„Pfiffikus durch Bewegungsfluss“ – Projekt zur integrativen Motorik und Kognitionsförderung Prof. Frank Bittmann, Jana Herrmann, Norman Radeiski, UniversitŠt Potsdam, Institut fŸr Sportmedizin und PrŠvention Die kšrperliche Verfassung von Kindern hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verschlechtert. Immer wieder deuten zahlreiche Hinweise darauf, dass unsere Kinder heutzutage zu verminderter Gesundheit sowie geistiger und kšrperlicher Leistungsminderung tendieren, was fŸr die Zukunft eine Zunahme chronischer Erkrankungen befŸrchten lŠsst. Die brandenburgische Sportlehrerschaft berichtet dazu in jŸngster Zeit immer hŠufiger von BewegungsauffŠlligkeiten der Kinder und bestŠtigt die Zunahme konditioneller (Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit) und koordinativer SchwŠchen. Im Vergleich zu SchŸlern vor 20 Jahren laufen unsere Kinder heute langsamer, springen und werfen weniger weit und haben Probleme das Gleichgewicht zu halten So berichtet auch die Zeitschrift ãElternÒ (April 2000) von einer Zunahme fšrderbedŸrftiger Kinder von 16 auf 47%. Eine wichtige Ursache fŸr diese Fehlentwicklung ist in einer meist zu geringen und einseitigen Bewegungsfšrderung der Kinder zu suchen. Die zunehmende Kommunikationstechnologie unserer Lebensumwelt durch Computerisierung, Spielkonsolen, Telekommunikation verŠndert die Lebensgewohnheiten der Kinder und fŸhrt zu einer ãVerkŸmmerungÒ der in ihnen schlummernden FŠhigkeiten. 90 ãPFIFFIKUS DURCH BEWEGUNGSFLUSSÒ Einheit von Kšrper, Seele und Geist Die hier aufgezeigten Defizite im Bereich der Motorik sind allerdings nicht die einzige Fehlentwicklung, die Anlass zur Sorge gibt: Das Landesgesundheitsamt Brandenburg berichtete, dass in den letzten 10 Jahren neben deutlich zunehmenden Allergien vor allem Sprach- und BewegungsauffŠlligkeiten bei brandenburgischen Kindern auftraten. Zudem zeigen die aktuellen Ergebnisse der PISAStudie gravierende Defizite unserer Kinder im kognitiven Bereich. Kšrperliche Fehlentwicklungen gehen also Hand in Hand mit solchen des Nerven- und Immunsystems. Bei einer gemeinsam mit dem Ministerium fŸr Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg durchgefŸhrten Untersuchung an 8oo brandenburgischen Kinder der 4. Klasse konnte der enge Zusammenhang zwischen geistiger und kšrperlicher LeistungsfŠhigkeit aufgezeigt werden. Gute und schlechte SchŸler unterschieden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Schulleistungen, sondern auch in ihrer BalancefŠhigkeit. Beides sind in erster Linie Hirnleistungen. So kann es sein, dass generalisierte EinschrŠnkungen der Funktion des Gehirns sich hier wie dort niederschlagen. Demnach kann ein nicht hinreichend ausgereiftes Nervensystem die Koordination und Kognition gleicherma§en beeintrŠchtigen. Der bekannte Intelligenzforscher Howard Gardner (ãEmotionale IntelligenzÒ) unterscheidet innerhalb seiner ãTheorie der multiplen IntelligenzenÒ u.a. neben Logik und Sprachintelligenz auch musikalische und rŠumliche FŠhigkeiten sowie ãeine sogenannte kšrperlich-kinŠsthetische (wie sie in Form von Bewegung und Kšrperbeherrschung beispielsweise bei Athleten, TŠnzern und anderen darstellenden KŸnstlern vorkommt)Ò (Spektrum der wissenschaft spezial: Intelligenz 2001) als eine der von ihm isolierten 9 Intelligenzformen. Diese Intelligenzformen Gardners liegen der gegenwŠrtig laufenden Diskussion um die kŸnftigen Bildungsziele der Kita zu Grunde. DemgegenŸber weist allerdings die US-amerikanische Kognitionswissenschaftlerin Linda Gottfredson darauf hin, dass trotz der relativen EigenstŠndigkeit dieser Intelligenzformen eine hohe Korrelation zwischen diesen besteht. Letztlich hŠngen diese verschiedenen Leistungsbereiche zusammen, bilden eine Einheit. Gottfredson schloss daraus, dass hirnphysiologische Funktionen ( wie etwa die Arbeitsgeschwindigkeit von neuronalen Schaltprozessen) hierbei eine entscheidende Rolle spielen mŸssen. Verschiedene Arbeitsgruppen in Nordamerika und Europa fanden denn auch einen mittleren Zusammenhang zwischen dem IQ und der kernspintomografisch ermittelten Grš§e des Gehirns, aber auch mit einer hšheren Nervenleitgeschwindigkeit und einem niedrigen Energieverbrauch des Gehirns beim Problemlšsen bei intelligenteren Personen. All diese Beobachtungen fŸhren letztlich zu der Vermutung, die Unterschiede zwischen unterschiedlich intelligenten Menschen rŸhrten von einer schnellen und effizienten Verarbeitung im Nervensystem her. Die Grundlage fŸr effiziente Hirnfunktionen ist eine hinreichende Ausbildung von Verbindungen zwischen den Nervenzellen des Gehirns. Hierzu ist bekannt, dass das Gehirn vor der Geburt Nervenzellen im †berschuss produziert, die bis zum zehnten Lebensjahr abgebaut werden, wenn sie nicht durch die Bildung von Synapsen verschaltet werden. Und gerade motorische AktivitŠten fšrdern die Herstellung von Verschaltungen und die Freisetzung von Substanzen zur Erhaltung der Gehirnzellen (P.M. direkt 3/2004). Intelligenz dŸrfte damit davon abhŠngen, wie komplex die beteiligten Nervenzellen miteinander verschaltet sind und mit welcher Geschwindigkeit das Gehirn Informationen aufnimmt, verarbeitet, bewertet und beantwortet. Diese QualitŠten sind fŸr gute kognitive (z.B. gutes LeseverstŠndnis) und fŸr gute sensomotorische Leistungen gleicherma§en erforderlich. Hirnreifung fšrdern! Demzufolge ist eine Fšrderung der Phase, in der das Hirn besonders schnell reift und wŠchst, besonders angezeigt, wenn wir die kindliche Entwicklung in allen ihren Facetten unterstŸtzen wollen. Der Grad der nervalen Verschaltung (Myelinisierung) der Neuronen des Gehirns ist beim Neugeborenen noch sehr gering. Die Art und Weise der verschiedensten Reize in den ersten Lebensjahren entscheiden wesentlich Ÿber die QualitŠt der Vernetzung und damit der Reifung des Gehirns. Neurophysiologisch gesichert ist, dass hierfŸr mšglichst vielseitige und vor allem gleichzeitige Aktivierungen verschiedenster Hirnzentren erfolgen mŸssen. ãPFIFFIKUS DURCH BEWEGUNGSFLUSSÒ 91 Dass hei§t, die Kinder sollten verschiedene TŠtigkeiten gleichzeitig tun. Damit eršffnet sich ein Weg, durch Anforderungen, die viele verschiedene Hirnareale gleichzeitig aktivieren, die Reifung des Nervensystems in den entscheidenden Entwicklungsjahren zu fšrdern. Dies sollte ganz besonders in der Zeit bis zum 10. Lebensjahr geschehen, da dann das Nervensystem seine stŸrmischste Aufbauphase bereits hinter sich hat. Aus diesem Grund ist das Ziel unseres Projektes, das wichtigste Ð alle Funktionen vermittelnde und integrierende Ð Organsystem: das Nervensystem in seiner Entwicklung insbesondere in seiner wesentlichen Reifungsphase zu fšrdern. Dabei spielen das Kindergarten- und Grundschulalter die entscheidende Rolle, weshalb Kitas und Grundschulen als Standorte fŸr solche Interventionen prŠdestiniert sind! Bewegung macht schlau! In keiner anderen Lebensphase wenden sich Kinder mit so gro§er Begeisterung und so viel Neugierde ihrer Umwelt zu, wie in der Zeit vom 6. bis zum 10. Lebensjahr. Bewegung ist hier der wichtigste Entwicklungsreiz fŸr den kindlichen Organismus. Neben stauchenden KrŠften, die die Knochenreifung stimulieren oder verschiedenen Kraftentfaltungen, die die Entwicklung der Muskeln und Sehnen ermšglichen, ist Bewegung in erster Linie ein essentieller Reiz fŸr die Ausreifung der Strukturen des zentralen Nervensystems. Das Vor- und Grundschulalter ist die zeitlich limitierte sensitive Phase, innerhalb der Ð neben anderen Strukturen Ð insbesondere das Nervensystem zur weit gehenden Ausrei- 92 ãPFIFFIKUS DURCH BEWEGUNGSFLUSSÒ fung gelangt. Durch Bewegungsreize werden