Chronischer Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen

Werbung
DTL-Textarchiv
Chronischer Tinnitus bei
Kindern und Jugendlichen
Ein psychosomatisches Phänomen?
Frank Rosanowskie
In der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Universität Erlangen-Nürnberg
wurden im Zeitraum von Januar 1992 bis Dezember 1995 insgesamt 31 Kinder und
Jugendliche, 11 Mädchen und 20 Jungen, im Alter von 6 – 17 Jahren, mit einer nur
tendenziellen Häufung um das 10.Lebensjahr, wegen eines seit mehr als 6 Monaten
anhaltenden und somit als chronisch eingestuften Tinnitus aurium ambulant und
stationär behandelt.
Im Kindesalter ist ein akuter Tinnitus zumeist Symptom einer entzündlichen Ohrenerkrankung, bei
Jugendlichen tritt er häufig im Rahmen eines akuten Lärmschadens z. B. nach dem Hören lauter Musik
auf. Verlässlich abgesicherte aktuelle epidemiologische Daten zum chronischen und insbesondere zum
komplexen Tinnitus im Kindes- und Jugendalter fehlen, insgesamt dürfte er in dieser Altersgruppe
selten sein. Für den chronischen Tinnitus im Kindes- und Jugendalter wurden – wahrscheinlich auch
wegen der nur geringen Prävalenz dieser Störung – anders als bei Erwachsenen bisher keine
einheitlichen nosologisch-diagnostischen Kriterien und Behandlungskonzepte formuliert.
Gegenstand dieser Arbeit ist die Frage, welchen Stellenwert psychosomatische Aspekte für den
chronischen Tinnitus im Kindes- und Jugendalter haben. Weiterhin soll ein rationelles diagnostisches
Vorgehen im Hinblick auf die im Kindes- und Jugendalter naturgemäß schwierige Entscheidung zu
einer invasiven Therapie diskutiert werden. Als eine organbezogene therapeutische Option bei
komplexem Tinnitus werden die Ergebnisse einer i.v.-Infusionsbehandlung mit Lidocain vorgestellt.
Die symptombezogene Tinnitusanamnese sollte alle körperlichen, psychischen und sozialen
Komponenten einer Störung systematisch in mehrere Befundgruppen einordnen.
Es wurden sowohl die betroffenen Kinder als auch deren Eltern befragt. Die Erhebung weiterer
anamnestischer Daten durch eine Befragung von Lehrern oder Betreuern war nicht erforderlich; auf die
Anwendung eines schematisierten Tinnitusfragebogens wurde verzichtet.
Der gesamte HNO-Bereich wurde klinisch untersucht, die Ohren grundsätzlich auch
mikroskopisch. Nach einer Tympanometrie und einer Messung des Stapediusreflexes umfasste die
Audiometrie eine Tonschwellenaudiometrie, das Sprachverstehen wurde mit dem Göttinger- oder
Freiburger Sprachverständnistest geprüft. Bei einer normalen Tonhörschwelle und regelrechtem
Sprachverstehen wurden die Patienten als "normalhörig" eingestuft.
Zur Überprüfung der Haarzellfunktion wurden unabhängig von einem normalen Ton- und
Sprachaudiogramm die transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen gemessen. In Einzelfällen
mit primär nicht sicher unauffälligen konventionellen audiometrischen Befunden wurden ergänzend
Deutsche Tinnitus-Liga e.V. (DTL)
Gemeinnützige Selbsthilfeorganisation gegen Tinnitus, Hörsturz und Morbus Men i è r e
Postanschrift
Hausanschrift
Tel 02 02 - 24 65 2-0
Postfach 21 03 51
42353 Wuppertal
Am Lohsiepen 18
42369 Wuppertal
Fax
02 02 - 24 65 2-20
[email protected]
www. tinnitus-liga.de
Bank für Sozialwirtschaft
Präsidentin
BLZ 370 205 00
Elke Knör
Konto 70 89 100
DTL-Textarchiv: Chronischer Tinnitus bei Kindern und bei Jugendlichen
auch die auditorisch evozierten Hirnstammpotentiale abgeleitet. Bei über 10 Jahre alten Jugendlichen
wurden auch eine psychoakustische Tinnitusbestimmung und Tinnitusverdeckung mit Tönen und
Rauschen durchgeführt.
Bei fehlenden anamnestischen Hinweisen für eine vestibuläre Erkrankung wurde im beschriebenen
Patientengut keine umfassende systematische Vestibularisprüfung vorgenommen.
Auf eine bildgebende Diagnostik sowie auf weitere invasive diagnostische Maßnahmen wie eine
Lumbalpunktion wurde grundsätzlich verzichtet. In Einzelfällen wurden von den Patienten
verschiedenste auswärts erhobene serologische Befunde vorgelegt.
