MEDIZIN DISKUSSION latrogene Amalgam-Phobie 1 Tiefenpsychologische Aspekte vergessen Amalgam- oder Quecksilberphobien sind angstbetonte Phantasien aus der nicht positivierbaren Psyche. Ein medizinischer Denkansatz wie der Prof. Häfners verfehlt deren Verständnis. Amalgam und Quecksilber sind im Kontext von Phobien als die Metaphern zu verstehen, als welche sie schon in der Alchemie galten. Alchemistische Symbolik entsteht auch bei heutigen Menschen spontan und gibt Phantasien, Träumen und psychogenen Symptomen Form und Inhalt. Dies ermöglichte C. G. Jung, Alchemie als Vorform von Tiefenpsychologie zu erkennen. Jung: „Die Basis des (alchemistischen) ,opus` (als damaliger Form von Seelenarbeit — Anm.) ist die ,materia prima' (die) den unbekannten Stoff darstellt, welcher die Projektion des autonomen seelischen Inhaltes trägt. Ein solcher Stoff konnte natürlich nicht angegeben werden, weil die Projektion vom Individuum ausgeht und infolgedessen in jedem Falle wieder anders ist. Für den einen (Alchemisten) war die ,prima materia` das Quecksilber, für andere (Blei, Erz, Drache, Gift, Tau, Mutter, Mond, und so fort)". (1) Die Möglichkeit einer durch materia prima (autonome psychische Inhalte) bewirkten Schädigung („Vergiftung") war den Alchemisten bekannt („sicut toxicum mortificans" — kursiv vom Verf.) und wurde auch mit dem Bild des Zahnverlusts („edentatos facit") ausgedrückt (2). Eine solche kann klinisch vielgestaltig und verschieden intensiv erscheinen (quälende Phantasien, funktionelle Störungen, Bulimie, Ulkus und vieles mehr). Hillman: „Verdrängung hat immer den Effekt, das Verdrängte durch Hitze und Druck zu einer klebrigen Masse zu amalgamieren. Für uns ist es nicht möglich, ohne sorgfältige Analyse zu unterscheiden, was genau die verschiedenartigen Eigenschaften des Amalgams sind (3). Eine tiefenpsychologische Therapie läßt schrittwei- Zu dem Beitrag von Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Heinz Häfner in Heft 8/1994 se erkennen, was alles über somatisch-toxische Vorgänge hinaus die längst geschehenen, psychischen, je individuellen „Vergiftungen" sind (beispielsweise infantile Bindungen, geleugnete Konflikte und andere) und heilt so. Die Idee „Amalgam raus — Gold rein" ist eine bildhafte Selbstdarstellung einer sich wandeln wollenden Psyche und damit ein (zeitgemäß konkretistisch-materiell, nämlich (zahn-)medizinisch mißverstandenes) Analogon zum alchemistischen opus der Herstellung von lebendigem Gold, von aurum non vulgi. Dieses meint auch im Märchen vom Rumpelstilzchen das Motiv des Spinnens von Stroh zu Gold unter Todesandrohung; in der Phobie, wie im Märchen, ist für den Fortgang des Geschehens sogar die Angst unerläßlich, ja das eigentliche movens: Ohne Angst keine Wandlung und Veredelung der amalgamierten oder strohigen (psychischen) Substanz zum (psychischen) Gold! Häfners Denken zwingt dagegen diese qualitativ jeweils gleiche psychische Struktur in ein medizinisches Modell von Noxe („Zahnärzteminorität", Medien, „iatrogen") und vergiftetem Organismus (Phobikern). Es hält sich fern von dem im Symptom symbolisierten (symbolon — Erkennungszeichen, symballein — zusammenwerfen, -halten) „nicht anerkannten, fremden Teil (der) eigenen Persönlichkeit, der seine Anerkennung zu erzwingen versucht, und zwar mit den gleichen Mitteln, mit denen ein hartnäckig geleugneter Körperteil seine Anwesenheit kundtäte." (4) Die geratene Zurückhaltung oder „Desensitisierung" würde an die erste (der Phobie impliziten) Verdrängung eine zweite (Ich-hafte) verstärkend anschrauben wollen. Etwaige Entängstigungen dadurch sind mit einem Verzicht auf im Symptom präformierte Individualität und damit auf seelische Differenzierung erkauft. Literatur 1. Jung, C. G.: Gesammelte Werke (G. W.), Bd. 12, § 425. Olten: Walter, 1971. 