kurze einführung in die metaphysische abhandlung

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KRITERION, Nr.6 (1993), pp. 13-17
Alex Burri
KURZE EINFÜHRUNG IN DIE METAPHYSISCHE ABHANDLUNG
Wozu Einführungen?
Bekanntlich fällt es einem in der Philosophie wesentlich leichter, andere Positionen zu kritisieren als selber einen tragfähigen Standpunkt aufzubauen. Die
Philosophie scheint ein vorwiegend destruktives Geschäft zu sein. Hier dürfte einer der Gründe liegen,
weshalb sie im Laufe ihrer langen Geschichte so wenig Fortschritte erzielt hat oder - um mit Kant zu
sprechen -- den sicheren Weg einer Wissenschaft
nicht hat einschlagen können. Andererseits zeigt sie
heutzutage eindeutig Symptome einer hochentwickelten wissenschaftlichen Disziplin: den Gebrauch formaler Darstellungsmittel und vor allem die
zunehmende Spezialisierung ihrer Fachleute, Solche
Anzeichen sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Philosophie die Grundlage für eine
wirklich fruchtbare, d. h. kumulative Entwicklung
fehlt Neben der Destruktivität und der tabula-rasaMentalität sind dafür sicher auch methodische beziehungsweise wissenschaftssoziologische Ursachen
verantwortlich: Der Philosophie fehlt eine Lehrbu.chtradition, welche die allgemein akzeptierten, als Kristallisationspunkte kumulativer Entwicklungen prädestinierten Erkenntnisse weitergibt und der wissenschaftlichen Gemeinschaft in umfassender Form zugänglich macht,
Den Lehrbüchern und Einfiihrungen sollte deshalb
in Zukunft eine größere Bedeutung zugemessen werden. Um ihrer traditionsbildenden Aufgabe aber
wirklich gerecht zu werden, müßten historische Einführen systematisch, systematische Einführungen
hingegen historisch unterlegt sein,
In den letzten Jahren hat die Metaphysik wieder an
Bedeutung gewonnen, "It is a fact about analytical
philosophy", schreibt Putnam, "that, while at one
time (during the period of logical positivism) it was
an anti-metaphysical movement, it has recently become the most pro-metaphysical movement on the
world philosophical scene." So dürfte es sich beispielsweise bei der lebhaften Debatte zwischen realistischen und antirealistischen Philosophen im. wesentlichen um eine metaphysische Auseinandersetzung handeln. "Metaphysisch" ist hier jedoch keine
abwertende Bezeichnung für unkontrollierbare, letzt1. Putnam, H.: Renewing Philosophy. Cambridge 1992,
p. 187
lieh rein rhetorische Argumente. Gerade der Realismusstreit zeigt vielmehr, daß es auch auf grundlegender Ebene bessere und schlechtere Argumente
gibt, auf die im übrigen die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sowie die Sprachphilosophie - denken wir etwa an die Kausaltheorie der Referenz unbedingt angewiesen sind.
Leibniz' Hintergrund
Die rationalistische Philosophie, wie sie namentlich
von Descartes, Leibniz und Spinoza vertreten wird,
geht davon aus, daß jede allgemeingültige Erkenntnis
über die Welt von der menschlichen Vernunft aus
eingeborenen Ideen und Prinzipien abgeleitet werden
kann. Erkenntnistheoretisch steht der Rationalismus
in einem scharfen Gegensatz zum Empirismus, der
ausschließlich die sinnliche Erfahrung als Ursprung
des Wissens anerkennt und dementsprechend nur Abstraktion bzw, Induktion als Mittel zur Erkenntisgewinnung gelten läßt.