In den 24 Fällen, in denen die ausführliche systematische Befragung und Untersuchung keinen
Hinweis für eine Dekompensation der Tinnitusbeschwerden ergeben hatte, wurde als therapeutische
Maßnahme ein Tinnitus-Counselling vorgenommen.
In 7 Fällen, 3 Mädchen und 4 Jungen im Alter von 10 – 17 Jahren lag eine dekompensierte
Tinnitusproblematik vor. In diesen Fällen wurde nach entsprechend ausführlicher Aufklärung der
Patienten und der Eltern unter stationären Bedingungen eine Infusionsbehandlung mit Lidocain
vorgenommen (2 mg Xylocain Cor/kg KG in jeweils 500 ml HAES 6 % über 6 h für insgesamt 10
Tage).
Eingeschlossen in diese Auswertung wurden grundsätzlich nur diejenigen Patienten, bei denen ein
normales Ton- und Sprachhörvermögen und kein Anhalt für eine andere organische Erkrankung
vorgelegen hatte.
Ergebnisse
Auch jüngere Kinder konnten bei der tinnitusbezogenen Anamnese ihr Ohrgeräusch durchweg sehr
differenziert beschreiben: In allen Fällen konnte so ein subtiler Eindruck von seiner Seitenlokalisation,
seine Qualität (Klingeln, Rauschen, Ton o.ä.), seiner Frequenz, Lautheit und Verdeckbarkeit durch
Umweltgeräusche, dem zeitlichen Verhalten des Auftretens (dauerndes oder intermittierendes Geräusch,
Veränderung im Tagesverlauf u.a.) sowie von seiner Beeinflussbarkeit z.B. durch körperliche
Anstrengung oder besondere psychische Einflüsse gewonnen werden. In 2/3 der Fälle wurde der
Tinnitus als doppelseitig und annähernd symmetrisch oder aber als "im ganzen Kopf verteilt"
angegeben. In den übrigen Fällen war der Tinnitus einseitig, ohne dass eine Seitenbevorzugung erkannt
werden konnte. Bei allen mit Lidocain behandelten Patienten lag ein bilateraler Tinnitus vor. Bei 2/3 der
Patienten war der Tinnitus dauernd und von derselben Qualität und Frequenz vorhanden, jedoch mit
unterschiedlicher Lautheit im Tagesverlauf: Zumeist wurde das Geräusch abends lauter empfunden.
In nahezu allen Fällen war das Ohrgeräusch durch Umweltgeräusche maskierbar. In den
anderen Fällen trat der Tinnitus intermittierend mehrfach täglich oder wöchentlich auf, ohne dass jedoch
auslösende Faktoren sicher erfragt werden konnten. Ein Zusammenhang zwischen den anamnestischen
Angaben und den audiometrischen Befunden bestand nur in Einzelfällen mit einer Tendenz zu einer
besseren Nachvollziehbarkeit der Angaben durch die audiometrisch geprüfte Verdeckbarkeit bei den
älteren Patienten.
© DTL, 12.10.2001
Seite 2
DTL-Textarchiv: Chronischer Tinnitus bei Kindern und bei Jugendlichen
Bei unauffälligem klinischen Ohrbefund, tympanometrisch regelrechten Mittelohrdruckverhältnissen
und normalen Stapediusreflexschwellen konnte bei den hier beschriebenen Patienten die
Normalhörigkeit anhand des Ton- und Sprachaudiogramms diagnostisch reproduziert werden.
In der audiometrischen Untersuchungssituation ergab sich auch bei der Tinnitusbestimmung und
den Verdeckungsuntersuchungen in keinem Fall der Verdacht auf eine Simulation oder Aggravation.
Die Messung der transitorischen otoakustischen Emissionen war in allen Fällen unter technisch
adäquaten Messbedingungen durchführbar. Die Ergebnisse der Emissionsmessungen waren sehr
uneinheitlich: In einigen Fällen waren die Emissionen grundsätzlich und unabhängig von der
Seitenlokalisation des Tinnitus im gesamten geprüften Frequenzbereich reproduzierbar nachweisbar, in
anderen Fällen grundsätzlich nicht. In weiteren Fällen veränderten sich die Emissionsmessungen im
Krankheitsverlauf, ohne dass jedoch eine eindeutige Tendenz zu einer besseren oder schlechteren
Nachweisbarkeit erkennbar gewesen wäre.
Bei den mit Lidocain behandelten Patienten unterschied sich das Verhalten der Emissionen nicht
von dem bei den nicht medikamentös behandelten.
Die bei primär nicht sicher unauffälligen konventionellen audiometrischen Befunden in Einzelfällen
durchgeführte Ableitung der auditorisch evozierten Hirnstammpotentiale ergab grundsätzlich
Normalbefunde.
