Hyperaktivität - warum und was tun? Hintergründe von Hyperaktivität/Impulsivität und Umgang mit schwierigen Kindern Dr. Ulrich Kohns Hyperaktivität für das Lebens- und Entwicklungsalter, die aktuelle Situation und situationsübergreifende nicht angemessene motorische Unruhe Je jünger das Kind, je motorisch lebhafter und impulsiver ist das Verhalten. Die Aktivität ist zusätzlich desorganisiert, mangelhaft reguliert und qualitativ überschießend. Folgen sind - Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, - Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, - Tätigkeiten, oft ohne etwas zu Ende zu bringen, - Unbeliebtheit durch Störungen im sozialen Kontext, - Störung der Entwicklungsfortschritte. Dr. Ulrich Kohns Kinder-Jugendarzt/Psychotherapie Dr. Ulrich Kohns 2 Hyperaktive Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich Regeln verletzen. Ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwachsenen ist oft gestört durch Distanzstörung, Mangel an normaler Vorsicht und Mangel an Zurückhaltung. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein. Sekundäre Komplikationen sind ungünstiges Sozialverhalten und niedriges Selbstwertgefühl. Dr. Ulrich Kohns 3 Frühe Verhaltensklagen bei Hyperaktivität (1) Säuglingsalter • schrie ungewöhnlich viel, ausdauernd und unangenehm laut • war ununterbrochen in Bewegung • krabbelt spät, nur kurz oder nie, lief früh, rannte nur • Essen war eine Katastrophe, konnte nicht gestillt werden • An- und Ausziehen waren nur mit Schreien möglich • war meist missmutig, unzufrieden, schnell wütend • hatte erhebliche Einschlafstörungen • schlief nur wenig und kurz, wachte durch alles auf • blieb nur im Auto oder auf Arm ruhig • mochte keinen Körperkontakt, mochte nicht schmusen • konnte nicht allein sein, musste immer beschäftigt werden Dr. Ulrich Kohns 4 Frühere Klagen, Auffälligkeiten und Befunde z. B. bei U4 - U6 • nicht erklärbare Schreiattacken • Probleme beim Füttern, An- und Ausziehen (ständiges Trinken/Essen-Wollen, ohne Ruhe in Esssituation, Ablehnung von Lenkung und Nähe, Ablenkungsoffenheit) • Einschlafproblematik • Neurofunktionelle Auffälligkeiten (Tonusstörungen, Hyperexzitabilität, Hyperreagibilität, Hyperakusis) • Bewegungsdrang (motorisch immer lebhaft, krabbelt spät und nur kurz, frühes Hinstellen und auffallendes Laufen, Rennen, Klettern) • impulsiv-expansives Verhalten • Interaktion erschwert (Mangel an fokussierter Aufmerksamkeit, verkürzte Ausdauer, Ablenkungsbereitschaft, Probleme mit Kontaktaufnahme) „Das Kind löst ein anderes „Empfinden“ beim Kontakt aus.“ Dr. Ulrich Kohns 5 Folgen chronischen, nicht stillbaren Schreiens bei Schreikindern Überforderung Traurigkeit Angst Gefahr aggressiven Verhaltens Hilflosigkeit Traurigkeit Angst Gefahr aggressiven Verhaltens Selbstzweifel + Selbstentwertung + Beziehungserschwerniss Dr. Ulrich Kohns 6 Was wird aus Kindern mit Regulationsstörungen? Verlaufsstudie: „… später signifikant häufiger „hyperkinetische Probleme“ als bei Säuglingen ohne Regulationsstörungen …“ „… psychosoziale Risikofaktoren deutlich mehr Bedeutung für spätere hyperkinetische Symptome als die Regulationsstörungen.“ Regulationsstörungen sind Hinweissymptome und Aufgreifkriterien und erfordern immer Hilfen für Kind und Eltern im Sinne einer Verbesserung gemeinsamer Lebensumstände und der Interaktion Dr. Ulrich Kohns 7 Verhaltensklagen bei Hyperaktivität (2) Kleinkindalter • • • • • • • • • • • • lief ständig weg, kletterte - musste ständig unter Aufsicht sein gefährdete sich und andere durch seine Aktivitäten war ohne Angst, kannte keine Schmerzen Spielen - nicht konstruktiv, chaotisch, destruktiv und sinnwidrig konnte sich nicht selbst beschäftigen - oder nur kurz musste immer beschäftigt werden, konnte nicht allein sein blieb nicht beim Essen, fraß alles gierig und ständig hat den Körperkontakt verweigert hörte nicht, „ ... als wenn es nicht hören könne ...