Grammatik und Pragmatik - Ihr Zusammenspiel bei der Pluralvermittlung W. Grießhaber – Manuskript eines Vortrags in Marburg – 12.01.1993 Gliederung: §1 Plural - linguistisch §2 Plural - Vermittlung in Lehrwerken §3 Plural - Vermittlung: was wissen (angehende) LehrerInnen? §4 Plural - Vermittlung im Unterricht - ein Beispiel §5 Resümee und Ausblick §0 Einführung, Gliederung Deutsch als Fremdsprache ist ein aus der Praxis entstandener Bereich der Germanistik. Unter dem Praxisdruck stand zunächst hauptsächlich die Deutschvermittlung an ausländische Kinder und Erwachsene im Inland im Mittelpunkt, doch zur gleichen Zeit etablierte sich auch der erste Studiengang für ausländische Studierende. Doch dem Praxisbezug während der Etablierungsphase ist die Gefahr der Zersplitterung inhärent, wie sie in der Diskussion von Reich und Weinrich etwa aufscheint. Es ist ein Konzept vonnöten, das die Vermittlung in die universitäre Forschung und Lehre einzubindet. Einen solchen Ansatz zur Verbindung von Theorie und Praxis möchte ich am Beispiel der Vermittlung der Pluralformen des Substantivs vorstellen. Dabei geht es nicht nur um die Didaktisierung linguistischer Erkenntnisse, ein Ansatz, der schon in der Frühzeit der Sprachlehrforschung in der Diskussion um die didaktische Grammatik als unzureichend erkannt wurde. Es geht um die prozedurale Analyse grammatischer Formen, um die funktionale Leistung der Formen bei ihrer Verwendung. Aus der Sicht der funktionalen Grammatik der Amsterdamer Schule um Dik etwa bedeutet dieser integrative Ansatz auch die Einbeziehung diskursanalytischer Untersuchungen. Bezogen auf die Vermittlung der Pluralformen des Substantivs wird in dem Beitrag die These entwickelt, daß der in der Didaktik vorherrschende Vermittlungsweg, der die Pluralformen als Zähloperationen behandelt, weder die funktionale Leistung der Pluralformen erfaßt noch eine angemessene Vermittlungsbasis darstellt. Das Thema wird unter folgenden vier Blickrichtungen behandelt: (1) zunächst wird diskutiert, wie ‚innerlinguistische‘ Arbeiten die Pluralbildungen analysieren und systematisieren, (2) darauf folgt im zweiten Schritt eine Darstellung der Vermittlungswege anhand ausgewählter Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache, (3) im dritten Schritt wird kurz vorgestellt, was angehende und unterrichtende Lehrer und Lehrerinnen über den Plural und seine Vermittlung wissen und (4) im letzten Schritt wird eine Unterrichtsstunde zum Thema Plural analysiert. Auf der Basis der verschiedenen Zugänge werden abschließend Vorschläge für die wissenschaftliche Forschung und unterrichtliche Praxis formuliert. Plural §1 26.02.2002 2 Plural: wie wird die Pluralbildung linguistisch behandelt? Beginnen wir nun mit der sprachwissenschaftlichen Perspektive der Pluralbildung. Dabei steht die Beschäftigung mit den Formen im Zentrum. Zum Gebrauch können auf Grund der geringen vorliegenden Ergebnisse in diesem Beitrag auch nur Hinweise in diese Richtung vorgestellt werden. Die am weitesten verbreitete Pluralregel für Deutschlerner legen Schulz & Griesbach dem deutschen Lehrer schon in Kapitel 2 ihres erfolgreichen Lehrwerks in den Mund, indem sie schreiben: „Lernen Sie immer den Artikel und den Plural! Dann machen Sie keine Fehler.“ (1977 2: 8f.). Kaum jemand hat diesem Ratschlag widersprochen, wie Mugdans Zitatensammlung zeigt, die im Handout auf Seite 1 unter Nummer 1 abgedruckt ist. Wenn der Bereich schon für Muttersprachler einige Überraschungen bereithält, wie der Disput über „Semmel-Knödel“ oder „Semmeln-Knödeln“ zeigt, ist es nicht erstaunlich, daß auch fortgeschrittene Deutschlerner nicht vor der Bildung falscher Pluralformen sicher sind. Auch in der Linguistik wird die Ansicht geteilt, daß die Pluralbildung, wie Werner es formulierte, „eines der schwierigsten Kapitel der deutschen Grammatik dar(stellt)“ (1969: 93). Aus der Vielzahl verschiedener Pluralformen ergibt sich das Problem der Wahl der richtigen Form. Auch wenn Selektionsregeln die Zahl der möglichen Formen für ein gegebenes Wort einschränken, bleiben im Prinzip immer noch mehrere Möglichkeiten. Die richtige Wahl ist - nach Werner - „nicht mehr Sache der Phonemik oder Syntax, sondern der Lexemik; das (…) muß von unseren Ausländern wortweise oder in unterschiedlich langen Listen gelernt werden.