Die audiometrische Tinnitusbestimmung und Tinnitusverdeckung gelang nur bei den älteren
Jugendlichen. Sie ergab bei wiederholten Untersuchungen intraindividuell widersprüchliche und kaum
reproduzierbare Ergebnisse. Die in Einzelfällen vorgelegten unterschiedlichen serologischen
Untersuchungsbefunde ergaben in keinem Fall diagnostische Hinweise oder Ergebnisse von
therapeutischer Relevanz.
Von den 24 durch ein Tinnitus-Counselling behandelten Patienten wurde bei Kontrollvorstellungen
ein Verschwinden der Tinnitussymptomatik berichtet. In keinem Fall trat eine Hörminderung auf. Die
Patienten wurden als geheilt betrachtet und aus der Behandlung entlassen.
Bei 4 von 7 stationär mit Lidocain-Infusionen behandelten Patienten wurde im
Nachbeobachtungszeitraum von 12 – 44 Monaten eine Komplettremission erreicht. Bei 3 Patienten
kam es zu einer Verminderung der Beschwerden und der Klagsamkeit bei adäquater
Krankheitsbewältigung. In einem Fall war wegen einer Somatisierungsstörung die Einleitung einer
Psychotherapie erforderlich.
Diskussion
Es liegen nur wenige epidemiologische Untersuchungen älteren Datums zum chronischen
Tinnitus bei Jugendlichen vor, verlässliche Daten zur Häufigkeit des Tinnitus bei Kindern fehlen.
Nach der Fragebogenerhebung von Nodar an
2 000 Schülern hat der Tinnitus in der Altersgruppe der 10- bis 18jährigen Jugendlichen eine
Prävalenz von insgesamt 15 %. In der Gruppe ohne messbaren Hörverlust ist danach die Prävalenz 13
© DTL, 12.10.2001
Seite 3
DTL-Textarchiv: Chronischer Tinnitus bei Kindern und bei Jugendlichen
%, bei Schwerhörigen 58 %. Die Tinnitushäufigkeit soll bei Schwerhörigen vom Grad der
Schwerhörigkeit abhängen und bei geringer gradiger Hörminderung häufiger auftreten. Nach einer
anderen Untersuchung an beidseits schwerhörigen Kindern liegt die Prävalenz eines einseitigen Tinnitus
bei einseitiger Hörgeräteversorgung bei 73 %, wobei jedoch betont wird, dass die individuelle Ursache
des Tinnitus nicht sicher dem Hörgerät, der Hörminderung oder anderen Faktoren angelastet werden
kann. Nach einer neueren Untersuchung soll bei 29 % der normalhörigen Kinder ein Tinnitus vorliegen.
Die jetzt vorgelegte Untersuchung erlaubt keine epidemiologischen Rückschlüsse. Aus der klinischpädaudiologischen Erfahrung jedoch erscheint insbesondere die angegebene Häufigkeit des Tinnitus bei
schwerhörigen Kindern und Jugendlichen im eigenen Patientengut nicht nachvollziehbar zu sein.
Die Ätiologie und die Pathogenese des chronischen Tinnitus in der jugendlichen Altersgruppe
wurden bisher nicht systematisch untersucht. Bei Vorliegen einer Schwerhörigkeit mag der Tinnitus
durch diese fassbare Läsion des auditorischen Systems erklärbar sein. Inwieweit die für Erwachsene
diskutierten neurobiologischen Erkärungsmodelle auf Kinder und Jugendliche mit einem
chronischen Tinnitus ohne eine assoziierte Schwerhörigkeit übertragen werden können, ist nicht
bekannt. Immunologische und (para)infektiöse Mechanismen werden als mögliche Ursachen akuter
Hörminderungen im Kindes- und Jugendalter vermutet und entsprechend behandelt. Im eigenen
Patientengut wurden für ähnliche Mechanismen der Tinnitusentstehung keine Hinweise gefunden. In
dieser Altersgruppe dürfte ein chronischer Tinnitus bei vermuteten infektiösen Ursachen z.B. im
Rahmen eines postmeningitischen oder –encephalitischen Geschehens kaum das beherrschende
Symptom des Patienten sein. Chronischer Tinnitus im Kinder- und Jugendalter tritt nur sehr selten als
Folge und Symptom einer psychiatrischen Erkrankung auf.
