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Jahrbuch 2015/2016 | W hite, Louise; Castellano, Sergi | Genetische Anpassung an den Selengehalt von
Nahrung in der jüngsten Menschheitsgeschichte
Genetische Anpassung an den Selengehalt von Nahrung in der
jüngsten Menschheitsgeschichte
Genetic adaptation to levels of dietary selenium in recent human
history
W hite, Louise; Castellano, Sergi
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Der Mikronährstoff Selen ist ein w esentlicher Bestandteil der menschlichen Nahrung. Als die Menschen vor
etw a 60.000 Jahren aus Afrika ausw anderten, siedelten sie sich in Regionen mit sehr unterschiedlichen
Selenniveaus an. Forscher der Abteilung für Evolutionäre Genetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre
Anthropologie
haben
Belege
dafür
gefunden,
dass
menschliche
Populationen,
die
in
Räumen
mit
unzureichenden Mengen an Selen in der Nahrung leben, Anzeichen von Anpassung in Genen aufw eisen, die
Selen benötigen oder regulieren.
Summary
The micronutrient selenium is an essential part of the human diet. As humans migrated out of Africa about
60,000 years ago they came to settle in environments w ith vastly differing selenium levels. Researchers of the
Department of Evolutionary Genetics at the Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology have found
evidence that human populations w ho live in regions that provide insufficient dietary selenium show signals of
adaptation in the genes that use or regulate selenium.
Genetische Anpassung des Menschen an die Verfügbarkeit von Nährstoffen
Seit
ihrer
Ausw anderung
aus
Afrika
vor
etw a
60.000
Jahren
[1] haben
Menschen
eine
Vielzahl
unterschiedlicher Räume besiedelt. Um sich in diesen verschiedenartigen Umgebungen gut zu entw ickeln,
haben die einzelnen Menschengruppen nicht nur den kulturellen und technologischen Fortschritt genutzt,
sondern sich auch oft auf genetischer Ebene angepasst. So mussten sie sich auf regionale Unterschiede in der
Nahrungszusammensetzung einstellen. Zum Beispiel sind die meisten Säugetiere nach der Stillzeit nicht in der
Lage, den Milchzucker Laktose zu verdauen. Bei menschlichen Populationen in Europa und Afrika, die zur
Milcherzeugung Rinder halten, hat sich eine Anpassung im Laktase-Gen vollzogen. Sie ermöglicht auch den
Erw achsenen, Laktose zu verdauen und dadurch w eiterhin einen Ernährungsvorteil durch die Milch zu
genießen [2].
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Nahrung in der jüngsten Menschheitsgeschichte
Der Mikronährstoff Selen ist ein w esentlicher Bestandteil der menschlichen Kost. Sein Gehalt in der Nahrung
w ird hauptsächlich durch die Konzentration von Selen im Boden, auf dem die Nahrungsmittel angebaut
w erden, bestimmt. Die Menge des im Boden enthaltenen Selens variiert w eltw eit sehr stark. Der Mensch hat
sich also seit der Migration aus Afrika überall auf der Welt in Gegenden mit äußerst unterschiedlichen Mengen
von Selen in der Nahrung niedergelassen.
Warum Menschen Selen brauchen
Menschen benötigen Selen in ihrer Nahrung, um die 25 menschlichen Eiw eiße aufzubauen, die Selen in Form
der 21. Aminosäure Selenocystein (Sec) enthalten. Diese Sec enthaltenden Proteine w erden Selenoproteine
genannt und sind an lebensnotw endigen Prozessen beteiligt, etw a um die Zellen vor oxidativen Schäden zu
bew ahren. Sec ist ein Analogon der häufiger auftretenden Aminosäure Cystein (Cys), w obei das Schw efelatom
in der funktionellen Gruppe von Cys in Sec durch Selen ersetzt ist. Man nimmt an, dass Sec eine einzigartige
chemische Aufgabe hat, die Cys nicht im gleichen Maß erfüllen kann. Neben den Selenoproteinen haben
Menschen auch noch sechs Gene, die von Selenoproteinen abgeleitet sind, aber Cys anstelle von Sec
enthalten (das sind die Cys enthaltenden Paraloga). Diese Gene spielen jew eils eine ähnliche Rolle für die
Selenoproteine, benötigen aber keine Zufuhr von Selen, um zu funktionieren.
