Defizite bei unseren Kindern bei Bewegung und Gesundheit ãPfiffikus durch BewegungsflussÒ Ð ein Projekt der integrativen Motorik- und Kognitionsfšrderung in der Kita / Frank Bittmann Zahlreiche Hinweise deuten seit einiger Zeit bei unseren Kindern auf eine Tendenz verminderter Gesundheit sowie geistiger und kšrperlicher Leistungsminderung hin, die eine weitere Zunahme chronischer Krankheiten in Zukunft befŸrchten lŠsst. Die brandenburgische Sportlehrerschaft berichtet in jŸngster Zeit immer hŠufiger von BewegungsauffŠlligkeiten der Kinder. Die Mehrzahl der auf der Landessportlehrerkonferenz 1999 hierzu befragten Lehrer bestŠtigte zunehmende konditionelle (Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit), aber auch SchwŠchen in der Koordination. Die Ergebnisse eigener Untersuchungen stŸtzen diese Aussagen. Die Auswertung der Bundesjugendspiele an einer Berliner Grundschule im Vergleich von 1995 und 1999 (Ketelhut/Bittmann 1999) ergab: Ð Verminderung der Zahl der Ehrenurkunden von 105 auf 65; Ð Verschlechterung der Weitsprungleistungen um ca. 20 cm bei den Jungen und MŠdchen; Ð deutlich langsamere Laufleistungen Ÿber 1000 m von ca. einer halben Minute. Auch die aktuelle Literatur gibt Anlass, das beobachtete PhŠnomen ernst zu nehmen: Die Zeitschrift ãElternÒ (April 2000) berichtet 52 DEFIZITE BEI UNSEREN KINDERN von einer Zunahme der fšrderbedŸrftigen Kinder von 16 auf 47 %. Danach springen 7-jŠhrige Kšlner MŠdchen 13 cm kŸrzer als vor 12 Jahren. Im Vergleich zu 1982 sprinten Kinder im Grundschulalter die 60 Meter 1 Sekunde langsamer und 13-JŠhrige werfen heute den Schlagball 8 Meter kŸrzer als Gleichaltrige in 1982. (Hirtz 1996) Die zurŸckgelegte Distanz bei einem 6-Minutenlauf 10-jŠhriger GrundschŸler betrug im Jahr 1977 durchschnittlich 1145 Meter, 1991 bei Kleinstadtkindern 981 Meter und 1991 bei Gro§stadtkindern 890 Meter. (Bšs, Kunz) Bei Untersuchungen mittels des Motoriktests fŸr 4- bis 6-jŠhrige (MOT 4 - 6 nach Zimmer/Volkhammer 1984/1987) weist Lensing einen RŸckgang des mittleren motorischen Quotienten um ca. 9 % innerhalb der letzten 12 Jahre nach, wobei auffŠllig ist, dass der RŸckstand mit zunehmendem Alter der untersuchten Kinder grš§er wird. Einheit von Kšrper, Seele und Geist Die aufgezeigten Defizite im Bereich der Motorik sind allerdings nicht die einzige Fehlentwicklung, die Anlass zur Sorge gibt: Das Landesgesundheitsamt Brandenburg berichtete, dass in den letzten 10 Jahren neben deutlich zunehmenden Allergien vor allem auch Sprach- und BewegungsauffŠlligkeiten bei brandenburgischen Kindern auftreten. Zudem zeigen die aktuellen Ergebnisse der PISA-Studie gravierende Defizite unserer Kinder im kognitiven Bereich. Kšrperliche Fehlentwicklungen gehen also Hand in Hand mit solchen des Nerven- und Immunsystems. Wir konnten bei einer gemeinsam mit dem Ministerium fŸr Bildung Jugend und Sport in Brandenburg durchgefŸhrten Untersuchung an 800 brandenburgischen Kindern der 4. Klasse zeigen, wie eng geistige und kšrperliche LeistungsfŠhigkeit zusammenhŠngen: Gute und schlechte SchŸler unterschieden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Schulleistungen, sondern auch in ihrer BalancefŠhigkeit. Beides sind in erster Linie Hirnleistungen. So verwundert es nicht, wenn generalisierte EinschrŠnkungen der Funktion des