmemacher Leon Geller und der Deutsche Marcus Vetter rekonstruieren die Geschichte zwei Jahre später anhand von TV-Material und der Befragung von betroffenen Familien und anderen Beteiligten. Sie begleiten Ismael Khatib, Ahmeds Vater, auf einer bewegenden Reise zu den Kindern, denen die Organe seines Sohnes das Leben retteten. Die Begegnungen mit den Familien führen zugleich das breite Spektrum der Probleme vor, die den Alltag israelischer Araber prägen. Der schwierigste Teil der Reise ist der Besuch bei dem jüdischen Siedler, der von beidseitiger Befangenheit, Unverständnis, aber auch tiefer Dankbarkeit seitens der jüdischen Familie bestimmt ist. Den Filmemachern gelingt es, die Dramatik dieser Situation spürbar zu machen, der eine hohe politische Symbolik innewohnt. „Das Herz von Jenin“ ist ein beeindruckendes Dokument, das auf der einen Seite die scheinbar unüberwindlichen Ressentiments zwischen Israelis und Arabern zeigt, die den Nahostkonflikt prägen. Auf der anderen Seite ist der Film aber auch ein Zeugnis dafür, dass Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft diesen Konflikt einmal überwinden könnten.“ Stimmen zu dem Film aus der nationalen und internationalen Filmkritik: Verleihung des Prädikats „besonders wertvoll“von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden: „Von Anfang an begleiten der deutsche Regisseur und sein israelischer Kollege diese außergewöhnliche Geschichte und bilden damit gleichzeitig einen Querschnitt verschiedener Lebenswirklichkeiten im Krisengebiet zwischen Militärpräsenz und kulturellen Vorurteilen ab. Ein bewundernswertes, humanes und politisch hochaktuelles Plädoyer, das seine Wirkung nicht verfehlt! Absolut sehenswert.“ Hilfreiche und ausgewogene Kritik von Daniel Sander, mit Fokus auf der zentralen Gestalt des Vaters: (spiegel.de/Kultur) „Gutmensch wider Willen“: Ein palästinensischer Mann lässt die Organe seines getöteten Sohnes spenden an Patienten in Israel, gleich welcher Religion. Eine Wohlfühl-Geschichte? Mitnichten: Der Dokumentarfilm "Das Herz von Jenin" macht es sich nicht einfach. Ahmed Khatib war zwölf Jahre alt, als er erschossen wurde. Der Junge aus der autonomen palästinensischen Stadt Dschenin war mit einer Maschinenpistole aus Plastik unterwegs, die so echt aussah, dass ihn israelische Soldaten für einen Terroristen hielten. Ein schreckliches Versehen, bitter und tragisch, wie es eben passieren kann, im permanenten Kriegszustand. Ahmeds Vater Ismael hat die Organe seines Sohnes spenden lassen. Herz, Nieren, Leber und Lunge, an sechs Patienten in Israel, der Fall hat Ende 2005 für ein großes Medieninteresse gesorgt. Ein Säugling hat die Transplantation nicht überlebt, zwei der Empfänger sind anonym geblieben - die anderen drei Kinder hat Ismael Khatib mit einem Filmteam besucht: den Beduinensohn Mohammed, die kleine Samah, die zu den Drusen gehört, und Menuha aus einer jüdischorthodoxen Familie in Jerusalem. An diesem Donnerstag kommt die dabei entstandene Dokumentation "Das Herz von Jenin" der Regisseure Leon Geller aus Israel und Marcus Vetter aus Deutschland in die Kinos, und die meisten Zuschauer dürften eine bewegende Wohlfühl-Geschichte erwarten, die Erzählung eines edlen Mannes, der seine Trauer hinten anstellt, um etwas Gutes zu tun, unabhängig von politischen und religiösen Grenzen. Und teilweise ist es auch so, doch einfach macht es sich der Film nicht. Schon die ersten Szenen sind alles andere als herzerwärmend: Es sind Bilder des toten Ahmed, der aus der Leichenhalle des israelischen Hospitals in einen Krankenwagen gebracht und zu seinen Eltern ins Westjordanland gefahren wird. Dort schart sich neben der weinenden Familie sofort eine Menschenmenge um die Leiche, wickelt sie in eine palästinensische Flagge und trägt sie durch die Stadt. "Hebt den Märtyrer hoch", ruft die Meute wütend. Und: "Jeder Tote wird mit hundert gerächt". Auch der Vater, der im Mittelpunkt des Filmes steht, ist nicht einfach ein heiliger Edelmann. Es sei ein Akt der Menschlichkeit gewesen, sagt er, "mit Politik hat das nichts zu tun". Doch später sagt er auch, seine Menschlichkeit sei als