Sec hat die Besonderheit, dass sein zugehöriges Codon (das ist ein Triplett aufeinanderfolgender
Nukleobasen im Erbgut, in dem jew eils der Aufbau einer bestimmten Aminosäure verschlüsselt ist) UGA
üblicherw eise ein Stopcodon ist. Damit das UGA-Codon als Sec gelesen w erden kann, w ird eine Reihe
spezialisierter funktioneller Proteinmaschinerien benötigt: Die Umsetzung dieses Gens in Selenoprotein im
Körper erfordert das W irken von mindestens 19 w eiteren Proteinen, die zusammen als regulatorische Proteine
bezeichnet w erden. Diese Proteine regulieren das Selen im Körper, synthetisieren das Sec und kontrollieren
den Einbau von Sec in die Aminosäurenkette.
Man schätzt, dass die Nahrung etw a einer Milliarde Menschen einen Selenmangel aufw eist [3], w obei sich dies
auf bestimmte Regionen der Erde begrenzt. So hat etw a China sow ohl einige der höchsten als auch einige der
niedrigsten Selenniveaus der Welt. In Regionen mit starkem Selenmangel traten vor den in jüngerer Zeit
eingeführten Selen-Ergänzungsprogrammen eine Erkrankung des Herzmuskels (Keshan-Krankheit) mit einer
hohen Todesrate bei Kindern und eine zu Behinderung führende Erkrankung der Knochen und Knorpel
(Kaschin-Beck-Krankheit) endemisch
auf [4]. Ein
leichterer Selenmangel kann
eine
Fehlfunktion
des
Immunsystems, verminderte Fruchtbarkeit, kognitive Schw äche und erhöhtes Sterblichkeitsrisiko verursachen
[5]. Weil die ausreichende Aufnahme von Selen so w ichtig für die menschliche Gesundheit und Fruchtbarkeit ist
und die Menge des Selens in der Nahrung w eltw eit stark schw ankt, stellten Forscher der Abteilung für
Evolutionäre Genetik die Hypothese auf, dass Unterschiede in der Aufnahme von Selen mit der Nahrung über
viele Generationen hinw eg die Evolution von selenassoziierten Genen beim Menschen beeinflusst haben.
Die Suche nach Anpassung in selenbezogenen Genen
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A bb. 1: R ä um liche Ve rortung de r in die se r Arbe it a na lysie rte n
m e nschliche n P opula tione n a us de r ga nze n W e lt.
© Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie
Auf der Suche nach Anpassung an Selenniveaus untersuchten die Forscher die genetische Variation in
Selenoproteingenen, Cys enthaltenden Paraloga und selenregulatorischen Genen bei 855 Menschen aus 50
Populationen w eltw eit (Abb. 1). Diese Breite an Populationen liefert ein w eites Spektrum von Hintergründen
hinsichtlich des Selengehalts der Nahrung. Die Forscherinnen und Forscher haben die erhobenen Daten in der
Datenbank SelenoDB (w w w .selenodb.org) hinterlegt [6], um sie der Gemeinschaft der Selenbiologen zur
Verfügung zu stellen.
Zuerst untersuchten die W issenschaftlerinnen und W issenschaftler, ob Adaptation in selenbezogenen Genen
in bestimmten Teilen der Welt konzentriert ist [7]. Wenn sich eine Population in zw ei Populationen aufspaltet,
die unterschiedliche Räume besiedeln, so w erden genetische Varianten, die
für die
Anpassung an
Umw eltbedingungen nicht w ichtig sind, w ahrscheinlich in beiden Populationen ähnlich oft erhalten bleiben.
Andersherum w erden genetische Varianten, die unter bestimmten Umw eltbedingungen von Vorteil sind,
w ahrscheinlich in der Population vermehrt vorkommen, die unter diesen Bedingungen lebt, nicht aber in der
anderen Population (die in einer anderen Umgebung lebt). Das sollte zu signifikanten Unterschieden in der
Häufigkeit, mit der diese Genvarianten in den beiden Populationen auftreten, führen. Diese Unterschiede
zw ischen zw ei Populationen hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens genetischer Varianten können daher ein
Zeichen dafür sein, dass lokalisierte Anpassung an Umw eltbedingungen in einer bestimmten Menge von
Genen aufgetreten ist. Also untersuchten die Forscher, ob sich in bestimmten Teilen der Welt ungew öhnlich
große Unterschiede in der Häufigkeit von Genvarianten gegenüber den anderen Populationen beobachten
lassen. Da sich Gene mit ähnlichen biologischen Aufgaben w ohl gemeinsam anpassen, teilten sie die Gene in
drei Gruppen ein: Selenoproteingene, Cys enthaltende Paraloga und regulatorische Gene.
