Deutsches Ärzteblatt 1995: A-531

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MEDIZIN
DISKUSSION
latrogene Amalgam-Phobie
1 Tiefenpsychologische
Aspekte vergessen
Amalgam- oder Quecksilberphobien sind angstbetonte Phantasien aus
der nicht positivierbaren Psyche. Ein
medizinischer Denkansatz wie der
Prof. Häfners verfehlt deren Verständnis. Amalgam und Quecksilber
sind im Kontext von Phobien als die
Metaphern zu verstehen, als welche
sie schon in der Alchemie galten. Alchemistische Symbolik entsteht auch
bei heutigen Menschen spontan und
gibt Phantasien, Träumen und psychogenen Symptomen Form und Inhalt. Dies ermöglichte C. G. Jung, Alchemie als Vorform von Tiefenpsychologie zu erkennen. Jung: „Die Basis des (alchemistischen) ,opus` (als
damaliger Form von Seelenarbeit —
Anm.) ist die ,materia prima' (die)
den unbekannten Stoff darstellt, welcher die Projektion des autonomen
seelischen Inhaltes trägt. Ein solcher
Stoff konnte natürlich nicht angegeben werden, weil die Projektion vom
Individuum ausgeht und infolgedessen in jedem Falle wieder anders ist.
Für den einen (Alchemisten) war die
,prima materia` das Quecksilber, für
andere (Blei, Erz, Drache, Gift, Tau,
Mutter, Mond, und so fort)". (1) Die
Möglichkeit einer durch materia prima (autonome psychische Inhalte)
bewirkten Schädigung („Vergiftung")
war den Alchemisten bekannt („sicut
toxicum mortificans" — kursiv vom
Verf.) und wurde auch mit dem Bild
des Zahnverlusts („edentatos facit")
ausgedrückt (2). Eine solche kann klinisch vielgestaltig und verschieden intensiv erscheinen (quälende Phantasien, funktionelle Störungen, Bulimie,
Ulkus und vieles mehr). Hillman:
„Verdrängung hat immer den Effekt,
das Verdrängte durch Hitze und
Druck zu einer klebrigen Masse zu
amalgamieren. Für uns ist es nicht
möglich, ohne sorgfältige Analyse zu
unterscheiden, was genau die verschiedenartigen Eigenschaften des
Amalgams sind (3). Eine tiefenpsychologische Therapie läßt schrittwei-
Zu dem Beitrag von
Prof. Dr. Dr. Dres. h. c.
Heinz Häfner
in Heft 8/1994
se erkennen, was alles über somatisch-toxische Vorgänge hinaus die
längst geschehenen, psychischen, je
individuellen „Vergiftungen" sind
(beispielsweise infantile Bindungen,
geleugnete Konflikte und andere)
und heilt so. Die Idee „Amalgam raus
— Gold rein" ist eine bildhafte Selbstdarstellung einer sich wandeln wollenden Psyche und damit ein (zeitgemäß konkretistisch-materiell, nämlich (zahn-)medizinisch mißverstandenes) Analogon zum alchemistischen opus der Herstellung von lebendigem Gold, von aurum non vulgi.
Dieses meint auch im Märchen
vom Rumpelstilzchen das Motiv des
Spinnens von Stroh zu Gold unter Todesandrohung; in der Phobie, wie im
Märchen, ist für den Fortgang des Geschehens sogar die Angst unerläßlich,
ja das eigentliche movens: Ohne
Angst keine Wandlung und Veredelung der amalgamierten oder strohigen (psychischen) Substanz zum (psychischen) Gold! Häfners Denken
zwingt dagegen diese qualitativ jeweils gleiche psychische Struktur in
ein medizinisches Modell von Noxe
(„Zahnärzteminorität", Medien, „iatrogen") und vergiftetem Organismus
(Phobikern).
Es hält sich fern von dem im
Symptom symbolisierten (symbolon —
Erkennungszeichen, symballein — zusammenwerfen, -halten) „nicht anerkannten, fremden Teil (der) eigenen
Persönlichkeit, der seine Anerkennung zu erzwingen versucht, und zwar
mit den gleichen Mitteln, mit denen
ein hartnäckig geleugneter Körperteil
seine Anwesenheit kundtäte." (4)
Die geratene Zurückhaltung
oder „Desensitisierung" würde an die
erste (der Phobie impliziten) Verdrängung eine zweite (Ich-hafte) verstärkend anschrauben wollen. Etwaige Entängstigungen dadurch sind mit
einem Verzicht auf im Symptom präformierte Individualität und damit
auf seelische Differenzierung erkauft.
Literatur
1. Jung, C. G.: Gesammelte Werke (G. W.),
Bd. 12, § 425. Olten: Walter, 1971.