Während sich Descartes, auf den die Wiederbelebung der Metaphysik im siebzehnten Jahrhundert zurückgeht, bei der Entwicklung seines philosophischen Systems nur auf eingeborene Ideen beruft wie beispielsweise die Idee von Gott oder die Idee
der Materie -, hält Leibniz neben Ideen auch Prinzipien - etwa die Axiome der Euklidschen Geometrie
- für eingeboren. "Allerdings darf man sich nicht
einbilden, daß man diese ewigen Vernunftgesetze in
der Seele wie in einem offenen Buche lesen könne",
sagt Leibniz in der Vorrede seiner Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand und betont
damit den rein dispositionalen Charakter der eingeborenen Prinzipien. Diesen gehören neben den
Axiomen der Arithmetik und der Geometrie auch 10-gisehe und metaphysische Grundsätze an, die der
Leibnizschen Metaphysik zugleich auch als Fundament dienen und von denen sich in seinem Werk im
wesentlichen sechs unterscheiden lassen: (a) das
Prinzip des zureichenden Grundes, das besagt, daß
nie etwas ohne Ursache oder Grund geschieht; (b)
das Prinzip des Widerspruchs, gemäß dem eine Aussage nicht zugleich wahr und falsch sein kann; (c)
das Kontinuitätsprinzip, wonach alle Veränderungen
des Ortes, der Form oder des Zustandes eines Dinges
kontinuierlich, d. h. ohne Sprünge oder Lücken vonstatten gehen; (d) das Prinzip des Besten, das zum
KRITERION
Ausdruck bringt, daß jeder Mensch stets das
wünscht, was ihm das Beste zu sein scheint; (e) das
ln-esse-Prinzip, dem zufolge bei jeder wahren Aussage der Form "A ist B" der Prädikatsbegriff B im
Subjektsbegriff A enthalten ist; (f) das Prinzip von
der Identität des Ununterscheidbaren, wonach sich in
der realen Welt - im Gegensatz zur Geometrie zwei Dinge nie bloß der Zahl nach (solo numero) unterscheiden,
Aus zwei Gründen gestaltet sich die Bestimmung
des systematischen Stellenwerts dieser Prinzipien
schwieriger, als es diese Zusammenstellung vermuten läßt: Zum einen verwendet Leibniz zu ihrer Darlegung an unterschiedlichen Stellen seines umfang..
reichen Werks jeweils auch unterschiedliche Formulierungen" deren Gleichwertigkeit namentlich aus
heutiger Sicht bezweifelt werden kann; zum anderen
leitet er die Prinzipien in variierender Reihenfolge
gegenseitig auseinander ab, was hinsichtlich ihrer logischen Unabhängigkeit und mithin ihrer Fundamentalitär wichtige, aber schwer abschätzbare Konsequenzell.Ua<:'Meine Prinzipien sind so, daß sie
kaum voneinander getrennt werden können, Wer eines gut kennt, kennt alle". bemerkt Leibniz in einem
Brief vom 7 November 1710 an des Bosses und
scheint damit die von Spinoza für die Metaphysik
angestrebte streng deduktive Darstellungs- und
Rechtfertigungsart implizit in Frage stellen zu wol..
len, Jedenfalls muß Leibniz' Rationalismus wegen
seiner verhältnismäßig vielen Prinzipien als voraus..
setzungsreicher gelten als derjenige Descartes', der
hauptsächlich methodologisch ausgerichtet ist und
einen metaphysischen Grundsatz nur dann als sol..
chen anerkennt, wenn er mit demselben Grad an
Klarheit und Deutlichkeit aufgefaßt werden kann wie
ein mathematisches Axiom.