Anpassung an Selenmangel
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Nahrung in der jüngsten Menschheitsgeschichte
A bb. 2: Ve rgle ich unge wöhnlich große r Unte rschie de in de r
Hä ufigk e it ge ne tische r Va ria nte n zwische n P opula tione n a us
ve rschie de ne n R e gione n de r W e lt. (A) Ve rgle ich zwische n
R e gione n de r W e lt. (B) Ve rgle ich zwische n P opula tione n in
C hina , die e ntwe de r in R e gione n m it Se le nm a nge l ode r in
R e gione n m it a usre iche nd Se le n le be n (im Ve rhä ltnis zu
a nde re n R e gione n de r W e lt).
© L. W hite e t a l. (2015) [7]
Die Forscher fanden heraus, dass es in Zentralsüdasien und Ostasien sow ohl bei den Selenoproteinen als
auch den regulatorischen Genen Anhaltspunkte für lokale Adaptation gibt und darüber hinaus einen w eiteren
Anhaltspunkt bei den Selenoproteinen in Amerika (Region in Rot in Abb. 2A). Die meisten Populationen
Ostasiens kommen aus China, w o sich große Regionen mit Selenmangel finden. Geringer Bodenselengehalt ist
auch in Pakistan festzustellen, von dort stammen die meisten der zentralsüdasiatischen Proben. Es ist daher
w ahrscheinlich, dass diese Anzeichen positiver Selektion eine Anpassung an das jew eilige Selenniveau in der
Umgebung reflektieren. Das Anzeichen für positive Selektion in Amerika w ird vorsichtiger interpretiert, da in
diesem Teil der W elt bisher bei Menschen kein Selenmangel nachgew iesen w urde.
Für die Cys enthaltenden Paraloga gibt es hingegen in keiner Region der Welt einen Hinw eis auf Adaptation.
Diese Gene haben ähnliche Funktionen w ie die Selenoproteine und man könnte daher vermuten, dass sie bei
der Kompensation der Selenoproteinfunktion eine Rolle spielen, w enn Selen knapp ist. Man w eiß jedoch, dass
sich Sec und Cys in ihren katalytischen Eigenschaften unterscheiden und funktionell nicht austauschbar sind.
Dies könnte daher die Fähigkeit der Cys enthaltenden Gene einschränken, die Funktion der Selenoproteine
aufzuw iegen. Und tatsächlich spiegelt das Fehlen signifikanter Anzeichen für Adaptation in diesen Genen
w ahrscheinlich ihre Unabhängigkeit von Selen w ider und deutet darauf hin, dass Cystein enthaltende Gene bei
niedrigem Selenvorkommen keine kompensierende Rolle spielen.
Als nächstes betrachteten die Forscherinnen und Forscher die Anzeichen für Adaptation in Asien näher. Die
meisten untersuchten Populationen sind aus China, einem Teil der Welt mit Selenmangel in w eiten Regionen,
w o schw ere Mangelkrankheiten w ie die Keshan-Krankheit endemisch w aren. Sie teilten die Populationen in
China in zw ei Gruppen ein, je nachdem, ob sie in Selenmangelregionen oder Gegenden mit ausreichend Selen
leben. Dies ergab, dass die Hinw eise für Adaptation auf die Regionen Chinas mit Selenmangel beschränkt sind
(Abb. 2B, Abb. 3). Das untermauert die Vermutung, dass es Selenmangel ist, der die Anpassung in diesen
Genen antreibt.
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A bb. 3: Die P opula tione n a us de n Te ile n C hina s m it
Se le nm a nge l lie fe rn die de utlichste n Hinwe ise a uf e ine lok a le
Ada pta tion inne rha lb C hina s. Die rosa Ge bie te a uf de r Ka rte
sind R e gione n m it Se le nm a nge l, wo Se le nm a nge lk ra nk he ite n
e nde m isch wa re n. Für die rot m a rk ie rte n P opula tione n, die in
de n rosa Ge bie te n le be n, gibt e s de utliche Anze iche n für
Ada pta tion in se le nbe zoge ne n Ge ne n. Die bla u m a rk ie rte n
P opula tione n, die in R e gione n m it a usre iche nd Se le n le be n
(grüne Flä che n a uf de r Ka rte ), lie fe rn k e ine Ze iche n für
Ada pta tion in se le nbe zoge ne n Ge ne n.
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Schlussfolgerungen
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Mikronährstoff Selen w ährend der jüngeren menschlichen
Evolution w ichtig w ar: Bei der Verbreitung der Menschen über die ganze Welt kann eine Adaptation in den
Genen, die Selen enthalten oder seine Verw endung regulieren, den Menschen geholfen haben, selenarme
Regionen zu bevölkern. Daraus ergibt sich, dass menschliche Populationen heute infolge ihrer Geschichte
möglicherw eise unterschiedlich hohe Risiken tragen, an selenbezogenen Krankheiten zu leiden.
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