2. G. W: Bd. 13, § 429, mit Fußnote 268. 3. von Franz, M. L., Hillman, J.: Lectures an Jung's Typology. Dallas: Spring, 1986, S. 108. 4. G. W: Bd. 10, § 362. Dr. med. Andreas von Heydwolff Psychotherapeut Dreifaltigkeitsgasse 3 A-5020 Salzburg 2 Anmerkungen nötig Der Artikel von Herrn Häfner beschreibt sehr gut nachvollziehbar aus verhaltensmedizinischer Sicht die Entstehung und Aufrechterhaltung der Amalgam-Phobie. Als Psychotherapeut, der im stationären Setting auch die Verhaltenstherapie anwendet, möchte ich zu diesem Artikel zwei Anmerkungen machen: 0 Nachdem die funktionale Bedingungsanalyse und der Behandlungsplan erstellt sind, ist immer mit dem Patienten über die „Vor- und Nachteile" seiner Beschwerden zu sprechen. Denn häufig treten relativ umgrenzte Phobien in bestimmten lebensgeschichtlichen Zusammenhängen auf. Wenn man diese lebensgeschichtlichen Zusammenhänge nicht erfaßt, gibt es nach erfolgreicher verhaltenstherapeutischer Therapie die Gefahr der Symptomverschiebung, das heißt, wenn ein zugrundeliegender Konflikt nicht adäquat bearbeitet wird, wird der Patient eine neue ineffektive Bewältigungsstrategie (beispielsweise andere Somatisierung) entwickeln. Ohne die Einbettung der verhaltenstherapeutischen Therapie in ein Gesamtkonzept (lebensgeschichtliche Ereignisse, aktuelle Streßfaktoren und andere) kann eine Chronifizierung der psychischen Störung begünstigt werden. Aus meiner Tätigkeit in einer Fachklinik für Suchtkrankheiten ist es mir wichtig zu erwähnen, daß als inef- Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 8, 24. Februar 1995 (65) A-531 MEDIZIN DISKUSSION fektive Bewältigungsstrategie der Angststörung häufig die Suchtmitteleinnahme zu finden ist. Wenn diese Bewältigungsstrategie längerfristig besteht, entwickelt der Patient neben der Angststörung auch eine Abhängigkeitserkrankung. Er befindet sich dann häufig im Teufelskreis der Angst, im Teufelskreis der Angst vor der Angst und im Teufelskreis der Sucht. Bei fast 20 bis 25 Prozent der Patienten liegt neben der Abhängigkeitserkrankung oft eine Angststörung im Sinne einer Soziophobie oder im Sinne von einer Agoraphobie mit und ohne Panikattacken vor. Aus diesem Grunde sollte der Angstpatient auch bezüglich einer Abhängigkeitserkrankung exploriert werden. Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas Redecker Ltd. Arzt der Klinik am Hellweg Robert-Kronfeld-Str. 12 33813 Oerlinghausen Schlußwort Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas Redecker (tätig in einer Fachklinik für Suchtkranke) spricht im Anschluß an unseren Beitrag zur AmalgamPhobie zwei Themenkreise an: 1. Suchtmitteleinnahme als ineffektive Bewältigungsstrategie von Angststörungen und 2. die Therapie von Phobien sollte die Funktionalität der Symptomatik und ihre lebensgeschichtlichen Zusammenhänge mit einbeziehen. Beide Bemerkungen sind eine gute Ergänzung unseres Beitrags, die wir, vor allem was die therapeutischen Ratschläge von Dr. Redecker angeht, gerne aufnehmen. Die Redaktion des Deutschen Ärzteblatts stellt ihren Autoren naturgemäß nicht viel Raum zu Verfügung. Wir mußten unseren Beitrag fühlbar kürzen und uns auf die Darstellung der Kernprobleme konzentrieren. Wir hoffen, daß es uns gelungen ist, Verständnis für die psychologischen Prozesse zu vermitteln, die zur Entstehung von AmalgamPhobien und in selteneren Fällen auch zu schweren Angststörungen führen. Daran können sich allerdings sehr unterschiedliche Sekundärprozesse anschließen, wovon die chroniA-532 sche Depression der häufigste, der von Dr. Redecker zu Recht angesprochene Substanzmißbrauch ein besonders folgenschwerer ist. Den Gefährdungsängsten durch Quecksilber begegnen allerdings viele Patienten und Zahnärzte nach unserer Erfahrung mit radikaler Entfernung der Füllungen. In Einzelfällen setzt sich dieses Vorgehen über eine