2. G. W: Bd. 13, § 429, mit Fußnote 268.
3. von Franz, M. L., Hillman, J.: Lectures an
Jung's Typology. Dallas: Spring, 1986, S.
108.
4. G. W: Bd. 10, § 362.
Dr. med. Andreas von Heydwolff
Psychotherapeut
Dreifaltigkeitsgasse 3
A-5020 Salzburg
2 Anmerkungen nötig
Der Artikel von Herrn Häfner
beschreibt sehr gut nachvollziehbar
aus verhaltensmedizinischer Sicht die
Entstehung und Aufrechterhaltung
der Amalgam-Phobie. Als Psychotherapeut, der im stationären Setting
auch die Verhaltenstherapie anwendet, möchte ich zu diesem Artikel
zwei Anmerkungen machen:
0 Nachdem die funktionale Bedingungsanalyse und der Behandlungsplan erstellt sind, ist immer mit
dem Patienten über die „Vor- und
Nachteile" seiner Beschwerden zu
sprechen. Denn häufig treten relativ
umgrenzte Phobien in bestimmten lebensgeschichtlichen Zusammenhängen auf. Wenn man diese lebensgeschichtlichen Zusammenhänge nicht
erfaßt, gibt es nach erfolgreicher verhaltenstherapeutischer Therapie die
Gefahr der Symptomverschiebung,
das heißt, wenn ein zugrundeliegender Konflikt nicht adäquat bearbeitet
wird, wird der Patient eine neue ineffektive Bewältigungsstrategie (beispielsweise andere Somatisierung)
entwickeln. Ohne die Einbettung der
verhaltenstherapeutischen Therapie
in ein Gesamtkonzept (lebensgeschichtliche Ereignisse, aktuelle
Streßfaktoren und andere) kann eine
Chronifizierung der psychischen
Störung begünstigt werden.
Aus meiner Tätigkeit in einer
Fachklinik für Suchtkrankheiten ist es
mir wichtig zu erwähnen, daß als inef-
Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 8, 24. Februar 1995 (65) A-531
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fektive Bewältigungsstrategie der
Angststörung häufig die Suchtmitteleinnahme zu finden ist. Wenn diese
Bewältigungsstrategie längerfristig
besteht, entwickelt der Patient neben
der Angststörung auch eine Abhängigkeitserkrankung. Er befindet sich
dann häufig im Teufelskreis der
Angst, im Teufelskreis der Angst vor
der Angst und im Teufelskreis der
Sucht. Bei fast 20 bis 25 Prozent der
Patienten liegt neben der Abhängigkeitserkrankung oft eine Angststörung im Sinne einer Soziophobie
oder im Sinne von einer Agoraphobie
mit und ohne Panikattacken vor. Aus
diesem Grunde sollte der Angstpatient auch bezüglich einer Abhängigkeitserkrankung exploriert werden.
Dr. med. Dipl.-Psych.
Thomas Redecker
Ltd. Arzt der Klinik am Hellweg
Robert-Kronfeld-Str. 12
33813 Oerlinghausen
Schlußwort
Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas
Redecker (tätig in einer Fachklinik
für Suchtkranke) spricht im Anschluß
an unseren Beitrag zur AmalgamPhobie zwei Themenkreise an:
1. Suchtmitteleinnahme als ineffektive Bewältigungsstrategie von
Angststörungen und
2. die Therapie von Phobien
sollte die Funktionalität der Symptomatik und ihre lebensgeschichtlichen
Zusammenhänge mit einbeziehen.
Beide Bemerkungen sind eine
gute Ergänzung unseres Beitrags, die
wir, vor allem was die therapeutischen
Ratschläge von Dr. Redecker angeht,
gerne aufnehmen. Die Redaktion des
Deutschen Ärzteblatts stellt ihren
Autoren naturgemäß nicht viel Raum
zu Verfügung. Wir mußten unseren
Beitrag fühlbar kürzen und uns auf
die Darstellung der Kernprobleme
konzentrieren. Wir hoffen, daß es uns
gelungen ist, Verständnis für die psychologischen Prozesse zu vermitteln,
die zur Entstehung von AmalgamPhobien und in selteneren Fällen
auch zu schweren Angststörungen
führen. Daran können sich allerdings
sehr unterschiedliche Sekundärprozesse anschließen, wovon die chroniA-532
sche Depression der häufigste, der
von Dr. Redecker zu Recht angesprochene Substanzmißbrauch ein besonders folgenschwerer ist. Den Gefährdungsängsten durch Quecksilber begegnen allerdings viele Patienten und
Zahnärzte nach unserer Erfahrung
mit radikaler Entfernung der Füllungen.