das Wollen selbst, sondern der Grund des Wollens
bestimmt, ob eine Handlung wie beispielsweise die
Erschaffung der Welt gut ist, "Nehmen wir [..,] an",
resümiert er, "Gott wähle zwischen A und B und entscheide sich für A, ohne irgendeinen Grund zu haben,
es B vorzuziehen, so sage ich, daß diese Handlung
Gottes zumindest nicht lobenswert wäre; denn alles
Lob muß einen vernünftigen Grund haben, der hier
er hypothesi nicht zu finden ist" (S. 7 f.). Was sowohl dem göttlichen als auch dem menschlichen
Wollen zugrunde liegt, ist das Prinzip des Besten,
und zwar in der Formulierung "der Wille [erstrebt]
immer das ihm gut Scheinende" (S. 73) im Falle des
Menschen und in den Formulierungen "Gott [tut] alles zum besten" (S. 11) bzw. "Gott [tut] allemal das
Beste" (S. 31) im Falle Gottes. Bezüglich des Schöpfungsaktes bedeutet "das Beste" für Leibniz nichts
anderes, als daß Gott von allen möglichen Welten
diejenige geschaffen hat, "die zugleich die einfachste
an Prinzipien und die reichhaltigste an Erscheinungen ist" (S. 15), die also ein Maximum an unterschiedlichem Seienden und ein Minimum an Naturbzw. Vernunftgesetzen enthält.
Diese Überlegungen deuten darauf hin, wie die
beiden Prinzipien des zureichenden Grundes und des
Besten, also (a) und (d), zusammenhängen, Obwohl
Leibniz die zur Formulierung von (a) verwendeten
Termini "Grund" und "Ursache" manchmal für synonym zu halten scheint, sollten ihre Bedeutungen
hier unterschieden werden: Während "Ursache"
raumzeitliche Ereignisse oder Zustände bezeichnet,
die andere Ereignisse oder Zustände kausal hervorbringen, bezieht sich "Grund" auf die Intentionen
vernünftiger Wesen, d. h. auf den gedanklichen Ge~
halt von Handlungsmotiven. Unter das Prinzip des
ZUreichenden Grundes fallen also sowohl kausale
(d. h, determinierte) als auch intentionale (d. h. durch
freie Entscheidungen initiierte) Geschehnisse. Um
Zureichender Grund und Wahl des Besten
diese in ihrer Gesamtheit adäquat beschreiben zu
In der i 686 französisch verfaßten, aber erst postum können, müssen neben Kausalerklärungen, die sich
erschienenen Metaphysischen Abhandlung2 stellt. auf mechanistische Naturgesetze stützen, dementLeibniz die Hauptzüge seines philosophischen Den.. sprechend auch Finalerklärungen herangezogen werkens erstmals zusammenhängend dar. Zu Beginn der den, die dem zweckgerichteten Aspekt bestimmter
in 37 Paragraphen aufgeteilten Schrift wendet er sich
Abläufe Rechnung zu tragen vermögen. So oder so
gegen eine Auffassung, wonach die Werke Gottes al.. ist das Prinzip des zureichenden Grundes aber eine
lein deshalb gut seien, weil Gott sie gewollt hat ~ apriorische Voraussetzung jeglicher Erkenntnis: Es
nämlich mit dem vom Prinzip des zureichenden gewährleistet nicht nur, daß sich die erkenntnistheoGrundes ausgehenden Argument, "daß jeder Wille
retisch fundamentalen warum-Fragen überhaupt beeinen Grund des Wollens voraussetzt" (S. 5). Nicht antworten lassen, sondern weist auch darauf hin,
worin Erklärungen (d. h. echte Erkenntnisse) eigent..
lieh bestehen - nämlich im Wissen um die Ursachen
2. Leibniz, G. W,: Metaphysische Abhandlung. Übersetzt
und Gründe allen Geschehens.
von HerbertHerring,Harnburg 21985.
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KURZE EINFüHRUNG lN DIE METAPHYSISCHE ABHANDLUNG
Das Prinzip des Besten hingegen liefert nichts anderes als die Grundlage für Finalerklärungen. Das
heißt allerdings nicht, daß es einen kleineren Anwendungsbereich besitzt als das Prinzip des zureichenden
Grundes. Denn die Naturereignisse, die aus menschlicher Sicht bloß einer Kausalerklärung bedürfen,
bilden einen Teil der Schöpfung und hängen als solche von der göttlichen Wahl der besten aller möglichen Welten ab. Deshalb sieht Leibniz in der Wahl
des Besten auch "das Prinzip alles Existierenden und
der Naturgesetze" (S. 49, meine Hervorhebung).