Gehirns sich hier wie dort niederschlagen. Der bekannte amerikanische Intelligenzforscher Howard Gardner (ãEmotionale IntelligenzÒ) unterscheidet innerhalb seiner ãTheorie der multiplen IntelligenzenÒ u.a. neben Logik und Sprachintelligenz auch musikalische und rŠumliche FŠhigkeiten sowie ãeine so genannte kšrperlich-kinŠsthetische FŠhigkeit (wie sie in Form von Bewegung und Kšrperbeherrschung beispielsweise bei Athleten, TŠnzern und anderen darstellenden KŸnstlern vorkommt)Ò (Spektrum der Wissenschaft spezial: Intelligenz 1/2000) als eine der von ihm isolierten 9 Intelligenzformen. Diese Intelligenzformen Gardners liegen der gegenwŠrtig laufenden Diskussion um die kŸnftigen Bildungsziele der Kita zugrunde. DemgegenŸber weist allerdings die US-amerikanische Kognitionswissenschaftlerin Linda S. Gottfredson darauf hin, dass trotz der relativen EigenstŠndigkeit dieser Intelligenzformen eine hohe Korrelation zwischen diesen besteht. Das hei§t: Letztlich hŠngen diese verschiedenen Leistungsbereiche zusammen, bilden eine Einheit. Gottfredson schloss daraus, dass hirnphysiologische Funktionen (wie etwa die Arbeitsgeschwindigkeit von neuronalen Schaltprozessen) hierbei eine entscheidende Rolle spielen mŸssen. Verschiedene Arbeitsgruppen in Nordamerika und Europa fanden denn auch einen mittleren Zusammenhang zwischen dem IQ und der kernspintomografisch ermittelten Grš§e des Gehirns, aber auch mit einer hšheren Nervenleitgeschwindigkeit und einem niedrigeren Energieverbrauch des Gehirns beim Problemlšsen bei intelligenteren Personen. All diese Beobachtungen fŸhren letztlich zu der Vermutung, die Unterschiede zwischen unterschiedlich intelligenten Menschen rŸhrten von einer unterschiedlich schnellen und effizienten Verarbeitung im Nervensystem her. Die Grundlage hierfŸr ist eine hinreichende Ausbildung von Verbindungen zwischen den Nervenzellen des Gehirns. Intelligenz dŸrfte damit davon abhŠngen, wie komplex die beteiligten Nervenzentren miteinander verschaltet sind und mit welcher Geschwindigkeit das Gehirn Informationen aufnimmt, verarbeitet, bewertet und beantwortet. Diese QualitŠten sind fŸr gute kognitive (z.B. gutes LeseverstŠndnis) und fŸr gute sensomotorische Leistungen gleicherma§en erforderlich. Hirnreifung fšrdern! Daraus ist zu schlie§en, dass wir die kindliche Entwicklung in allen ihren Facetten unterstŸtzen, wenn wir die Phase der Hirnreifung fšrdern. DEFIZITE BEI UNSEREN KINDERN 53 Der Grad der nervalen Verschaltung (Myelinisierung) der Neuronen des Gehirns ist beim Neugeborenen noch sehr gering. Die Art und Weise der Reizsetzung in den ersten Lebensjahren entscheiden dann aber wesentlich Ÿber die QualitŠt der Vernetzung und damit der Reifung des Gehirns. Neurophysiologisch gesichert ist, dass hierfŸr mšglichst vielseitige und vor allem simultane Aktivierungen verschiedenster Hirnzentren erfolgen mŸssen. Das hei§t, man muss verschiedene TŠtigkeiten gleichzeitig tun. Damit eršffnet sich ein Weg, durch Anforderungen, die viele verschiedene Hirnareale gleichzeitig aktivieren, die Reifung des Nervensystems in den entscheidenden Entwicklungsjahren zu fšrdern. Dies sollte ganz besonders in der Zeit bis zum 10. Lebensjahr geschehen, da dann das Nervensystem seine stŸrmischste Aufbauphase bereits hinter sich hat. Unser Projekt zielt auf das wichtigste