“ war schnell wütend, warf sich hin, schlug und biss, warf Sachen schlief nicht allein ein, machte die Nacht zum Tag „ich konnte nicht ungestört telefonieren, mit anderen sprechen oder allein zur Toilette oder aus der Wohnung gehen“ • in Gruppen nur störend, aggressiv zu anderen und unbeliebt • „ich vermied, mit ihm zu anderen Kindern zu gehen“ Dr. Ulrich Kohns 8 Verhaltensklagen bei Hyperaktivität (3) Kindergartenalter • „Problemkind“ • Spielte lieber allein, draußen, tobte nur • machte nicht mit, störte andere • konnte sich nicht an Regeln halten, stellte eigene Regeln • konnte sich nicht ein- oder unterordnen • zeigte Wutanfälle, aggressives Verhalten, heulte schnell • teilte an andere aus, konnte selbst nichts ertragen • wurde ungeliebtes Kind • Störungen in der Entwicklung: ungeschickt, ohne Gleichgewichtsinn, Nicht-Zuhören, NichtMalen, Nicht-Basteln, Sprachentwicklung verzögert Dr. Ulrich Kohns 9 Klagen, Auffälligkeiten und Befunde bei U7 - U9 (1) • expansives, flüchtiges, nicht ausreichend sinn- und zielorientiertes, „ausuferndes“ Verhalten • nicht altersgerechtes Aktivitätsniveau - quantitativ und qualitativ • Probleme Interaktionen zu gestalten: schlechte/keine sozialen Kontakte - „unbeliebtes Kind“ • distanzloses, interaktiv ungünstiges, oppositionelles und aggressives Verhalten • Probleme soziale Regeln einzuhalten: schlechte/keine soziale Kontakte - „unbeliebtes Kind“ • affektive Instabilität • gestörte, automatisierte Selbstregulation von Emotionen Dr. Ulrich Kohns 10 Klagen, Auffälligkeiten und Befunde bei U7 - U9 (2) • schlechte Aufmerksamkeitsfokussierung und -dauer: wenig Ausdauer beim Spielen und wenig kognitiven Aktivitäten • mangelnde Handlungskompetenz nicht planvoll, nicht seriell, nicht flexibel • Verschiedene Entwicklungsstörungen: - fein- und grobmotorisch ungeschickt oder verzögert - Körperwahrnehmungsstörung (Über-/Unterempfindlichkeit) • hoher Versorgungsanspruch: Mutter (Eltern) ohne Handlungssicherheit mit Überforderung und Ablehnung - „ungeliebtes Kind“ - trotz Bemühungen ausreichend kompetenter Eltern • isoliertes Leben der Mutter (Eltern) mit dem Kind (keine Kontakte, keine Teilnahme an Babytreffen oder Kleinkindertreffs) Verletzungs- und Unfallhäufung, Misshandlungsgefährdung Dr. Ulrich Kohns 11 Abklärung bei Hyperaktivität/Impulsivität Hyperaktivität ? Impulsivität Zeichen für eine mangelnde, automatisierte, nicht erworbene Selbstregulation, die bei angemessener Förderung aber grundsätzlich möglich ist? Zeichen für eine psychische oder körperliche Störung, die durch Förderung allein nicht beeinflussbar ist? Dr. Ulrich Kohns 12 Abklärung bei Hyperaktivität/Impulsivität Wodurch wird das Verhalten des Kindes am besten erklärt? Altersgerechter Entwicklungsstand? Hinweise auf Organerkrankung? Hinweise auf ungünstige Umfeldbedingungen? Dr. Ulrich Kohns 13 Auftreten von Hyperaktivität/Impulsivität (1) Verhalten - sozio-kulturell bedingt? - dem Entwicklungsalter entsprechend? - Folge von Entwicklungsstörungen? organisch bedingt Seh- und Hörstörungen Umschriebene Entwicklungsstörungen (sensorische Integrationsstörungen) Schädigungen des Gehirns Anfallsleiden Abweichung der Intelligenz Hyperkinetische Störungen (ADHS) endokrinologische Störungen infolge neurotoxischer Substanzen Dr. Ulrich Kohns 14 Auftreten von Hyperaktivität/Impulsivität (2) psychiatrisch bedingt psychoreaktiv bedingt Desorganisierter Erziehungsstil Schlafstörungen Emotionale Belastungen: - Über-(Unter)forderung, - Fam. Beziehungsprobleme, - Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch Beziehungsstörungen affektive Störungen Schizophrenie – Autismus – Asperger Syndrom Bindungsstörungen Anpassungsstörungen posttraumatische Belastungsstörung Sozialverhaltensstörung Dr. Ulrich Kohns 15 Abklärung bei Hyperaktivität/Impulsivität Wodurch wird das Verhalten des Kindes am besten erklärt? Altersgerechter Entwicklungsstand? Hinweise auf Organerkrankung? Hinweise auf ungünstige Umfeldbedingungen? Pädagogische Intervention: - in Einrichtung - im Elternhaus - Verlaufskontrolle Dr. Ulrich Kohns 16 Was tun? Schwierige Kinder haben Probleme. Schwierige Kinder sind in Schwierigkeit. Schwierige Kinder machen Probleme! Dr. Ulrich Kohns 17 Was tun? Beziehungsangebot und -sicherheit statt Ausgrenzung und Ablehnung! Prinzipien pädagogischer oder verhaltenstherapeutischer Intervention • Problem annehmen • Verhalten von Person unterscheiden • Fähigkeiten aufzeigen • Zumuten statt Vermeiden • Positive Zukunftserwartung • Veränderungen anerkennen Dr. Ulrich Kohns Kinder-Jugendarzt/Psychotherapie 18 Grundprinzipien im Umgang Verhaltensauffälligkeiten • Vermeiden Sie Überforderung (kurze, einfache, dem Entwicklungsstand entsprechende Aktivitäten) • Führen Sie „eng“ (eindeutige Signale, Blick- und/oder Körperkontakt bei Ansprache, weniger Reden, angemessene Zahl an Aufträgen, kurze, konkrete Anweisung, wiederholen lassen) • Trainieren Sie Rituale Dr. Ulrich Kohns 19 • Arbeiten Sie mit Regeln und Ritualen • • • • • setzen Sie notwendige, einfache und klare Regeln, vereinbaren Sie Folgen für Regelverstöße, fordern Sie Regeln ein (1-2-3er-Regelverhalten), reagieren Sie prompt mit Konsequenz bei Regelverstößen, vermeiden Sie Bestrafung und Entwürdigung) Binden Sie die Eltern ein - Hospitation - Elterntraining! Dr. Ulrich Kohns 20 Grundprinzipien für Erzieher (1) Behalten Sie die Übersicht. Informationen einholen, Hilfe von außen anfordern, Geduld mit anderen, Vertrauen zu sich selbst Suchen Sie eine gute Beziehung zum Kind. Schützen, Trösten, Hoffen, Stärken, Vertrauen, Zumuten, persönliche Ansprache Dr. Ulrich Kohns 21 Grundprinzipien für Erzieher (2) Achten Sie auf Regelverhalten und Rituale. Absprachen/Kompromisse suchen klare Regeln, klar und kurz im Kontakt, ignorieren oder konsequent reagieren, vorsichtig mit Strafreiz Arbeiten Sie viel mit Lob. unmittelbar und häufig loben, Bemühen anerkennen, Vertrauen neu schenken, Positives stärken Dr. Ulrich Kohns 22 Grundprinzipien für Erzieher (3) Organisieren Sie die Gruppenstruktur. Überprüfen sie: - die Zusammensetzung, - die Organisation des Raumes, - die Struktur des Zeit Suchen Sie Kooperation zu Eltern. enger und häufiger Kontakt, Verständnis gemeinsamer Probleme, keine Schuldzuweisung, gemeinsame Lösungswege, Hospitation, Elterntraining Dr. Ulrich Kohns 23 Umgang mit Eltern eines „schwierigen“ Kindes Kontaktaufnahme – Beziehungsaufbau - Motivieren Es sind die Emotionen im Gespräch - seien es positive oder negative -, die zum Lebensquell einer tiefen Beziehung werden können. (J. Gottman) • • • • • • • Vor Konfliktgesprächen entspannen! Nehmen Sie Kontakt zu Ihren Gefühlen auf! Achten Sie auf Körperreaktionen! Planen Sie Konfliktgespräche vorher! Schreiben Sie Ihr inneres Drehbuch! Wirken Sie beruhigend auf Gesprächspartner! Geben Sie Bestätigung! Dr. Ulrich Kohns 24 Umgang mit Eltern eines „schwierigen“ Kindes • Verletzende Kritik und Verlassen der Inhaltsebene vermeiden. • Zeichen der Verachtung nicht zulassen zu. • Abwehrende Äußerungen umgehen. • Abblocken ist das Ende der Kommunikation. „Verstärken Sie das Positive, ohne das Negative unter den Teppich zu kehren.