“ (S. 99). Die Systematisierung des Inventars an Pluralformen folgte bis in die jüngere Zeit Grimms Unterscheidung von vokalischen, d.h. starken, und konsonantischen, d. h. schwachen, Deklinationen mit jeweils verschiedenen Stämmen. Paul konstatiert zwar sprachgeschichtliche Veränderungspozesse aufgrund der Abschwächung der Endsilben und bemerkt zu Beginn der Flexionslehre in seiner Grammatik, daß es keinen Zweck habe, „an das Nhd. immer den Standpunkt des Idg. anzulegen“ (1917: 4). Doch dessenungeachtet baut er seine Darstellung auf den zwei um eine Mischklasse erweiterten Deklinationen auf. Entscheidende Anstöße zur synchronen Darstellung kamen aus der pädagogischen Praxis, nicht zuletzt von Auslandsgermanisten, die die sprachhistorisch basierten Darstellungen aufgaben und synchronische Analysen durchführten. Zu nennen wären hier Curme 1922, Kufner 1962 oder Bech 1963. Als Ergebnis dieser synchronen Neuorientierung werden für den Zentralbereich der substantivischen Pluralbildung allgemein 5 Gruppen angenommen, für die Werner 1969 die Basis lieferte. Seine matrixförmige Darstellung relationiert Form und Genus der Substantive mit ihren Plural 26.02.2002 3 Pluralformen. Durch Zusammenfassung der umgelauteten Varianten mit den nicht umgelauteten und der Aussparung von Ausnahmen gelangt man zu der von Augst (1975: 8f.) vorgestellten Systematik, die Sie im Handout unter Nummer 2 finden. (1) (2) (3) (4) (5) -Ø -er -e -en -s das Segel der Leib der Fisch das Ohr die Mutti die Segel die Leiber die Fische die Ohren die Muttis der Vogel der Wald der Marsch die Vögel die Wälder die Märsche (Augst 1975: 8f.) Von dieser Darstellung ausgehend kehrt Augst die Blickrichtung um zu der Frage: Welches Wort wählt welchen Plural? Unter Berücksichtigung von Lautgestalt und Genus als entscheidenden Größen nimmt er folgende Gruppierung vor: (1) Plur. und Genus allein durch Lautgestalt bestimmt; (2) Plur. durch Lautgestalt und Genus bestimmt; (3) Plur. weder durch Lautgestalt noch Genus noch beide zusammen bestimmt. Daraus entwickelt er ein Set von Regeln zur Pluralbildung, das unter Nummer 3 im Handout wiedergegeben ist. Es umfaßt neben drei Grundregeln für das zentrale Pluralsystem zwei weitere Regeln für den Plural auf -s sowie den -er Plural, die nach Augst beide nicht zum deutschen Pluralsystem zählen (1979: 224 ff.): (1) Maskulina & Neutra bilden den Plural auf -e, Feminina auf -en. (2) Das -e wird getilgt bei Wörtern, die -E(l,r) und -lein enden, ebenso -en bei Wörtern, die auf -en enden; positiv: -el, -er, -en, -lein bilden im Mask. & Neutr. den Plural mit -ø (3) Substantive auf -e bilden den Plural auch im Maskulinum mit -en. (4) Periphere Regel für Wörter, bei einer Untergruppe folgt auf einen Vollvokal ein weiterer Vollvokal (Papa, Echo,…) Plural mit -s. (5) -er Plural tritt außer bei -tum bei einsilbigen Kernwörtern auf, -er Plural hat, wenn möglich immer Umlaut Mit diesem Regelset lassen sich von 84,6% der Wörter des Grundwortschatzes nach Oehler 1966 korrekte Pluralformen bilden. In diesem Regelsystem spielt die um Artikelwörter erweiterte Plural- und Singularflexion eine wichtige Rolle bei der Disambuigierung homonymer Suffixe, z. B. -s zu -(e)s (Gen. Sg.), -e zu (Dat. Sg.) und -en zu (Gen., Dat., und Akk. Sg.). Die Einbeziehung der Artikelwörter löst die Polysemie der Suffixe auf. Feminina besitzen immer eine suffigierte Pluralbildung auf -e oder -en, die im Zusammenhang mit den Artikelwörtern eine eindeutige Pluralmarkierung ergibt. Allgemeiner formuliert, wird die Singularflexion im wesentlichen von flektierten Artikelwörtern getragen, während die Pluralmarkierung wesentlich durch Substantivsuffixe erfolgt. Damit zeigt das Deutsche eine Tendenz zur separaten Markierung von Numerus und Kasus: Numerus morphologisch durch Suffixe und Umlaut, Kasus durch Artikelflexion. Wurzel (1982: Plural 26.02.2002 4 43) spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Agglutinationstendenz. Gegen diesen strukturalistisch bestimmten Ansatz von Augst unternimmt Köpcke 1988 den Versuch einer psycholinguistischen Regelformulierung. Sie geht davon aus, daß die Pluralmarkierung produktorientiert nach abstrakten Plural-Schemata im mentalen Lexikon gebildet wird und nicht aufgrund von regelerzeugten Morphembildungen. Bei einem Experiment wurden 40 Versuchspersonen Nonsense-Wörtern zusammen mit dem bestimmten Artikel vom Tonband präsentiert, zu denen sie den Nominativ Plural bildeten. Danach verwenden die Probanden die Suffixe -(e)n und -e in nahezu 100% der obligatorischen Kontexte. In favorisierten Kontexten liegt dagegen die Verwendungsrate für -e mit 42% deutlich unter denen von -(e)n mit 66% und -s mit 69%. Aus der Gesamtheit der Ergebnisse stellt Köpcke eine fallende Ausdrucksstärke von -(e)n > -s > -e > -er fest. (e)n ist demnach die ‚beste‘ Pluralmarkierung, weil es als eigenes Segment perzeptiv leicht wahrnehmbar ist, als Pluralmarkierung häufig vorkommt und selten als Singularendung auftritt. Dieses Ergebnis korrespondiert mit einer Klassifikation der Pluralmarkierer nach Salienz, Vorkommen und Ausdrucksstärke, im Handout unter Nummer 4 zu finden. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Interdependenz von Artikelwörtern und Pluralbildung ist zu diesem Ergebnis einschränkend anzumerken, daß es aufgrund der isolierten Bildungen möglicherweise zu einer Überrepräsentation ausdrucksstarker Pluralformen führt. Damit kommen wir noch einmal auf syntaktische Aspekte der Pluralbildung zurück. Die enge Beziehung der Artikelflexion zur Pluralbildung betrifft nicht nur die Kasus, sondern auch den Numerus. Das Deutsche besitzt ein allgemeines Kongruenzprinzip. Alle aufeinanderbezogenen Konstituenten kongruieren im Numerus: die Elemente innerhalb einer Nominalphrase und das finite Verb mit dem Subjekt. In der generativen Grammtiktheorie dienen solche Kongruenzverhältnisse ganz selbstverständlich als Indikator für das Vorliegen syntaktischer Beziehungen. Für das Englische ist dies etwa in der verbreiteten Einführung von Radford 1981 in die generative Theorie zu ersehen. Radford begründet die WH-Bewegung unter anderem mit Daten, bei denen die Numeruskongruenz von Verb und NP für das Vorliegen einer zugrundeliegenden syntaktischen Beziehung angeführt wird, die den Sätzen in der Tiefenstruktur vor der Bewegung des WH-Elements zugrundelag (1981: 160f.): (53a) He might say which boy likes/*like Mary? (54a) Which boy might he say — likes/*like Mary? Deutsche Arbeiten, z.B. Stechow & Sternefeld 1988, sind - wohl aufgrund der komplexeren Verhältnisse im Deutschen - differenzierter, nehmen aber auch eine Kongruenzbeziehung zwischen der Verbalphrase und dem Subjekt an, die im Element AGR stecken, das an der Oberfläche nicht auftritt. Bei finitem Verb enthält AGR die Kongruenzmerkmale Person und Numerus. Eine plurale Subjekt NP erfordert also über AGR durch vermittelt - eine plurale Verbflexion in INFL. (16) [NPi AGRi VP] Form des englischen Satzes auf der D-Struktur (S. 153) Plural 26.02.2002 5 Diese Kongruenzverhältnisse sind jedoch nicht universell, sondern sehr sprachspezifisch. Das Türkische z. B. hat nur ein Pluralsuffix, das je nach vorausgehendem Vokal als -ler oder -lar realisiert wird. Allerdings trägt nach Kardinalzahlen normalerweise kein weiteres Element eines Satzes ein Pluralsuffix. Für die Bezeichnung der Pluralität ist das Zahlwort ausreichend. „Drei Männer“ heißt also nicht wie im Deutschen „*üç adamlar“, sondern „üç adam“, wörtlich „drei Mann“. Zählbare Mengenangaben kongruieren im Türkischen also im Gegensatz zum Deutschen regelmäßig gerade nicht mit einer Pluralmarkierung am Nomen. Johanson (1971: 33) bezeichnet dies als Vermeidung von „Hypercharakterisierungen“ und einer Neigung des Türkischen zur morphologischen Ökonomie. Wenn man diese Verhältnisse noch als syntaktisch geregelt betrachten kann, ist damit doch der Schritt von der Morphologie der Pluralformen zu ihrer Verwendung vollzogen. Dies soll nun anhand des Türkischen und Japanischen weitergeführt werden, bevor wir zu der Frage kommen, welche funktionale Leistung den Pluralformen im Deutschen zukommt. Unter Nummer 5 finden Sie im Handout einen kleinen Ausschnitt aus einem in der Türkei verlegten Kinderbuch. In allen drei Sätzen muß im Deutschen das Verb im Plural verwendet werden, im Türkischen dagegen steht es im Singular. In Satz (3) „Kom‚ular da geldi.“ trägt das Nomen ein Pluralsuffix. Es ist im gegebenen Zusammenhang der einzige Hinweis auf mehrere Nachbarn. Wenn im Text „Kom‚u da geldi.“ stehen würde, würde dies jedoch nicht bedeuten, daß „ein Nachbar“ gekommen ist. Vielmehr würde dem Leser damit mitgeteilt, aus dem Kontext zu entnehmen, ob ein Nachbar/Nachbarin gekommen ist oder eine unbestimmte Anzahl von Nachbarn. In diesem Sinn bezeichnet die Grundform des Substantivs im Türkischen nicht eine abzählbare Einheit, sondern unbestimmte Exemplare des Typs ‚Nachbar‘. Wenn das Wort „kom‚u “ zusammen mit einer Mengenangabe verwendet wird, ist durch die Mengenangabe - z.B. üç, d.h. drei - präzise bestimmt, von wievielen Exemplaren des Typs Nachbar die Rede ist. Eine weitere Markierung durch Pluralformen würde diese Bestimmung umgekehrt wieder auflösen. Wenn wir nun das Japanische oder Chinesische betrachten, fehlen beiden Sprachen Entsprechungen unserer substantivischen Pluralformen. Kelz übertreibt dies nach Auskunft von Japanologen und Sinologen etwas, wenn er feststellt, daß „für uns so elementare Erscheinungen wie Pluralbildung (…) für den Deutsch als erste westliche Fremdsprache lernenden Südostasiaten etwas völlig Fremdes (sind), für das er nur mit Mühe Verständnis gewinnt“ (1982: 5); siehe auch Handout Nummer 6. Wenn im Japanischen Mengenangaben gemacht werden, dann werden den Objektbezeichnungen spezielle Zähleinheiten suffigiert, die die die Objekte semantisch kurz charakterisieren. Die Zähleinheiten bezeichnen nach Rickmeyer die Objekte z. B. als etwas Flaches (-mai) oder etwas buchförmig Gebundenes (-satu) (…), oder geben definierte Maßeinheiten