die weit verzweigten, komplexen und auf beide HirnhŠlften verteilten motorischen Zentren aktiviert und somit entwickelt. Man kann davon ausgehen, dass damit ein positiver Entwicklungsreiz auch fŸr andere Hirnleistungen gesetzt wird. VersŠumnisse in dieser Zeit sind nicht adŠquat aufholbar. Reifungsfšrdernde Strategien der motorischen Erziehung im Kita-Alltag erforderlich Aus entwicklungsphysiologischer Sicht kommt es darauf an, dass sich Kinder im Vorschul- und Grundschulalter hŠufig und lange mit den unterschiedlichsten koordinativen Aufgaben auseinandersetzen sollen. Wenn dabei die Leistung des Gehirns im Mittelpunkt stehen soll, mŸssen allerdings derartige AktivitŠten mšglichst viele und gro§e Hirnareale aktivieren. Dies sind insbesondere Hirnareale der Sinnesverarbeitung (tasten, sehen, hšren, riechen, schmecken) und der motorischen Steuerung. So benutzt z.B. ein Kind wesentlich mehr Nervenstrukturen, wenn es einfache FingerŸbungen macht als wenn es Kniebeugen durchfŸhrt. Es gibt also bestimmte Bewegungsaufgaben, die aus Sicht der Hirnreifung von besonderem Wert sind. Wichtig ist, all diese spezifischen sensorischen und motorischen FŠhigkeiten mšglichst im sensitiven Alter von 3 bis ca. 10 Jahren hŠufig und in komplexen und vielfŠltigen Formen zu Ÿben und simultan mit kognitiven Anforderungen zu kombinieren. Dies erfordert eine geeignete †bungsauswahl und -kombination sowie deren altersgerechte, freudbetonte, (bewegungs-) pŠdagogische Aufbereitung. Das Projektkonzept Unser Projekt ãPfiffikus durch BewegungsflussÒ verfolgt das Ziel, die Phase der maximalen Hirnreifung in der Zeit zwischen 4. und 11. Lebensjahr (im ersten Schritt innerhalb des Projektes zwischen 4. und 7. Lebensjahr) optimal zu fšrdern. Im Ergebnis soll die in dieser Zeit intensiv vor sich gehende Vernetzung von Hirnstrukturen verbessert werden. Damit sollen letztlich beim Kind optimale biologische Bedingungen geschaffen werden fŸr eine harmonische, ganzheitliche Entwicklung auf hohem Niveau. Es geht nicht um das isolierte Training einzelner FŠhigkeiten, sondern mit der UnterstŸtzung der nervalen Reifung um die Schaffung universeller (systemische) Grundlagen fŸr mšglichst viele kšrperliche, geistige, seelische und auch soziale Kompetenzen, die parallel und v.a. spŠter darauf aufbauend entwickelt werden sollen. Zu diesem Zweck werden in vier Potsdamer KindergŠrten der TrŠger Internationaler Bund sowie Independent Living spezielle †bungsprogramme erarbeitet und erprobt. Dies erfolgt in Zusammenarbeit von Kita-Erzieherinnen und einem Wissenschaftlerteam des Instituts fŸr Sportmedizin und PrŠvention der UniversitŠt Potsdam. Das Projekt wird von der AOK des Landes Brandenburg sowie vom Ministerium fŸr Bildung, Jugend und Sport gefšrdert und in allen Belangen unterstŸtzt. Ein wichtiger Punkt bei der DurchfŸhrung des Projektes ist, dass die †bungen nicht als zusŠtzliche Last zum ohnehin schon vollen KitaProgramm aufgepfropft werden, sondern sich in den normalen Alltag organisch einfŸgen. Hierzu werden insbesondere alltŠgliche Prozeduren wie z.B. das Mittagessen oder der Weg zum Essenraum genutzt, um regelmŠ§ige Anreize zu schaffen, die wertvollen ãPfiffikusÒ- †bungen umzusetzen. Eine weitere Besonderheit liegt im pŠdagogischen Ansatz: Zum Trainieren neuromotorischer Aufgaben bietet sich die ZirkuspŠdagogik wie kein zweites pŠdagogisches Konzept an. OriginŠre ZirkuskŸnste beinhalten neben der Fšrderung der Sensomotorik auch psychologische und soziale QualitŠten. So werden z.B. diverse Balanceleistungen, Jonglage in den unterschiedlichsten Schwierigkeitsstufen, aber auch Clownerie, Tanz und Musik zu einem Gemeinschaftsunternehmen vereint, in das sich jedes Kind differenziert nach seinen Mšglichkeiten einbringen kann. Im Elementarbereich wird fŸr diese KŸnste ein