vernünftige Grenze hinaus als Münchhausen-Syndrom fort. Solche Patienten führen einen unerbittlichen Kampf mit verschiedenen „Entgiftungstherapien", Extraktionen benachbarter gesunder Zähne und weiteren Eingriffen mit dem Ziel radikaler Entfernung des „krankmachenden Giftes". Hier scheint es uns besonders wichtig, diejenigen unserer zahnärztlichen und kieferchirurgischen Kollegen, die von der Gefährlichkeit der Amalgamfüllungen überzeugt sind, um kritische Zurückhaltung und konsequente Verweigerung einer vom Patienten geforderten Mitwirkung an solchen fatalen Entwicklungen zu bitten. Schwerer fällt uns eine Antwort auf Dr. A. von Heydwolffs Kommentar. Wenn wir den Verfasser zutreffend interpretieren, dann meint er, es gehe bei den Vergiftungsängsten durch Amalgam um psychische Projektionen, die „prima materia" als Inhalt haben. Die Einzelinhalte könnten in jedem Falle andere sein, „und Quecksilber ebenso wie Blei, . . . , Tau, Mutter oder Mond als Inhalt haben". Wenn Dr. von Heydwolff dann von der Möglichkeit spricht, durch solche Projektionen von „materia prima" auf einem autonom psychischen Wege vergiftet zu werden, und eine tiefenpsychologische Therapie für diese Art Vergiftung fordert, dann argumentiert er auf einer anderen Ebene als jener der äußeren und inneren Wirklichkeit, in der unsere Patienten leben und leiden. Er argumentiert hier in der Nähe der analytischen Psychologie von C. G. Jung. Ohne in der Lage zu sein, alle Metaphern und Symbole von Dr. von Heydwolff mit gleichen Konnotationen nachvollziehen zu können, will ich mich auf drei Punkte beschränken: 0 Erfahrene reale Angst, etwa nach Schrecksituationen, kann unter (66) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 8, 24. Februar 1995 Mitwirkung dispositioneller Faktoren und bestimmter Formen inadäquater Bewältigung zu Phobien führen. Das Verständnis dieser Prozesse, die äußere mit innerer Wirklichkeit verbinden, fand Niederschlag in erfolgreichen Therapieansätzen, die wir in unserem Beitrag kurz und vereinfachend dargestellt haben. 0 Man kann psychischen Phänomenen und Prozessen, anstatt sie mit alltagssprachlichen oder fachwissenschaftlichen Begriffen zu bezeichnen, auch symbolische Bedeutungen unterlegen. Dann entfernt man sich allerdings einigermaßen aus der gemeinsamen alltäglichen und wissenschaftlichen Wirklichkeit. Die analytische Psychologie C. G. Jungs, die dieses Vorgehen teilweise therapeutisch nutzt, konnte bisher noch nicht als wirksames Therapieverfahren belegt werden (Grawe et al. 1994). Wissenschaft, die Dr. A. von Heydwolff als „Häfners Denken" bezeichnet, ist der Versuch, die geistige Ausstattung, über die der Mensch verfügt, zu einer möglichst guten und kommunikablen Darstellung unserer äußeren und inneren Wirklichkeit zu entwickeln. Sie beginnt mit der möglichst präzisen Beschreibung und Kategorisierung der Phänomene mit dem Ziel, für alle interessierten Menschen gemeinsame und klar unterscheidbare Begriffe und Vorstellungsinhalte über Wirkliches zu schaffen. Benützt man statt klarer Definitionen Metaphern und Symbole, so wird das Abbild der Wirklichkeit vieldeutig und ungenau. Eindeutige Verständigung ist dann nur mit jenen möglich, die die gleiche Metapher mit annähernd gleicher Bedeutung benutzen, was zur seklusiven Schulbildung wie in der analytischen Psychologie C. G. Jungs führt. Der nächste Schritt wissenschaftlicher Erkenntnis ist die kritische Prüfung von Annahmen und Aussagen an der Wirklichkeit. Das bedeutet auch für den metaphorisch amplifizierenden Denker, sein wissendes Haupt zu beugen und die Regeln des menschlichen Verstandes, die für eine Prüfung von Überzeugungen an der Wirklichkeit zu beachten sind, zu akzeptieren. Für den Arzt, der seinen Patienten nicht nur geprüfte Medikamente, sondern auch nach Wirkung und Risiken geprüfte psy-