wieder, wie z.B. die Fläche einer tatami-Strohmatte (-zyoo) Plural 26.02.2002 6 oder internationale Maße wie Kilogramm bzw. Kilometer (kiro) (1985: 251). Rickmeyer zählt in seiner Grammatik auf knapp drei Seiten 47 solcher Zähleinheitssuffixe auf. In diesem Fall wird das Substantiv selbst unverändert gebraucht. Dem deutschen Ausdruck „zwei Taxis“ entspricht ein Ausdruck „Taxi zwei Objekttyp-Auto“. Wenn vom Sprecher keine Mengenangabe gemacht wird, ist vom Hörer ähnlich wie im Türkischen aus dem Kontext zu erschließen ob der Objekttyp einmal oder in unbestimmter Menge gemeint ist. Kelz weist dementsprechend darauf hin, daß chinesische Lerner über hohe rezeptive Fertigkeiten verfügen, die bei der Sprachvermittlung exploitiert werden können. Japanische und chinesische Deutschlerner haben die von Kelz angesprochenen Probleme mit der Bildung und dem Gebrauch deutscher Pluralformen. Beispiele von Germanistikstudentinnen sind im Handout unter Nummer 7. In der Äußerung (a) wird die Pluralform der Kopula mit der Singularform des Substantivs „Phonemfolge“ kombiniert. In den Äußerungen (b) und der vorletzten Zeile in (c) bilden die Studentinnen Pluralformen auf „-en“, den Typ, den Köpcke als den typischen Plural bezeichnet. Während in (b) die Pluralform nicht korrekt gebildet ist, ist in (c) zwar die Pluralform korrekt gebildet, der Plural selbst aber nicht korrekt. Die Beschäftigung mit dem letzten Fehler führt uns wieder zur funktionalen Leistung der Pluralform. Dazu muß sowohl der bestimmte und der unbestimmte Artikel miteinbezogen werden. Betrachten wir folgende Sätze, siehe Handout Nummer 8. (a) (b) (c) (d) (e) Der Vater hängt einen Strumpf auf die Wäscheleine. Der Vater hängt den Strumpf auf die Wäscheleine. Der Vater hängt Strümpfe auf die Wäscheleine. Der Vater hängt die Strümpfe auf die Wäscheleine. Der Vater hängt drei Strümpfe auf die Wäscheleine. Bei den zwei Sätzen (a) und (b), in denen das Substantiv ‚Strumpf‘ im Singular steht, hängt der Vater ein Exemplar der abgrenzbaren Größe ‚Strumpf‘ auf die Leine. Bei den drei Sätzen (c) bis (e), in denen das Substantiv ‚Strumpf‘ im Plural steht, hängt er mehrere Exemplare auf die Leine. Zum Ausdruck dieser Pluralität ist die Pluralform des Substantivs vollauf ausreichend. Der Unterschied zwischen den Sätzen (c), (d) und (e) betrifft nicht die Tatsache der Pluralität, sondern die Art der Bestimmung, auf was für Strümpfe die Handlung des Aufhängens angewendet wird. Ohne Artikel wird in (c) mitgeteilt, daß die Handlung des Aufhängens auf eine unbestimmte Zahl von ‚Strümpfen‘ angewendet wird. Mit dem bestimmten Artikel „die“ wird dem Hörer in (d) dagegen mitgeteilt, daß sich das Aufhängen auf dem Hörer schon bekannte Strümpfe bezieht; in der Äußerung selbst werden diese Strümpfe weder hinsichtlich ihrer genauen Zahl noch Beschaffenheit nach näher bestimmt. Mit dem Zahlwort „drei“ schließlich wird in (e) mitgeteilt, daß sich das Aufhängen auf drei Exemplare der Einheit ‚Strumpf‘ bezieht. Plural 26.02.2002 7 Ohne in diesem Beitrag eine Theorie des Plurals vorlegen zu können, soll skizziert werden, wie eine solche Theorie zu entwickeln ist. In Weiterführung der Arbeiten von Baur & Rehbein 1979 und Ehlich 1986 läßt sich der Plural als Mittel der operativen Prozedur bestimmen. Ihre zentrale Leistung ist die Zusammenfassung mehrerer Exemplare einer abgrenzbaren Größe zu einer Einheit. Die Abgrenzbarkeit, bzw. Zählbarkeit ist die Voraussetzung für die Anwendung der Pluralprozedur, d. h. für die Verwendung des betreffenden Substantivs im Plural. Abstrakte, nicht abgrenzbare Größen wie Glück, Geld, Kaffee usw. können demnach auch nicht im Plural verwendet werden, bzw. Wenn sie im Plural verwendet werden, werden sie als abgrenzbare behandelt. Mit der Äußerung „da sind Gelder geflossen“ wird demnach „Geld“ zu einer abgrenzbaren Größe und betrifft nun verschiedene Geldbeträge, die geflossen sind. Der Gebrauch der Pluralformen mit Zahlwörtern ist demnach eine Verwendung, die die Leistung der Pluralform nicht in Anspruch nimmt, sondern sie aus den für das Deutsche geltenden Kongruenzbedingungen obligatorisch erfordert. Das Türkische verwendet in diesem Fall deshalb auch keine Pluralformen. Für die Vermittlung des Plurals - und nicht nur der Pluralformen - heißt dies, daß über Zähloperationen zwar auf eine Vielzahl von Objekten Bezug genommen wird, daß aber Ausdrücke mit Mengenangaben gerade nicht die spezifische Leistung der Pluralform erfassen. Auch im Deutschen gibt es Bereiche mit einem besonderen Bezug auf mehrere zählbare Objekte. Betroffen sind neben Substantiven in festen Wendungen, z. B. „von Fall zu Fall entscheiden“, Abstrakta und Maßangaben wie „zwei Glas Wasser“, statt „zwei Gläser Wasser“. Keseling 1968 beschreibt solche Phänomene