Widerstand zu verstehen. "Glaubst du, es hat den Israelis gefallen, was ich getan habe?", sagt er. Er bezeichnet sich selbst als ehemaligen Widerstandskämpfer, erzählt, dass er Molotow-Cocktails und Steine geworfen hat und mehrere Male im Gefängnis gelandet ist. Vor der Organspende hat er bei einem Chef der Al-Aksa-Brigaden nachgefragt, ob er das wirklich machen dürfe, auch der Mufti von Dschenin musste seine Genehmigung erteilen. Ismael Khatib glaubt an keine Aussöhnung, genauso wenig wie der strenggläubige Jude Jakoov Levinson, dessen Tochter von Ahmed eine Niere bekommen hat. Er ist unendlich dankbar, dass sein Kind leben darf, doch für ihn bleiben Palästinenser eine Bedrohung. "Diese verrückten Araber versuchen ständig, uns umzubringen", sagt er in die Kamera, und das Treffen der beiden Männer verläuft so unentspannt und unterschwellig feindselig, dass niemand ernsthaft annehmen kann, die beiden Lager könnten jemals zueinander finden. Es gibt keine Helden in "Das Herz von Jenin", nur Menschen, die versuchen, das Richtige zu tun. Ob das Anlass zur Hoffnung auf Frieden gibt, kann nur jeder Zuschauer für sich selbst interpretieren. Schon das macht diesen Film unbedingt sehenswert. (spiegel de. Kultur) Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „[...] Eine Reise durch besetzte Gebiete und mit Vorurteilen besetzte Herzen - und die Geschichte eines Mannes, der nicht mehr mit Gewalt gegen seine Feinde kämpft, sondern sie durch seine Menschlichkeit verwirrt. [...] „Das Herz von Dschenin“ verbindet Ismael Khatibs persönliche Geschichte auf geschickte Weise mit dem politischen Hintergrund: Man sieht Bilder eines palästinensischen Selbstmordanschlags, die zerstörten Häuser von Dschenin nach einer israelischen Militäraktion. Auf beiden Seiten verzweifelte Menschen, die vor dem Nichts stehen.“(Lilith Volkert) Die ZEIT schreibt zu dem Film: [...] „Doch eigentlich ist das befremdlich. Überall auf der Welt finden Organspenden statt, und das Großartige liegt darin, dass Herz und Niere für Unbekannte gegeben werden, ohne Prüfung der Empfänger. Man weiß nie, ob sie einem sympathisch wären, ihre Gesinnung wird nicht geprüft. Nie fiele es jemandem ein, Nationalität und Religion zu kontrollieren, wissen zu wollen, ob jemand die Spende "wert" ist. Doch hier, vor der Folie dieses unlösbaren Konflikts, hat das, was ja nur ein Geschenk sein kann, plötzlich auch den Aspekt eines Opfers angenommen: als hätte Ismael Khatib seinen Sohn für den Frieden geopfert. [...] Eine unhintergehbare gute Tat, die für mehr Irritation gesorgt hat, als es ein Selbstmordattentat je könnte. Trotzig steht sie über der brutalen Logik des Konflikts und ist dabei genauso bezwingend: Die Kinder mit den neuen Organen laufen wirklich herum, die Geste lässt sich nicht wegdiskutieren. Auch die politischen Feinde müssen sie anerkennen. Es ist nicht unmöglich, dass sogar die Wut des Ismael Khatib über den Tod seines Kindes in dieser Geste enthalten ist.“ (http://www.zeit.de/online/2009/19/film-herz-vonjenin?page=all3) Als Gegenstimme zu dem vielfach gelobten Film (u.a. auch in Haaretz, der liberalen jüdischen Zeitung aus Israel) schreibt W. Ulrich Sahm kritisch(er) im jüdischen Internetportal hagalil.com und zwar am Tag nach der Uraufführung, die am 11.7.2008 im Gedenkzentrum für Ministerpräsident Menachem Begin stattgefunden hat: „Vetter hat ein gutes Recht, den Vater des toten Ahmad, Ismail Khatib, zum Helden seines Films zu erheben. Doch warum unterschlägt Vetter Sprüche der Mutter Abla, die ihre Zustimmung zur Organspende auch als „Rache“ und „Teil des palästinensischen Widerstandes“ bezeichnet hatte. Und unerwähnt bleiben die viel häufigeren Fälle jüdischer Organspenden ermordeter Soldaten und Terroropfer an Palästinenser, „weil die nicht Teil meiner Geschichte waren“, wie Vetter gesteht. Ist es wirklich nur „sexy“, wenn Palästinenser für Juden spenden, während es „keine Story“ ist, wenn Juden für Palästinenser spenden? Wegen der Auslassungen und der einseitigen Darstellung, als gäbe es in Israel nur verrückte orthodoxe Juden, Nudisten oder Soldaten, während allein Araber „Menschen“ sind, verdient dieser gut und einfühlsam gedrehte Doku-Film keine Preise, sondern ernsthafte Rügen wegen unerträglicher subtiler Propaganda.