Ð alle Funktionen vermittelnde und integrierende Ð Organsystem: das Nervensystem, das in seiner Entwicklung insbesondere in seiner wesentlichen Reifungsphase gefšrdert werden soll. Dabei spielen das Kindergarten- und Grundschulalter die entscheidende Rolle, weshalb Kitas und Grundschulen als setting fŸr solche Interventionen prŠdestiniert sind! Zur Bedeutung von Bewegung fŸr die neuronale Reifung im Kindesalter Bewegung ist der wichtigste Entwicklungsreiz fŸr den kindlichen Organismus! Stauchende KrŠfte bewirken Knochenreifung. Zirkulation der GelenksflŸssigkeit ernŠhrt Knorpelstrukturen. Kraftentfaltung in Muskeln und Sehnen fšrdert deren Entwicklung. Ausdauerbelastun- 54 DEFIZITE BEI UNSEREN KINDERN gen fšrdern das Herz-Kreislauf-System sowie das Immunsystem. Bewegung im Kindesalter ist aber in erster Linie essenzieller Reiz fŸr die Ausreifung der Strukturen des zentralen Nervensystems. Das Kindergarten- und Grundschulalter sind die zeitlich limitierte sensitive Phase, innerhalb der Ð neben anderen Strukturen Ð insbesondere das Nervensystem zur weit gehenden Ausreifung gelangt. Dabei spielen Bewegungsreize eine gro§e Rolle, werden doch durch sie die weit verzweigten, komplexen und auf beide HirnhŠlften verteilten motorischen Zentren aktiviert und somit entwickelt. Man kann davon ausgehen, dass damit ein positiver Entwicklungsreiz auch fŸr andere Hirnleistungen gesetzt wird. VersŠumnisse in dieser Zeit sind nicht adŠquat aufholbar. Eine ausgefallene Bewegungsstunde im Kindesalter ist unwiederbringlich fŸr die Entwicklung des Kindes verloren (im Gegensatz beispielsweise zu einer Englischstunde). Neue Strategien der motorischen Erziehung im KITA-Alter erforderlich Aus entwicklungsphysiologischer Sicht kommt es also darauf an, die Kinder mšglichst im Vorschul- und Grundschulalter hŠufig und lange mit den unterschiedlichsten koordinativen Aufgaben zu konfrontieren. Wenn dabei Hirnleistungen im Mittelpunkt stehen sollen, mŸssen allerdings derartige AktivitŠten mšglichst viele und gro§e Hirnareale der Sinnesverarbeitung und der motorischen Steuerung aktivieren. So benutzt zum Beispiel ein Kind wesentlich mehr Nervenstrukturen, wenn es bestimmte FingerŸbungen macht als wenn es Kniebeugen durchfŸhrt. Es gibt also bestimmte Bewegungsaufgaben, die aus Sicht der Hirnreifung von besonderem Wert sind. In der Praxis kommt es darauf an, all diese spezifischen sensorischen und motorischen FŠhigkeiten mšglichst im sensitivsten Alter von 3 bis ca. 10 Jahren hŠufig und in komplexen und vielfŠltigen Formen zu Ÿben und simultan mit kognitiven Anforderungen zu kombinieren. Dies erfordert eine geeignete †bungsauswahl und -kombination sowie deren altersgerechte, freudbetonte (bewegungs-) pŠdagogische Aufbereitung. Das Projektkonzept Unser Projekt ãPfiffikus durch BewegungsflussÒ verfolgt das Ziel, die Phase der maximalen Hirnreifung in der Zeit zwischen 4. und 11. Lebensjahr (im ersten Schritt innerhalb des geplanten Projekts zwischen 4. und 7. Lebensjahr) optimal zu fšrdern. Im Ergebnis soll die in dieser Zeit intensiv vor sich gehende Vernetzung von Hirnstrukturen (Neuronen, Hirnzentren unterschiedlicher Funktion) verbessert werden. Damit sollen letztlich beim Kind optimale biologische Bedingungen geschaffen werden fŸr eine harmonische, ganzheitliche Entwicklung