als „indifferenten Numerus“, der für sich weder Singular noch Plural bezeichnet. Entsprechende Substantive weisen keine Kasussuffixe auf. Die Hinweise auf das Japanische und Chinesische haben deutlich gemacht, daß die Leistung der deutschen Pluralformen verschieden realisierbar ist. Sprachen können Objekte auf sehr verschiedene Art zu Einheiten zusammenfassen. Hier liegen denn auch die Hauptprobleme fortgeschrittener Deutschlerner aus diesen Sprachgemeinschaften. Da die deutschen Formen der Pluralbildung im Vergleich zu den muttersprachlichen Klassifikatoren erheblich reduziert sind, dürfte in klassisch kontrastiver Sicht der Erwerb der Formen kein großes Problem darstellen. Das Lernproblem besteht im Erwerb der im Deutschen obligatorischen Klassifikation der Substantive nach ihrer Zählbarkeit und die Anwendung der operativen Prozedur auf diese Objekte. Dies wird deutlich, wenn wir auf den Lernertext 7 (c) zurückkommen. Schon der letzte Satz des ersten Abschnitts enthält definite Pluralformen, obwohl hier infinite Formen den Inhalt besser treffen würden. Allerdings sind die Pluralformen normgerecht gebildet und im Rahmen der Gebrauchsweisen verwendet. Allerdings impliziert die Aussage, daß es in den angesprochenen Satztypen mehrere verschiedene anadeiktische und katadeiktische Verweistypen gibt. Dagegen ist wohl etwas anderes gemeint, nämlich, daß es in den Satztypen sowohl katadeiktische wie anadeiktische Verweisungen gibt. Plural 26.02.2002 8 Zum Schluß der linguistischen Perspektive soll noch kurz ein Desiderat angesprochen werden. Bisherige Arbeiten sind auf die Produktion der Formen ausgerichtet, während die rezeptive Interpretation von Substantiven in Texten ausgeblendet ist. Hier wären unter fremdsprachendidaktischen Gesichtspunkten Verfahren wünschenswert, mit denen man von flektierten Vollformen aus auf die Grundform zurückkommt, und zwar ohne daß in jedem Fall z.B. das Genus schon bekannt ist. Solche Regeln wären für Lesekurse sehr wichtig. Die Lesegrammatik von Heringer 1988 kann hier nur ein erster Schritt sein, da dieser Interpretationsweg allenfalls berührt wird. Zwischenbilanz unter fremdsprachendidaktischen Gesichtspunkten: Zusammenfassend kann die Bestandsaufnahme der lingusitischen Arbeiten zur Pluralbildung mit folgendem Resümee abgeschlossen werden: (1) Zwischen Singular und Plural wird in Verbindung mit Artikelwörtern im jeweiligen Kontext eine eindeutige morphologische Unterscheidung gemacht. (2) Die Pluralformen sind gegenüber den Singularformen ‚markiert‘. Insbesondere Feminina haben immer eine morphologische Markierung des Plurals; sie haben entweder -e, -ë oder -en, nie jedoch -Ø oder -er. (3) Pluralformen lassen sich bis auf periphere Einheiten synchron von ihrem Genus und ihrer Lautgestalt von ihrer Grundform im Singular her bestimmen. (4) Sowohl die Produktionsregeln von Augst wie die psychischen Schemata von Köpcke setzen muttersprachliche Kenntnisse voraus. Die Inanspruchnahme des Genus bei Augst ist für alle die Lerner keine Hilfe, die mit jedem deutschen Substantiv auch dessen Genus lernen müssen. In diesen Fällen ist es in der Tat effizient, mit jedemWort gleichzeitig das Genus und die Pluralform zu lernen. Die Schemata von Köpcke operieren auf komplexen morphologischen Strukturen des Deutschen, die vielen Lernern nicht vertraut sind, sondern ebenfalls einen Lerngegenstand darstellen. (5) Unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchs der Pluralform ist hervorzuheben, daß sich Singular und Plural nicht direkt auf Objekte in einzähliger oder mehrzähliger Form beziehen. Mit der Pluralform werden mehrere Objekte einer abgrenzbaren Größe zu einer Einheit zusammengefaßt. (6) Der Gebrauch des Plurals läßt sich deshalb nicht durch eine Zähloperation ableiten. Bei Mengenangaben mit Zahlwörtern wird die spezifische Leistung der Pluralform gerade nicht in Anspruch genommen. (7) Die Einteilung von Objekten zu zählbaren Einheiten ist sprach- und kulturspezifisch. Plural §2 26.02.2002 9 Plural - Vermittlung in Lehrwerken Nach dem Blick auf linguistische Arbeiten zum Plural soll nun die Vermittlung der Pluralformen in exemplarisch ausgewählten Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache und die ihnen zugrundeliegenden typischen Vermittlungswege behandelt werden. Die in der Bundesrepublik entwickelten und publizierten Lehrwerken bieten bei der Vermittlung des Plurals - wie im folgenden Pluralformen abkürzend genannt werden ein ziemlich einheitliches Bild: Die Einführung erfolgt recht früh in der zweiten oder dritten Lektion. Die Vermittlung geht von den Singularformen aus. Gleichzeitig mit den Pluralformen werden sowohl die Nominativ-Pluralform des bestimmten Artikels wie auch mindestens eine verbale Pluralform eingeführt. Oft werden