“ (weiteres unter: http://www.hagalil.com/01/de/Israel.php?itemid=2601) Anregungen/Themen für ein Filmgespräch: 1. Anders als bei einem Spielfilm, einer fiktiven Geschichte, ist es einerseits einfacher, aber auch um vieles schwerer nach Identifikationen mit Filmfiguren zu fragen, nach formalen Themen wie Umgang mit Musik, es ist zum einen weniger Distanz zum Geschehen auf der Leinwand (eine wahre Geschichte!), zum anderen, wenn die Geschichte/die Protagonisten nicht anspricht, das Geschehen zu weit weg ist oder [unbewusste] Schutzmechanismen greifen (z.B.: „nicht schon wieder dieses so komplizierte Verhältnis zwischen Israel und Palästina“, das kenne ich doch vom Fernsehen…) ist es für Zuschauende nicht einfach in einen Film einzutauchen. Das gilt es auch bei einem Filmgespräch gleich im Anschluss an den Film zu berücksichtigen So ist es gut, nicht gleich thematisch einzusteigen, sondern erst einmal mit Fragen: Ein Dokumentarfilm über einen besonderen Mann, eine besondere Geschichte in einer sehr besonderen zeitgeschichtlichen Situation – welche Bilder, welche Sätze sind Ihnen hängengeblieben, wie ist es Ihnen mit diesem Film beim Ansehen gegangen? Der Film handelt vom Tod eines Kindes, von einer Organspende, einem trauernden Vater – alles sehr emotionale Themen, die das Innerste des Menschen bewegen – welche Gefühle hat der Film bei Ihnen ausgelöst, welche Erfahrungen, vielleicht auch welche (An-)Fragen? 2. In der Vorbereitung auf ein Filmgespräch und auch für ggf. folgende Informationsfragen ist es sinnvoll sich ein wenig Geographie und Geschichte zu vergegenwärtigen, z. B: Wo liegt Jenin im Westjordanland, wie weit ist es von Jerusalem entfernt, wo wohnt das Drusenmädchen oder der Beduinenjunge, die anderen besuchten Kinder, die gespendete Organe empfangen haben. Vgl. dazu u.a. auf Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Dschenin Weitere Hintergrundinformationen: Das internationale Interesse für den Film und Ismail Khatibs Handeln veranlasste die Stadt Cuneo in Italien, ein Jugendzentrum im Flüchtlingscamp von Jenin/ Dschenin zu stiften. An kulturellen Einrichtungen gerade für Jugendliche herrschte in Jenin/ Dschenin einiger Mangel. Auch Regisseur Marcus Vetter, der sich während des Drehs länger in Jenin/Dschenin aufgehalten hatte, begann, mit Jugendlichen zu arbeiten und Filmworkshops anzubieten. In Ismail Khatibs Jugendzentrum arbeiteten die Jugendlichen an eigenen Kurzfilmen - und stellten fest, dass es keinen Ort gab, diese zu zeigen. Zusammen mit Ismail Khatib und seinem Übersetzer Fakhri Hamad wurde Marcus Vetter auf das alte Kino im Herzen der Stadt aufmerksam, das seit Beginn der ersten Intifada 1987 geschlossen war. So entstand das Projekt Cinema Jenin, das zunächst die Wiedereröffnung des alten Kinos zum Ziel hatte, und mittlerweile zu einem der größten Social Entrepreneurship-Unternehmen des Westjordanlands angewachsen ist. 2010 wurde Ismail Khatib mit dem Hessischen Friedenspreis im Wiesbadener Landtag ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, er schilderte, wie schwer Khatibs Friedensgeste in der angespannten Situation in Israel gewesen sei. „Die meisten hätten an Rache gedacht“, sagte Primor. Diesem Impuls habe Khatib sogar noch widerstanden, als ihn Familien der geretteten israelischen Kinder feindselig empfangen hätten. Avi Primor zitierte jüdische wie islamische Glaubensüberzeugungen, in beiden Religionen heiße es, wer ein Leben rette, rette die ganze Welt. „Fünf Mal haben Sie die Welt gerettet“. Dieser letzte Satz könnte ebenso wie die Meinung von Ismail Khatib: „Mit meiner Tat, mit dieser menschlichen Geste für das Leben habe ich die Israelis mehr irritiert und auch provoziert als mit jedem Selbstmordanschlag“ auch als Frage, als Diskussionsgrundlage, für Zustimmung/Ablehnung etc. in den Raum gestellt werden. Ebenso wie die Frage: In vielen Kritiken wird über diesen Film als herausragendes Dokument von Versöhnung besprochen. Wie ist Ihre Meinung dazu? Dr. Julia Helmke