10.6 Mehratomige ideale Gase Wir wenden uns jetzt dem Problem molekularer idealer Quantengase zu. 10.6.1 Quantenmechanik der starren Hantel Eine starre Hantel aus zwei Punktmassen m1 und m2 , die durch eine starre, masselose Stange der Länge r0 verbunden sind, läßt sich auffassen als Zweikörperproblem mit dem speziellen kugelsymmetrischen Wechselwirkungspotential V (r) = −V0 δ(r − r0 ). (417) In Kugelkoordinaten folgt aus der Schrödingergleichung die Radialgleichung h ~2 d i ~2 ℓ(ℓ + 1) m1 m2 − + + V (r) uνℓ (r) = Eνℓ uνℓ (r), µ= , 2 2 2µ dr 2µ r m1 + m2 (418) für die Funktion uνℓ (r) im Radialteil der Wellenfunktion, ψνℓm (r, θ, φ) = uνℓ (r) Yℓm (θ, φ). r (419) Dabei ist ν = 0, 1, 2, ... die radiale Quantenzahl, also die Anzahl der Knoten (positive Nullstellen) von uνℓ (r). (Im Zweikörperproblem des H-Atoms – und nur dort – benutzt man alternativ die sog. Hauptquantenzahl n = ν + ℓ + 1 = 1, 2, 3, ...) Speziell im Potential (417) gibt es für große V0 und ℓ = 0 eine Näherungslösung, mV0 mV 2 −a|r−r0 | a= 2 , E00 = − 20 . u00 (r) = e (420) ~ 2~ u00 (r) ist bei r = r0 stark gepeakt und daher auch für ℓ > 0 näherungsweise eine Lösung. Für V0 → ∞ wird diese Näherung beliebig genau, mit dem Eigenwert E0ℓ = E00 + ~2 ~2 ℓ(ℓ + 1) = E + ℓ(ℓ + 1), 00 2µ r02 2I I = µr02 . (421) Wir können den Energienullpunkt so wählen, daß E00 = 0 wird, und den radialen Freiheitsgrad r ignorieren. Dann hängt die Wellenfunktion nur von den Winkelkoordinaten ab, ψ = ψ(θ, φ), und |ψ(θ, φ)|2 gibt die quantenmechanische Wahrscheinlichkeitsverteilung der räumlichen Ausrichtung der Hantelachse an. Der Hamiltonoperator ist dann Ĥ = L̂2 , 2I mit den Eigenfunktionen Yℓm (θ, φ) zu den (2ℓ + 1)-fach entarteten Eigenwerten 90 (422) ~2 ℓ(ℓ + 1). 2I 10.6.2 Das zweiatomige ideale Quantengas Wir betrachten ein Gas aus wechselwirkungsfreien, zweiatomigen Molekülen (Atommassen m1 , m2 ), etwa HCl oder H2 unter Vernachlässigung intermolekularer Kräfte. Dabei ist µ= m1 m2 M (M = m1 + m2 ) (423) die reduzierte Masse. Wir wollen Quanteneffekte berücksichtigen, aber nur im Rahmen der korrigierten Maxwell-Boltzmann-Statistik, mit der kanonischen Zustandssumme 1 Z(T, V, N) = z(T, V )N , N! z(T, V ) ≡ Z(T, V, 1) = ∞ X e−ǫj (V )/kB T . (424) j=1 Die Energien der Einteichenzustände seien vereinfachend Summen aus unabhängigen Beiträgen von Translation (Tr), Rotation (Rt) und Vibration (Vb) eines Moleküls, Rt Vb ǫj (V ) = ǫTr i (V ) + ǫℓ,m + ǫn , j = {i, ℓ, m, n}, (425) mit den Einzelbeiträgen ~2 )= ki (V )2 , 2M ~2 ℓ(ℓ + 1), ǫRt = ℓm 2I ǫVb = ~ω( 12 + n), n ǫTr i (V o n 2π αx ex + αy ey + αz ez αx , αy , αz ∈ Z , ki (V ) ∈ MV = L I = µr02 , ℓ = 0, 1, 2, ..., n = 0, 1, 2, ... . (426) Man beachte, daß nur der Translationsbeitrag vom Kastenvolumen V abhängt. Wegen der Zerlegung (425) haben wir die Produkte z(T, V ) = zTr (T, V ) · zRt (T ) · zVb (T ) 1 Z(T, V.N) = zTr (T, V )N zRt (T )N zVb (T )N , N! | {z } | {z } | {z } ZTr (T,V,N ) ZRt (T,N ) (427) (428) ZVb (T,N ) Für die Freie Energie ergibt sich also eine Summe, F (T, V, N) ≡ −kB T ln Z(T, V, N) h i = −kB T ln ZTr (T, V, N) + ln ZRt (T, N) + ln ZVb (T, N) = FTr (T, V, N) + FRt (T, N) + FVb (T, N). (429) ∂F )T,N haben also Rotation und Vibration der Moleküle keinen Einfluß auf Wegen P = −( ∂V den Druck P bzw. die thermische Zustandsgleichung P = P (T, V, N) des idealen Gases. 91 Wegen S = −( ∂F ) setzt sich auch die Entropie additiv zusammen ∂T V,N S(T, V, N) = STr (T, V, N) + SRt (T, N) + SVb (T, N). (430) Dasselbe gilt für die Energie U = F + T S, U(T, V, N) = UTr (T, V, N) + URt (T, N) + UVb (T, N). (431) Für jede dieser drei Komponenten von U gilt UXy = −kB T ln ZXy + kB T ∂ T ln ZXy . ∂T V,N (432) Für die spezifische Wärme CV folgt daraus nach kurzer Rechnug CVXy ≡ ∂U Xy ∂T V,N ∂2F ∂2 T ln Z ≡ −T . = kB T Xy ∂T 2 ∂T 2 V,N V,N (433) (A) Rotation Für den Rotationsbeitrag zur Freien Energie berechnen wir die Zustandssumme ∞ ∞ X ℓ X X Rt −βǫ ℓ,m (2ℓ + 1)e−ℓ(ℓ+1)TRt /T , e = zRt (T ) = ℓ=0 m=−ℓ TRt := ℓ=0 ~2 . 2IkB (434) Typische Werte der Temperatur TRt verschiedener zweiatomiger Gase sind TRt = 85.4 K (H2 ), 43 K (D2 ), 2.9 K (N2 ), 2.1 K (O2 ). (435) Da Gl. (434) nicht in geschlossener Form auswertbar ist, betrachten wir zwei Extremfälle. • Im Fall T ≪ TRt werden die Summanden ℓ ≥ 2 vernachlässigbar, zRt (T ) → 1 + 3e−2TRt /T . (436) Für den Beitrag zur Freien Energie F folgt also FRt (T, N) ≡ −kB T ln zRt (T )N → −NkB T ln(1 + 3e−2TRt /T ). (437) Rt ) zur Entropie S mit T → 0 Man prüft leicht nach, daß der Beitrag SRt = −( ∂F ∂T N verschwindet. Dasselbe weist man mit Gl. (433) auch für die Wärmekapazität CVRt nach. 92 • Im Fall T ≫ TRt können wir die Summe durch ein Integral ersetzen, Z ∞ iℓ=∞ T h T −f (ℓ) Rt /T zRt (T ) → dℓ (2ℓ + 1) |e−ℓ(ℓ+1)T = − e . = {z } | {z } TRt TRt ℓ=0 0 −f (ℓ) f ′ (ℓ)T /TRt (438) e Dann gilt also FRt (T, N) → −NkB T ln T , TRt SRt (T, N) → NkB + NkB ln T , TRt (439) und mit URt = FRt + T SRt folgt das bekannte klassische Resultat, 2 URt (T, N) → NkB T ≡ NkB T 2 ⇒ CVRt (T, N) → NkB . (440) (B) Vibration Für den Vibrationsbeitrag zur Freien Energie berechnen wir die Zustandssumme zVb (T ) = ∞ X Vb e−βǫn = e−TVb /2T n=0 ∞ X e−nTVb /T , n=0 TVb := ~ω . kB (441) Typische Werte der Temperatur TVb verschiedener zweiatomiger Gase sind TVb = 6340 K (H2 ), 4140 K (HCl), 3380 K (N2 ), 2270 K (O2 ). (442) Gl. (441) läßt sich als geometrische Reihe in geschlossener Form auswerten, zVb (T ) = e−TVb /2T . 1 − e−TVb /T (443) Der Vibrationsbeitrag zur Freien Energie ist also FVb (T, N) ≡ −NkB T ln zVb (T ) −TVb /T = NǫVb + Nk T ln 1 − e , B 0 ǫVb 0 = ~ω . 