auf hohem Niveau. Es geht nicht um das isolierte Training einzelner FŠhigkeiten, sondern mit der UnterstŸtzung der nervalen Reifung um die Schaffung universeller (systemischer) Grundlagen fŸr mšglichst viele kšrperliche, geistige, seelische und auch soziale Kompetenzen, die parallel und v.a. spŠter darauf aufbauend entwickelt werden sollen. In vier Potsdamer Kitas der TrŠger Internationaler Bund sowie Independent Living werden zu diesem Zweck spezielle †bungsprogram- me erarbeitet und erprobt. Dies erfolgt in Zusammenarbeit von Kita-Erzieherinnen und einem Wissenschaftlerteam des Instituts fŸr Sportmedizin und PrŠvention der UniversitŠt Potsdam. Das Projekt wird von der AOK des Landes Brandenburg sowie vom Ministerium fŸr Bildung, Jugend und Sport gefšrdert und in allen Belangen unterstŸtzt. Dabei wird darauf geachtet, dass die †bungen nicht als zusŠtzliche Last zum ohnehin schon vollen Kita-Programm aufgepfropft werden, sondern sich in den normalen Alltag organisch einfŸgen. Zu Beginn erfolgt eine umfangreiche Eingangsuntersuchung des Entwicklungsstandes der teilnehmenden dreijŠhrigen Kinder. Hierbei ging es um die kšrperliche, motorische und geistige Entwicklung. Nach Ablauf der Interventionsphase von 3 Jahren kommt dann die Abschlussuntersuchung, mit der die mšglicherweise erzielten Effekte gemessen werden sollen. Erfahrungen nach dem ersten Jahr Nach den Eingangsuntersuchungen begann die Entwicklung eines †bungskatalogs fŸr die Hand der Erzieherinnen. Hierbei zeigte sich bald, dass dessen EinfŸhrung und Realisierung von einer Reihe von Rahmenbedingungen abhŠngen. Dazu gehšren z.B. personale Faktoren (Einstellung und Engagement der Beteiligten, UnterstŸtzung durch die Leitungsebene und Eltern, Personalausstattung...), organisatorische Faktoren (Gruppengrš§e, Zeitmanagement, pŠdagogisches Konzept ...) oder etwa die rŠumliche und sŠchliche Ausstattung. Der Aufwand der Integration der DEFIZITE BEI UNSEREN KINDERN 55 †bungen in den Kita-Alltag entpuppte sich dabei als die grš§ere Herausforderung als die Entwicklung der Inhalte. Hierbei erwies es sich als notwendig, neben den †bungsinhalten auch die Methodik des Einsatzes im Alltag zu entwickeln. Die Ergebnisse der Arbeit gehen schlie§lich ein in eine †bungssammlung, die Ð z.B. in Form von farbig gestalteten Karteikarten Ð ohne gro§en Mehraufwand in die pŠdagogische Arbeit integriert werden kann. Diese Karteikarten sind so gestaltet, dass sie auch von den Kindern selbst ãgelesenÒ und selbststŠndig umgesetzt werden kšnnen. Das Konzept sieht dabei keine engen Vorgaben mit ganz konkreten BewegungsablŠufen vor, sondern soll in erster Linie das Kind zum spielerischen Erproben der eigenen 56 DEFIZITE BEI UNSEREN KINDERN Mšglichkeiten anregen. Dies wird durch ausgesuchte, aber erschwingliche Materialien und GerŠte mit Aufforderungscharakter unterstŸtzt. Ausblick Sollten sich nach Ablauf der nŠchsten zwei Jahre der Intervention (bis Sommer 2005) durch die Abschlussuntersuchung die angestrebten positiven Effekte bestŠtigen lassen, so soll eine Verbreitung des Konzepts innerhalb des Landes Brandenburg folgen. Es kšnnte dann einen Beitrag zur Umsetzung der Bildungszielvorgaben leisten. Insbesondere wŠre damit eine Mšglichkeit gegeben, integrativ verschiedene dieser Ziele in komplexer Weise zu verwirklichen.