auch Kardinalzahlen eingeführt. In allen Lehrwerken werden gleichzeitig mehrere Pluralformen eingeführt. Bis auf wenige Ausnahmen werden sogar alle fünf Bildungsarten eingeführt. Zur Darstellung werden tabellarische Übersichten ohne verbale Regelbeschreibung verwendet. Das kann angesichts der geringen Deutschkenntnisse zum Zeitpunkt der Vermittlung nicht verwundern. Die Vermittlung basiert auf Zähloperationen von zuvor eingeführten ‚Objekten‘. Bei den ‚Objekten‘ handelt es sich um Individualnomen aus dem Lebensbereich der Adressaten; z.B. Bleistifte, Bälle, Stühle, usw. Bis auf ein Lehrwerk (Schulz & Griesbach) sind die Übungen bildbezogen und basieren ebenfalls auf Zähloperationen. Lediglich Deutsch aktiv Neu verwendet linguistische Regeln der Pluralbildung. auf dem Handout finden Sie die unter Nummer # die Regel 1 auf -e. Es werden die fünf bekannten Typen zugrundegelegt mit einer weiteren Untergliederung der Formen auf (e)n in solche mit nur -n und -en aufgespalten. Die Regeln setzen die Kenntnis des Gennus voraus und sind deshalb - wie oben schon erwähnt - nur von begrenztem Wert. Fazit: Pluralformen werden recht früh anhand von Zähloperationen eingeführt und geübt. Sie werden normalerweise isoliert entweder mit dem Artikel oder einem Zahlwort geübt. Adjektive sind zu diesem frühen Zeitpunkt meist noch nicht eingeführt. Insgesamt tritt dadurch die klare Numerusdistinktion zum Singular überhaupt nicht auf. Pragmatisch gesehen handelt es sich um einfachste, isolierte referentielle Sprechhandlungen. Die eingentliche Leistung des Plurals muß von den Lernern selbst erarbeitet werden. Lediglich Lerner verwandter Muttersprachen können dabei an die Kenntnis gleicher Verfahren anknüpfen. aber auch sie müssen die unterschiedliche Einteilung und Behandlung zählbarer Objekte selbst entdecken. Plural §3 26.02.2002 10 Plural - Vermittlung: was wissen (angehende) LehrerInnen? Im nun folgenden Schritt soll vorgestellt werden, was (angehende) LehrerInnen über die Pluralbildung wissen. Das erste Beispiel betrifft Studierende der ‚Zusatzausbildung von Lehrern für Schüler verschiedener Muttersprache‘ in Hamburg, das zweite Studierende der Germanistik an der Universität Szeged. Beide Gruppen sollten in Gruppenarbeit Regeln der Pluralbildung ermitteln und Vermittlungskonzepte erarbeiten. Die Teilnehmer der Zusatzausbildung gelangten zu dem generelle Resümee, daß keine festen Regeln zu erkennen seien. Die einizige Möglichkeit wird darin gesehen, eine Liste der Pluralformen und den Plural für jede Vokabel vorzugeben. Die Beiträge sind auszugsweise unter Nummer 10 im Handout abgedruckt. Interessant sind Einzelfragen, die die Teilnehmer während der Gruppenarbeit bewegen. Z.B. wird diskutiert, ob ausgehend von ‚Lehrer‘ für Berufe die einheitliche Pluralregel ‚keine Veränderung‘ exisitert. Dies wird aufgrund des Gegenbeispiels ‚Bauern‘ verworfen. Probleme bereiten „Stoffnomina“ wie ‚Kohle‘ oder ‚Zucker‘. Auch Pluraliatanta wie ‚Leute‘ machen bei der Einordnung Schwierigkeiten. Besondere Aufmerksamkeit gilt orthographischen Erscheinungen wie Konsonantenveränderungen bei ‚Fluß‘ zu ‚Flüsse‘ oder der Verdopplung des auslautenden ‚s‘ in ‚Bus‘ zu ‚Busse‘. Auch Wörter wie ‚Kaktus‘ - ‚Kakteen‘ werden länger besprochen. Die ungarischen Studenten produzierten innerhalb kurzer Zeit sehr differenzierte Suffixparadigmata. Sie berücksichtigen ebenfalls orthographische Besonderheiten der Konsonantenverdopplung als eigene Regel. Eine Gruppe formuliert im Vorspann die schon bekannte Grundregel, alle Pluralformen am besten mit den Wörtern zusammen zu lernen. Sie weist auch darauf hin, daß Feminina explizit eine Pluralform erfordern und daß -s bei Fremdwörtern vorkommt. Die andere Gruppe erfaßt zusätzlich die Pluralbildung auf -a bei Fremdwörtern. Beide Gruppen befassen sich also mit orthographischen Besonderheiten, die bei den linguistischen Arbeiten zur Pluralbildung praktisch keine Rolle spielen, da sie systematisch gesehen nicht zur Pluralbildung im engeren Sinn gehören. Der linguistische Zugriff läßt in dieser Hinsicht Erscheinungen unberücksichtigt, die in der Vermittlung eine Rolle spielen. Beide Gruppen beschäftigen sich intensiv mit irregulären Pluralformen, die in der Linguistik ebenfalls als Randphänomene behandelt werden, da Regelmäßigkeiten mit großer Reichweite angestrebt werden. Im Vergleich der beiden Gruppen fällt auf, daß die deutschen Teilnehmer zur Regelfindung und formulierung auf der Basis ihrer muttersprachlichen Kenntnisse empirisch Beispiele durchgehen, während die ungarischen Studenten gut gelernte Regeln reproduzieren. Beide stimmen darin überein, daß die Pluralformen am besten zusammen mit den Wörtern vermittelt und gelernt werden. Plural §4 26.02.2002 11 Plural - Vermittlung im Unterricht - ein Beispiel Nun soll die Einführung der Pluralformen in einem Unterricht für ausländische Kinder in einer Hamburger Schule vorgestellt werden. Es handelt sich um eine heterogene Lerngruppe mit sehr unterschiedlichen Muttersprachen und unterschiedlichen Zweitsprachkenntnissen. Die zehn 13 bis 14 jährigen Schüler und Schülerinnen kamen aus der Türkei, aus Griechenland und dem Kosovo. Die kürzeste Aufenthaltsdauer liegt bei knapp 4 Monaten. Die Lehrerin benutzte ein kopiertes Arbeitsblatt als Unterrichtsgrundlage. Der Unterricht war mit der Lehrerin nicht abgesprochen, es sollte sich um eine normale Unterrichtsstunde handeln. Der Unterricht gliedert sich in vier größere Abschnitte: (1) zu Beginn wird anhand eines Arbeitsblattes eine Zuordnungsübung zu Präpositionen gemacht, die in diesem Beitrag nicht behandelt wird; bei dieser Übung sollen die Schüler Sätze, bzw. Satzteile mit Bildern verbinden; (2) mit einer Zuordnungsübung desselben Typs beginnt die Vermittlung des Plural von Substantiven; (3) als Fortführung dieser Übung werden in zwei Schritten die Pluralformen an der Tafel erarbeitet; (4) zum Schluß übertragen die Schüler die Tabelle in ihre Hefte. Die folgenden Ausführungen behandeln die Zurodnungsphase und die Erarbeitung der Pluralformen. Die Zuordnungsphase Der Unterricht ist durch die repetitive Wiederholung strukturell gleicher Handlungsschritte gekennzeichnet. Von den Schülern sind nacheinander zehnmal dieselben Handlungsschritte durchzuführen: (1) Lesen eines Satzes, bzw. Satzteils, (2) Identifizierung des Inhalts auf einem der sequentiell anders angeordneten Bilder und (3) Verbalisierung der entsprechenden Bildnummer als Ziffer. Im Verlauf des Unterrichts treten folgende Probleme während der Zuordnungsphase auf: (1) Schwierigkeiten beim Vorlesen, (2) Unkenntnis eines Substantivs und (3)Nichtidentifizierung der richtigen Abbildung. Die Vermittlung der Pluralformen im engeren Sinne Die eigentliche Vermittlung der Pluralformen ist auf das Engste mit Zähloperationen und Zahlen, bzw. Nummern verknüpft. Im Mittelpunkt der einleitenden Zuordnungsübung steht die Nennung der richtigen Bildnummer. Zum Abschluß der Übung erhalten die Schüler die Anweisung, „Nochmal die Zahlen {zu} sagen.“. Die eigentliche Vermittlungsphase beginnt mit dem Wort „Mehrzahlwörter“, das die Lehrerin, wie aus Beispiel # im Handout ersichtlich ist, mit einer Zähloperation erklärt. Dieses Zählen der jeweils auf den Bildern sichtbaren Kleidungsstücke wiederholt sich nun während der Vermittlungsphase für alle acht Bilder mit Kleidern. Fast stereotyp wird die Frage gestellt ‚Wieviel Hosen, Handtücher usw. seht ihr?‘. Plural 26.02.2002 12 Da die Objekte jeweils zu mehreren abgebildet sind, werden die entsprechenden Substantive zusammen mit dem Zahlwort im Plural verwendet. Von dieser Form aus geht die Lehrerin zurück zur Grundform im Singular. Die Einführung dieser Operation ist im Handout unter Nummer # wiedergegeben. Die Lehrerin markiert zunächst mit „So“ (317) einen neuen Abschnitt, kommt dann zum Zählen (318) und beginnt das Zählen mit Nennung des Zahlworts „Ein…“ (319), das von einer Schülerin mit der passenden Form „Strumpf“ weitergeführt und von einem anderen Schüler als ganze Äußerung zusammengeführt wird (321). Dies wird von der Lehrerin mit „Gut“ bewertet (322). Die danach abschweifenden Schüler werden von der Lehrerin wieder auf die an der Tafel angeschriebene Pluralform zurückgeholt (337) und auf die SingularGrundform hin orientiert (339). Nach der Nennung einer korrekten Form schreibt sie unter der Spaltenüberschrift „Einzahl“ „der Strumpf“ links von der Pluralform „die Strümpfe“. Damit sind Singular- und Pluralformen für dieses Substantiv eingeführt und die tabellarische Grundstruktur für die Erfassung der übrigen Substantive etabliert. Weder hier noch an anderer Stelle weist die Lehrerin explizit darauf hin, daß Substantive in zwei Formen auftreten, und daß mit einem Zahlwort höher als eins die Pluralform zu verwenden ist. Diese Kongruenzbeziehung wird stillschweigend vorausgesetzt. Der von der Lehrerin eingeschlagene Vermittlungsweg basiert weiter auf der Voraussetzung, daß die Schüler die Grundform der Substantive und ihr Genus schon kennen. Tatsächlich ist jedoch oft ein Herumraten über das Genus zu beobachten. Selbst nach der Wiederholung der richtigen Form durch die Lehrerin benutzen Schüler leise vor sich hin sprechend den falschen Artikel. Als letzter Schritt erfolgt die Bewußtmachung der Formunterschiede zwischen Singular und Plural. Den Beginn dieser Phase zeigt Nummer # im Handout. Die Schüler müssen zunächst beide Formen lesen (692) und anschließend die Unterschiede benennen. Bei dieser Bewußtmachung wird von der Lehrerin keine weitere Systematisierung vorgenommen. Die Klasse