2 (444) Für SVb und UVb = FVb + T SVb ergeben sich TVb e−TVb /T −TVb /T SVb (T, N) = −NkB ln 1 − e + NkB , (445) T 1 − e−TVb /T −TVb /T NkB TVb NǫVb (T ≪ TVb ), 0 + N~ωe UVb (T, N) = NǫVb + → (446) Vb 0 T /T Nǫ0 + NkB T (T ≫ TVb ). e Vb − 1 Für die Wärmekapazität folgt hieraus schließlich T 2 eTVb /T NkB ( TTVb )2 e−TVb /T (T ≪ TVb ), Vb Vb → CV (N, T ) = NkB NkB (T ≫ TVb ). T (eTVb /T − 1)2 93 (447) 10.6.3 Der Gleichverteilungssatz Bei nicht zu tiefen Temperaturen T (d.h.: im klassischen Grenzfall) ist die kanonische Zustandssumme eines N-Teilchen-Systems mit hoher Genauigkeit gegeben durch Z Z X 1 1 −βEσ 3N Z(T, V, N) ≡ e ≈ d q d3N p e−βH(p,q) , (448) 3N N! h σ mit der klassischen Hamiltonfunktion H(p, q) ≡ H(q1 , ..., qn ; p1 , ..., pn ) und n = 3N. Unter diesen Voraussetzungen gilt der sogenannte Gleichverteilungssatz. Zu seiner Herleitung betrachten wir die Hamiltonfunktion H(q1 , ..., qn ; p1 , ..., pn ) ≡ H(y1, ..., y2n ) eines N-Teilchen-Systems (n = 3N). Eine ihrer 2n Variablen (Koordinate oder Impuls) sei x. Die Menge der 2n − 1 übrigen Variable bezeichnen wir mit Y und schreiben H = H(x, Y ), Y := {y1 , ..., y2n }\{x}. (449) Wir berechnen den Mittelwert Z Z ∞ D ∂H E ∂H(x, Y ) −βH(x,Y ) 1 1 2n−1 . = x· d Y ·e dx |{z} x · n ∂x Z N!h ∂x {z −∞ } | a(x) (450) b′ (x) Das x-Integral läßt sich partiell integrieren, Z ∞ Z h 1 i∞ 1 ∞ ′ −βH(x,Y ) dx a(x)b (x) = x · − e + dx e−βH(x,Y ) . β β −∞ −∞ −∞ (451) Unter der Voraussetzung, daß der Randterm verschwindet, folgt mit Gl. (448) für Z 1 D ∂H E Z 1 β = x· = ≡ kB T. ∂x Z β (452) Die wichtigste Anwendung dieses Resultats ist der Gleichverteilungssatz, häufig auch Äquipartitionstheorem genannt: Hat die Hamiltonfunktion die Form H = H0 (Y ) + h(Y )x2 , (453) wobei, in obiger Notation, x eine der 2n Variablen von H ist und H0 (Y ), h(Y ) beliebige Funktionen der übrigen 2n − 1 dieser Variablen sind (also nicht von x abhängen), h(Y )x2 = 1 ∂H x· , 2 ∂x (454) so ist der Beitrag des Terms h(Y )x2 zur Energie U(T, V, N) gegeben durch δU(T, V, N) = 94 kB T . 2 (455) Zur Erläuterung ein typisches Beispiel: Ein zweiatomiges Molekül wird klassisch beschrieben als eine starre Hantel mit masseloser Stange (Länge a) und zwei Punktmassen m1 und m2 . Der Schwerpunkt habe die kartesischen Koordinaten X, Y und Z. Für den Verbindungsvektor r := r2 − r1 der Punktmassen (Relativkoordinate) wählen wir Kugelflächenkoordinaten θ und φ. Dann lautet die klassische Hamiltonfunktion H(X, Y, Z, θ, φ; PX , PY , PZ , pθ , pφ ) = p2φ PX2 + PY2 + PZ2 1 2 , p + + 2M 4ma2 θ sin2 θ (456) mit der Schwerpunktmasse M und der reduzierten Masse m, M = m1 + m2 , m= m1 m2 . m1 + m2 (457) Diese Hamiltonfunktion ist eine Summe aus 5 Termen der Form h(Y )x2 . Ein Gas aus N solchen Molekülen hat daher im klassischen Grtenzfall die innere Energie 5 U(T, V, N) = NkB T. 2 (458) Bei tiefen Temperaturen frieren allerdings die Rotations-Freiheitsgrade ein, ein Quanteneffekt. 95