Grundstein gelegt, indem in jeder Kita einfache grundlegende Formen geŸbt werden. Zu Beginn des Projektes erfolgte eine umfangreiche Eingangsuntersuchung des Entwicklungsstandes der teilnehmenden Kinder. Hierbei ging es um die kšrperliche, motorische und geistige Entwicklung. Nach Ablauf der Interventionsphase von 3 Jahren kommt dann die Abschlussuntersuchung, mit der die mšglicherweise erzielten Effekte gemessen werden. Erfahrungen nach dem ersten Jahr Nach Abschluss der Eingangsuntersuchung begann die Entwicklung einer †bungskartei fŸr den tŠglichen Gebrauch in der Kita. Es zeigte sich bald, dass die EinfŸhrung und Realisierung von einer Reihe von Rahmenbedingungen abhŠngen. Dazu gehšren z.B. personale Faktoren (Einstellung und Engage- ãPFIFFIKUS DURCH BEWEGUNGSFLUSSÒ 93 ment der Beteiligten, UnterstŸtzung durch die Leitungsebene und Eltern, Personalausstattung...), organisatorische Faktoren (Gruppengrš§e, Zeitmanagement, pŠdagogisches Konzept...) oder etwa die rŠumliche und sŠchliche Ausstattung. Im Verlauf der Integration des Projektes in den Kitas wurden die einzelnen Gruppenoder FunktionsrŠume von den Erzieherinnen unter die Lupe genommen und so umstrukturiert, dass die Kinder jetzt mehr Bewegungsfreiheit haben. Auch konnten mit einfachen Hilfsmitteln, wie z.B. Klebestreifen auf dem Boden, Anreize geschaffen werden, die die Kinder dazu verleiten sich vielseitig und experimentell zu bewegen. Die Integration der †bungen in den Alltag entpuppte sich dabei als die grš§ere Herausforderung als die Entwicklung der Inhalte. Hierbei erwies es sich als notwendig, neben den †bungsinhalten auch die Methodik des Einsatzes im Alltag zu entwickeln. Auf der Suche nach dem ãWieÒ kristallisierten sich verschiedene AnsŠtze heraus, mit deren Hilfe eine ausreichende Implementierung des Pfiffikus-Projektes in den Kitas gewŠhrleistet werden kann. Die †bungen wurden beispielsweise in die tŠglichen Rituale und Angebote bzw. in die wšchentliche Sportstunde eingebaut. Einen weiteren Ansatz stellen die ab April 2004 eingefŸhrten Bewegungsmottos dar, die die Kinder zu mehr und vor allen zu gezielter Bewegung anregen. FŸr die Einbeziehung des Au§engelŠndes der Kitas ist ab Mai 2004 die Einrichtung eines Trimmpfades geplant. Die Ergebnisse der Arbeit sollen schlie§lich in einer †bungssammlung zusammengefasst 94 ãPFIFFIKUS DURCH BEWEGUNGSFLUSSÒ werden, die ohne gro§en Mehraufwand in die pŠdagogische Arbeit integriert werden kann. Die †bungssammlung soll dann aufbereitet werden, so dass den Erzieherinnen sowie den Kindern geeignete Lehrmaterialien zur DurchfŸhrung des Projektes in der Kita zur VerfŸgung stehen. Das Konzept sieht dabei keine engen Vorgaben mit ganz konkreten BewegungsablŠufen vor, sondern soll in erster Linie das Kind zum spielerischen Erproben der eigenen Mšglichkeiten anregen. Dies wird durch ausgesuchte, aber erschwingliche Materialien und GerŠte mit hohem Aufforderungscharakter unterstŸtzt. Ausblick Sollten sich nach Ablauf der nŠchsten 11/2 Jahre der Intervention (bis Sommer 2005) durch die Abschlussuntersuchung die angestrebten positiven Effekte bestŠtigen lassen, so soll ein Fortbildungskonzept entstehen, dass zur Verbreitung des Projektes innerhalb des Landes Brandenburg dient. Um die IndividualitŠt jeder Kita zu berŸcksichtigen, wird gleicherma§en ein Beratungskonzept entwickelt, dass den Ist-Zustand jeder Kita feststellen und bezŸglich der mšglichen Integration des Projektes analysieren soll. Damit wŠre eine †bertragung des Projektes auf andere KindertagesstŠtten und Grundschulen ohne gro§en personellen und rŠumlichen Mehraufwand mšglich. Es kšnnte dann einen Beitrag zur Umsetzung der Bildungszielvorgaben leisten. Insbesondere wŠre damit die Mšglichkeit gegeben, integrativ verschiedene dieser Ziele in komplexer Weise zu verwirklichen.