In Einzelfällen setzt sich dieses
Vorgehen über eine vernünftige
Grenze hinaus als Münchhausen-Syndrom fort. Solche Patienten führen einen unerbittlichen Kampf mit verschiedenen „Entgiftungstherapien",
Extraktionen benachbarter gesunder
Zähne und weiteren Eingriffen mit
dem Ziel radikaler Entfernung des
„krankmachenden Giftes". Hier
scheint es uns besonders wichtig, diejenigen unserer zahnärztlichen und
kieferchirurgischen Kollegen, die von
der Gefährlichkeit der Amalgamfüllungen überzeugt sind, um kritische
Zurückhaltung und konsequente Verweigerung einer vom Patienten geforderten Mitwirkung an solchen fatalen
Entwicklungen zu bitten.
Schwerer fällt uns eine Antwort
auf Dr. A. von Heydwolffs Kommentar. Wenn wir den Verfasser zutreffend interpretieren, dann meint er, es
gehe bei den Vergiftungsängsten
durch Amalgam um psychische Projektionen, die „prima materia" als Inhalt haben. Die Einzelinhalte könnten in jedem Falle andere sein, „und
Quecksilber ebenso wie Blei, . . . ,
Tau, Mutter oder Mond als Inhalt haben".
Wenn Dr. von Heydwolff dann
von der Möglichkeit spricht, durch
solche Projektionen von „materia prima" auf einem autonom psychischen
Wege vergiftet zu werden, und eine
tiefenpsychologische Therapie für
diese Art Vergiftung fordert, dann argumentiert er auf einer anderen Ebene als jener der äußeren und inneren
Wirklichkeit, in der unsere Patienten
leben und leiden. Er argumentiert
hier in der Nähe der analytischen Psychologie von C. G. Jung. Ohne in der
Lage zu sein, alle Metaphern und
Symbole von Dr. von Heydwolff mit
gleichen Konnotationen nachvollziehen zu können, will ich mich auf drei
Punkte beschränken:
0 Erfahrene reale Angst, etwa
nach Schrecksituationen, kann unter
(66) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 8, 24. Februar 1995
Mitwirkung dispositioneller Faktoren
und bestimmter Formen inadäquater
Bewältigung zu Phobien führen. Das
Verständnis dieser Prozesse, die
äußere mit innerer Wirklichkeit verbinden, fand Niederschlag in erfolgreichen Therapieansätzen, die wir in
unserem Beitrag kurz und vereinfachend dargestellt haben.
0 Man kann psychischen Phänomenen und Prozessen, anstatt sie
mit alltagssprachlichen oder fachwissenschaftlichen Begriffen zu bezeichnen, auch symbolische Bedeutungen
unterlegen. Dann entfernt man sich
allerdings einigermaßen aus der gemeinsamen alltäglichen und wissenschaftlichen Wirklichkeit. Die analytische Psychologie C. G. Jungs, die
dieses Vorgehen teilweise therapeutisch nutzt, konnte bisher noch nicht
als wirksames Therapieverfahren belegt werden (Grawe et al. 1994). Wissenschaft, die Dr. A. von Heydwolff
als „Häfners Denken" bezeichnet, ist
der Versuch, die geistige Ausstattung,
über die der Mensch verfügt, zu einer
möglichst guten und kommunikablen
Darstellung unserer äußeren und inneren Wirklichkeit zu entwickeln. Sie
beginnt mit der möglichst präzisen
Beschreibung und Kategorisierung
der Phänomene mit dem Ziel, für alle
interessierten Menschen gemeinsame
und klar unterscheidbare Begriffe
und Vorstellungsinhalte über Wirkliches zu schaffen. Benützt man statt
klarer Definitionen Metaphern und
Symbole, so wird das Abbild der
Wirklichkeit vieldeutig und ungenau.
Eindeutige Verständigung ist dann
nur mit jenen möglich, die die gleiche
Metapher mit annähernd gleicher Bedeutung benutzen, was zur seklusiven
Schulbildung wie in der analytischen
Psychologie C. G. Jungs führt.
Der nächste Schritt wissenschaftlicher Erkenntnis ist die kritische Prüfung von Annahmen und
Aussagen an der Wirklichkeit. Das
bedeutet auch für den metaphorisch
amplifizierenden Denker, sein wissendes Haupt zu beugen und die Regeln des menschlichen Verstandes,
die für eine Prüfung von Überzeugungen an der Wirklichkeit zu beachten
sind, zu akzeptieren. Für den Arzt,
der seinen Patienten nicht nur geprüfte Medikamente, sondern auch nach
Wirkung und Risiken geprüfte psy-
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