“ J.Gottman Dr. Ulrich Kohns 25 Abklärung bei Hyperaktivität/Impulsivität Wodurch wird das Verhalten des Kindes am besten erklärt? Altersgerechter Entwicklungsstand? Hinweise auf Organerkrankung? Hinweise auf ungünstige Umfeldbedingungen? Pädagogische Intervention: - in Einrichtung - im Elternhaus - Verlaufskontrolle Bei Erfolglosigkeit der Interventionen: Kontaktaufnahme zum Kinder- und Jugendarzt, Absprache zur Abklärung durch Kinder- und Jugendarzt, IFF oder SPZ Dr. Ulrich Kohns 26 Therapie bei Hyperaktivität/Impulsivität - multimodale Therapie medikamentöse Therapie Symptome/ Leiden ADHS Verhaltenstherapie Psychomotorik Heilpädagogik Ergotherapie + Elternschulung + Beratungen Aufklärung Alter Dr. Ulrich Kohns Kinder-Jugendarzt/Psychotherapie Dr. Ulrich Kohns 27 Behandlung assoziierter Störungen z. B. durch Ergotherapie, Psychomotorik, Heilpädagogik • Behandlung dysfunktioneller sensorischer Integration durch sensomotorische Behandlung, visumotorische (grafomotorische) Behandlung, auditives Wahrnehmungstraining • Förderung von Motivation • Steigerung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen durch Verbesserung instrumenteller Fertigkeiten und Erleben von Selbstwirksamkeit • Verbesserung der sozialen Kompetenz Dr. Ulrich Kohns 28 Prävention von Verhaltensauffälligkeiten Dr. Ulrich Kohns 29 Prävention durch förderliche Erfüllung der Grundbedürfnisse von Kindern Brazelton und Greenspan (2002): die sieben Grundbedürfnisse von Kindern, deren Respektierung eine Entwicklung von emotional stabilen, willensstarken, einfühlsamen und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten zur Folge hat. Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit Das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen Das Bedürfnis des Kindes nach Grenzen und Strukturen Das Bedürfnis nach stabilen kulturellen Umfeldbedingungen Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit Dr. Ulrich Kohns 30 Aufklärung über dem Alter entsprechende Förderung der Fein- und Grobmotorik, Sprache, Aufmerksamkeit, Impulsivitätskontrolle und Affektregulation. Dr. Ulrich Kohns 31 Prävention durch Elternbildung Erhöhung persönlicher Kompetenzen zur Verbesserung von Bewältigungsstrategien oder Veränderung destruktiver Lebensbedingungen.“ Stärkung der allgemeinen Erziehungskompetenz und Vermittlung eines gewaltfreien Umgangs mit Konfliktsituationen im Erziehungsalltag Elternkurs des Deutschen Kinderschutzbundes „Starke Eltern – Starke Kinder®“ Besuch eines solchen Kurses führt zu mehr Sicherheit in Erziehungsfragen und dadurch auch zu mehr Stressfreiheit im Umgang miteinander und insgesamt zur gewaltfreien Erziehung. Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler Fachhochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften „Was Eltern brauchen und Elternkurse bieten können“ Dr. Ulrich Kohns 32 Kinder-Jugendarzt/Psychotherapie „Elternbildung stärkt Kinder“ Unvoreingenommene Haltung gegenüber der Lebenswelt der jeweiligen Zielgruppen Für Gruppen mit besonderem Unterstützungsbedarf müssen die Formen und Zugänge der Angebote niederschwellig gestaltet werden. Angebote müssen nicht als zusätzliche Belastung, sollten entlastend wirkend. Kommunikation und Ansprache der Eltern milieuspezifisch gestalten. Eltern selbst als Multiplikator/-innen nutzen. Elternbildung stärkt Kinder Systematisierung und Intensivierung der Elternbildung in Essen Redaktion Sybille Krüger, ElternLernwelt Gabriele Micklinghoff, Geschäftsbereich Soziales, Arbeit und Gesundheit Dr. Ulrich Kohns Kinder-Jugendarzt/Psychotherapie 33 Wer die Menschen behandelt wie sie sind, macht sie schlechter. Wer sie aber behandelt wie sie sein könnten, macht sie besser. J. W. von Goethe 34 M. Buber aus „Schriften zur Philosophie“: "Der Mensch wird am Du zum Ich." Eltern, Geschwister, Erzieher, Lehrer und andere Bezugspersonen sind „Du“! Dr. Ulrich Kohns 35