ist während dieser Phase deutlich unruhiger als bei den vorhergegegangenen, so daß nur noch einzelne Kommunikationsfetzen vom Band her rekonstruierbar sind. Deshalb ist auch fraglich, ob die Schüler das Geschehen an der Tafel aufmerksam und aktiv mitverfolgen. Merkmale der Sprache im Unterricht Abschließend soll noch kurz ein Blick auf die Sprache im Unterricht geworfen werden. Die Beiträge der Schüler beschränken sich vorwiegend auf zwei Typen sprachlicher Handlungen: (1) erstens auf die Reproduktion schriftlicher Ausdrücke beim Vorlesen und (2) zweitens auf die Verbalisierung isolierter Zahlausdrücke wie „Nummer drei“ oder die Nennung von Substantiven im Singular mit bestimmtem Artikel. Nur selten ergreifen sie die Initiative zur Klärung von Unsicherheiten. Plural 26.02.2002 13 Wie sieht nun ihr Input aus, d.h. wodurch ist die Sprache der Lehrerin gekennzeichnet? Sie stellt überwiegend kurze Fragen, z.B. „Wie heißt es beim Zählen?“ oder verwendet ebenfalls isolierte Ausdrücke wie „Die Blusen“. Auch bei Verstehensproblemen der Schüler vereinfacht sie ihre Sprache systematisch. Die Lehrer, mit denen die Aufnahme im Seminar behandelt wurde, stellten mit Erstaunen fest, daß die Lehrerin ein grammatisch unkorrektes Deutsch verwendet, Pidgin redet, wie sie es nannten. Ihre Sprache weist in der Tat typische Reduktionsphänomene auf, wie sie in Sprachkontaktsituationen zu beobachten sind, wenn die Kommunikationspartner über kein gemeinsames Verständigungsmittel verfügen. Das Auftreten dieser Foreigner talk Variante im schulischen Kontext wirft jedoch die Frage auf, wo und wie die Schüler tatsächlich die deutsche Sprache präsentiert und systematisch vermittelt bekommen. Plural §5 26.02.2002 14 Resümee und Ausblick Die Analyse des Unterrichtsauschnitts unterstreicht die Notwendigkeit der Einbeziehung des Sprachgebrauchs, um den für die Pluralvermittlung unergiebigen Ansatz der Zähloperation zu überwinden. Allerdings sind dazu noch weitere Arbeiten erforderlich. Im vorliegenden Fall könnten kurzfristig die hoch entwickelten memorierenden Fertigkeiten und Lerngewohnheiten stärker genutzt werden. Nach Untersuchungen von Schwerdtfeger können türkische Schüler erheblich besser auch unverständliche Texte memorieren als vergleichbare deutsche Schüler. Weiterhin müßte die starke, um nicht zu sagen ausschließliche, Orientierung an der gesprochenen Umgangssprache zugunsten einer komplexeren, schulbezogenen Sprache aufgegeben werden. Schließlich handelt es sich im strengen Zweitspracherwerbssinn um erwachsene Lerner nach Abschluß ihrer Schulbildung im Heimatland, die über schriftsprachliche Fertigkeiten verfügen. Diese Fertigkeiten könnten zunächst rezeptiv zur Arbeit mit komplexeren Äüßerungen eingesetzt werden. Tragfähigkeit und Grenzen eines derartigen Vorgehens müßten jedoch im Unterricht erprobt und wissenschaftlich überprüft werden. In Lehrwerken wird die Pluralbildung fast ausnahmslos als morphologische Erscheinung im Zusammenhang von Zähloperationen behandelt. Eine Ausnahme bildet hier das im chinesischen Kontext entwickelte „Lernziel Deutsch“. Es basiert ungeachtet des einsprachigen Vorgehens auf kontrastiven Erfahrungen. Es spaltet die Pluralbildung in zwei Teile auf. Zunächst werden Pluralformen für Berufe in der männlichen und mit in abgeleiteten weiblichen Form behandelt. Die damit mögliche Anknüpfung an Bildungsprinzipien des Chinesischen kann das Phänomen des Plurals näherbringen. In der folgenden Lektion werden die behandelten Formen wieder aufgegriffen und weitere Formen eingeführt. Dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit kontrastiver Arbeiten im Vermittlungszusammenhang. Die Erhebungen des L e h r e r w i s s e n s legen Verkürzungen linguistischer Systematisierungen offen, z.B. vereinfachte Suffigierungsregeln unter Ausklammerung orthographischer Veränderungen. Umgekehrt erweist sich das Lehrerwissen als zu stark von schriftsprachlichen Normen und Ausnahmen geprägt. Es umfaßt so gut wie keine Vermittlungsaspekte. Die Analyse bestätigt die anfangs aufgestellte These, daß ein Ansatz erforderlich ist, der integrativ Grammatik und Diskursanalyse aufeinander bezieht. ‚Innerlinguistische‘ Analysen betrachten Sprache unter eigenen Fragestellungen und Zielsetzungen. Die linguistisch entwickelten Regeln der Pluralbildung setzen Kenntnisse voraus, die die meisten Lerner nicht mitbringen. Sie sind deshalb nicht anwendbar. Das größte Desiderat besteht jedoch in einer funktionalen Theorie des Pluralgebrauchs. Die im Beitrag vorgestellten Skizze der Bestimmung des Plurals als Subsumptionsverfahren abgegrenzter Größen zu einer Einheit erlaubt sprachvergleichende Analysen. Mit ihrer Plural 26.02.2002 Hilfe ließen sich auch spezifische Lernprobleme beschreiben und erklären. 15