Der Sturz eines immunologischen Dogmas mit Konsequenzen für

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M E D I Z I N
FÜR SIE REFERIERT
Der Sturz eines immunologischen Dogmas mit
Konsequenzen für die praktische Medizin
Seit mehreren Jahrzehnten gehört in den Lehrbüchern und Vorlesungen über die Grundlagen der Immunologie die neonatale Toleranzinduktion zum gängigen Katalog der
Dogmen. Das Phänomen besagt, daß
Antigenexposition beim Neugeborenen sehr häufig zu einem Zustand
spezifischer immunologischer Toleranz führt, was bedeutet, daß spätere
Antigenexpositionen keine Immunantwort mehr auslösen können. Dieser Befund wurde als besondere Unfähigkeit der Lymphozyten des Neugeborenen interpretiert, adäquat auf
einen immunologischen Reiz zu antworten.
Nun berichten drei amerikanische Forschergruppen, daß diese
überkommene Sicht offensichtlich
falsch ist und das Immunsystem des
Neugeborenen unter bestimmten
Bedingungen nicht weniger zu leisten vermag als das Immunsystem
von Erwachsenen.
Ausschlaggebende Leitidee für
die Neuinterpretation war das von
Mosmann und Mitarbeitern bereits
vor einigen Jahren vorgeschlagene
Konzept einer Dichotomie der Helfer-T-Zellantwort in einen T-Helfer(Th1)- und einen T-Helfer-(Th2)Reaktionstyp.
Th1-Lymphozyten produzieren
vorzugsweise Interleukin 2 und Interferon gamma und sind für zytotoxische Immunreaktionen und vielfältige zellvermittelte Immunreaktionen
verantwortlich, während Th2-Lymphozyten insbesondere Interleukin 4
und 5 produzieren und die Antikörperbildung durch B-Lymphozyten unterstützen. In Science wird dargestellt, daß das Immunsystem des Neugeborenen im wesentlichen vom Th2Typ ist, das heißt, daß Antikörperbildungen bevorzugt und zellvermittelte
Immunreaktionen schlechter ausprägt sind. Dabei sind beide Zelltypen vorhanden und auch funktionstüchtig. Durch den Zusatz hochpotenter antigenpräsentierender Zellen (dendritische Zellen) wie bei Ridge et al. (1) oder durch die Verwendung geeigneter Adjuvantien wie bei
Forsthuber et al. (2) läßt sich zeigen,
daß auch Th1-Zellen des Neugeborenen voll reaktionsfähig sind.
Die gleiche Gruppe konnte auch
zeigen, daß unser Immunsystem offensichtlich viel stärker kompartmentalisiert ist, als man es bisher angenommen hat, das heißt in unterschiedlichen Organen zum gleichen
Zeitpunkt sehr verschieden reaktionsfähig ist. So wird erklärlich, daß in
den früheren Experimenten unter
ausschließlicher Verwendung von
Lymphknoten-Lymphozyten Reaktionslosigkeit bei Neugeborenen gefunden wurde, während sich bei der
Nachuntersuchung mit Milzlymphozyten eine hervorragende Reaktionslage ergab.
Die Gesamtzahl reaktionsfähiger Lymphozyten im Neugeborenen
ist etwa zweitausend mal geringer als
beim Erwachsenen und daraus ergibt sich auch eine unterschiedliche
Reaktionslage.
Sarzotti et al. (3) konnten zeigen, daß die gleichen Viruskonzentrationen, die beim Erwachsenen zu
einer schützenden Ausbildung von
Killer-T-Lymphozyten führen, beim
Neugeborenen diese Reaktionen
nicht auslösen. Bei den nun erfolgten präzisen Analysen stellte sich
heraus, daß vorwiegend eine Th2Immunantwort abgelaufen war, bei
der die Killer-T-Lymphozyten vom
Th1-Typ fehlen. Wurden die Versuche jedoch mit erniedrigter Virusantigendosis wiederholt, so konnten
ohne Schwierigkeiten zytotoxische
T-Lymphozyten nachgewiesen werden.
In den vorgelegten Arbeiten
werden diese Befunde für Fremdzellen (1) für lösliche Proteinantigene
(2) und für ein virales Antigen (3)
demonstriert.
Zusammengenommen zeigen
die drei Arbeiten, daß die neonatal
induzierte Toleranz kein Ausdruck
einer generellen Funktionsschwäche
der Neugeborenenlymphozyten ist,
sondern sich aus einer speziellen Reaktionslage, nämlich dem Überwiegen der Helfer-T-Zellreaktion vom
Typ 2 ergibt. Beide Helfer-Zelltypen
sind vorhanden und bei Bedarf voll
A-2328 (66) Deutsches Ärzteblatt 93 Heft 37 13 September 1996
funktionstüchtig. Die Bedeutung
des Th1/Th2-Konzeptes für die
Funktionsabläufe bei der Immunreaktion wird eindrucksvoll unterstrichen.
Aus medizinischer Sicht eröffnen die besprochenen Befunde unerwartete Perspektiven. Das Immunsystem scheint in seinen verschiedenen
Reaktionszuständen weit weniger
endgültig fixiert zu sein, als dies bisher angenommen wurde.
Insofern kann die immunologische Reaktionslage auch bei chronischen Krankheitszuständen möglicherweise nachhaltig „umgeschaltet“ werden, zum Beispiel bei einem
Tumorpatienten, dessen Th1-Antwort verstärkt werden muß, oder bei
Patienten mit Autoimmunkrankheiten, deren zumeist überschießende
Th1-Reaktionslage gedämpft und
umgelenkt werden muß. Auch die
Entwicklung effizienterer Impfprotokolle für Kleinkinder sollte Impulse erhalten, da kein intrinsischer Defekt der Th1-Zellen vorliegt. Sie sind
verfügbar und bedürfen lediglich
spezieller Ansprache.
Mittlerweile gibt es schon eine
ganze Reihe von tierexperimentell
erprobten Verfahren, den Reaktionstyp der Immunantwort durch
bestimmte Zytokine oder auch
Zytokinantikörper zu beeinflussen.
Für den erfolgreichen klinischen
Einsatz werden allerdings vermutlich Kombinationen dieser Verfahren erforderlich sein, die aus einer
großen Zahl verschiedener Möglichkeiten durch vergleichende Untersuchungen erst entwickelt werden
müssen.
emi
Ridge JP, Fuchs EJ, Matzinger P: Neonatal tolerance revisited: turning on newborn T cells with dendritic cells. Science
1996; 271: 1 723–1 726
Forsthuber HC, Yip PV, Lehmann, Induction of Th1 and Th2 immunity in
neonatal mice. Science 1996; 271:
1 728–1 730
Sarzotti DS, Robbins PM, Hoffman:
Induction of protective CTL responses
in newborn mice by a murine retrovirus.
In: Science 1996; 271: 1 726–1 728
Prof. Dr. med. F. Emmrich, Institut für
klinische Immunologie und Transfusionsmedizin der Universität Leipzig,
Linnéstraße 3, 04103 Leipzig
Prof. Dr. W. Scherbaum, Direktor der
Medizinischen Klinik und Poliklinik III
der Universität Leipzig, Philipp-Rosenthal-Straße 27, 04103 Leipzig
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