Die organbezogene Untersuchung des jugendlichen Tinnituspatienten ohne eine assoziierte
Hörstörung und andere organische Auffälligkeiten kann sich auf ein Basisprogramm
beschränken. Selbstverständlich muss ein normales Hörvermögen durch ein Ton- und
Sprachaudiogramm gesichert werden, nur im Zweifel sind auditorisch evoziierte Hirnstammpotentiale
abzuleiten. Die Messung der otoakustischen Emissionen hat in dieser Altersgruppe nach diesen
Ergebnissen für die Tinnitusdiagnostik und die Verlaufskontrolle auch unter einer Lidocain-Therapie
keine Bedeutung, sie ist lediglich im positiven Fall im Hinblick auf die Abklärung des Hörvermögens
nutzbar. Eine verwertbare Tinnitusbestimmung und Verdeckungsuntersuchungen gelangen im
beschriebenen Patientengut nur im Ausnahmefall.
Im Hinblick auf eine wie auch immer geartete Therapieentscheidung ist die Klagsamkeit des
Patienten entscheidend. Alle Autoren betonen, dass Kinder und Jugendliche ihren Tinnitus kaum
einmal spontan, sondern in der Regel nur auf Befragen angeben. Bei frühkindlichen hochgradigen
Schwerhörigkeiten mag das daran liegen, dass das Ohrgeräusch gleichsam zum normalen
Höreindruck gehört und daher nicht als berichtenswert und störend empfunden wird. Bei
Normalhörenden kann die Zurückhaltung des Betroffenen auch als Ausdruck einer nur geringen oder
fehlenden Beeinträchtigung durch das Geräusch interpretiert werden. Die in dieser Arbeit
beschriebenen Patienten hatten den Tinnitus ausnahmslos spontan angegeben. Die Beobachtung von
Konzentration und Verhalten als einzigen diagnostischen Parametern erscheint der Komplexität des
seelischen Erlebens des Tinnitus nicht angemessen. Fragebögen zur Erfassung der Beeinträchtigung
durch einen chronischen Tinnitus sind nur für Erwachsene normiert.
© DTL, 12.10.2001
Seite 4
DTL-Textarchiv: Chronischer Tinnitus bei Kindern und bei Jugendlichen
Der bewusste Verzicht auf den Einsatz von Fragebögen und von visuellen Analogskalen wird damit
begründet, dass die persönliche Anamneseerhebung als wesentliche ärztliche Leistung nicht
verkürzt werden soll, um damit auch für die dann zu diskutierende Therapie eine vertrauensvolle
Arzt-Patient-Eltern-Beziehung aufzubauen.
Auf der Basis des organbezogenen Befundes und der systematisch beurteilten Klagsamkeit des
Patienten ist nach den hier vorgestellten Daten ein an das Tinnitus-Counselling bei Erwachsenen
angelehntes therapeutisches Gespräch die adäquate Behandlung für den größten Teil der
Patienten. Mit der von anderen Autoren vorgeschlagenen Ausstattung mit einem Tinnitusmasker
bestehen im beschriebenen Patientengut keine Erfahrung. Medikamentöse Behandlungsformen für den
chronischen Tinnitus in der Altersgruppe wurden in der Literatur bisher nicht systematisch untersucht.
Aufgrund positiver Erfahrungen bei Erwachsenen scheint der Versuch einer LidocainInfusionsbehandlung in den Fällen gerechtfertigt zu sein, in denen gravierende Sekundärsymptome
mit einem entsprechenden Leidensdruck vorliegen. Grundsätzlich ist dabei auf eine sorgfältige
Patienten- und Elternaufklärung über alle Behandlungsalternativen und den bei Kindern und
Jugendlichen anders als bei Erwachsenen mit chronischem Tinnitus nicht wissenschaftlich
abgesicherten Wert des Lidocains zu achten ("informed consent"): Diese Behandlungsentscheidung
sollte daher auch nicht im Erstgespräch gefällt werden. Andere medikamentöse Behandlungen z.B. mit
Rheologica entbehren in dieser Altersgruppe einer pathophysiologischen Grundlage. Nach diesen
Ergebnissen ist beim chronischen Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen eine weitergehende
Psychotherapie nur im Ausnahmefall erforderlich.
Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass der chronische Tinnitus im Kindes- und
Jugendalter eine gute Prognose hat. Grundsätzlich sollte der chronische Tinnitus im Kindes- und
Jugendalter auch als ein psychosomatisches Geschehen betrachtet werden, da so all seinen
nosologischen, diagnostischen und therapeutischen Aspekten am ehesten Rechnung getragen wird.
Dr. F. Rosanowski,
Abteilung Phoniatrie-Pädaudiologie
HNO-Universität,
Waldstraße 1
91054 Erlangen
Dieser Artikel erschien im Tinnitus-Forum 01/2000
Wir danken PD Dr. F. Rosanowski und dem Springer-Verlag Heidelberg für die eingeräumten
Druckrechte.
© DTL, 12.10.2001
Seite 5
Herunterladen