Folglich kann es für das Geschehen in der unbelebten
Natur jeweils zwei ganz unterschiedliche Erklänmgsansätze geben: einen mechanistischen aus der
Innenperspektive und einen teleologischen aus der
Außenperspektive . "Ich finde", hält Leibniz in diesem Zusammenhang denn auch fest, "daß man manche Wirkungen der Natur in doppelter Weise beweisen kann, und zwar durch die Betrachtung der Wirkursache und außerdem durch die Betrachtung der
Zweckursache" (S. 53).
kann insofern als vollkommen gelten. "Hingegen ist
ein Akzidens etwas, dessen Begriff nicht alles das
enthält, was man dem Subjekt, dem dieser Begriff
beigelegt wird, zuschreiben kann" (S. 19). Im Gegensatz zu individuellen Substanzen besitzen Akzidenzien mit anderen Worten keinen vollkommenen Begriff.
Aus dieser Konzeption der individuellen Substanz
zieht Leibniz im Laufe der Abhandlung mehrere
wichtige Konklusionen, ohne aber zu begründen, wie
diese genau aus der Vollkommenheit der substantiellen Subjektsbegriffe gewonnen werden können. Erstens folgert er, daß es in jeder individuellen Substanz Nachwirkungen und Vorzeichen dessen gibt,
was ihr jemals geschehen ist bzw. ihr jemals zust0ßen wird, "wenngleich es nur Gott allein zukommt,
dies alles zu erkennen" (S. 19; vgl. auch S.37 und
83 f.). Wenn nämlich, so könnte die entsprechende
Begründung lauten, der Begriff einer individuellen
Substanz wirklich vollständig ist, dann enthält er
nicht nur die Prädikatsbegriffe, unter die sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt fallt, sondern gibt auch über
alle früheren und späteren Eigenschaften des sich
wandelnden Dinges Auskunft. Und weil die Substanz
ihrem Begriff entspricht, existieren in ihr auch sämtliche Nachwirkungen bzw. Vorzeichen ihrer eigenen
Geschichte.
Zweitens leitet er aus der Vollkommenheit substantieller Subjektsbegriffe das Prinzip der Identität
des Ununterscheidbaren ab: Es kann also nicht zutreffen, "daß zwei Substanzen sich völlig gleich und
nur der Zahl nach verschieden sind" (S. 19). Hier
fällt es nicht ganz leicht, die Konklusion auf überzeugende Weise aus der Prämisse zu gewinnen. Eine
einfache Deduktion könnte jedoch wie folgt aussehen: Trivialerweise fällt ein Ding A unter den Prädikatsbegriff "mit Aidentisch", was natürlich für jede
andere Substanz nicht gilt; also enthält der Begriff
von A zwangsläufig einen Prädikatsbegriff, unter den
kein zweites Ding fällt; infolgedessen unterscheiden
sich zwei Substanzen nicht bloß der Zahl, sondern
auch ihrem Begriff nach.
Drittens folgert er, "daß eine Substanz nur durch
Schöpfung entstehen und nur durch Vernichtung vergehen kann; daß man eine Substanz nicht zweiteilen
und nicht aus zweien eine machen kann" (S. 19 f.;
vgl. auch S. 83). Zur Begründung der Unmöglichkeit
einer Zweiteilung ließe sich vielleicht eine reductio
ad absurdum der folgenden Art vorbringen: Angenommen, eine Substanz Ao zerfalle zu einem bestimmten Zeitpunkt in zwei Substanzen Al und A2;
sei nun B eine derjenigen Eigenschaften, die zwar Al,
Wahrheit und Substanz
In den Paragraphen acht bis sechzehn behandelt er
auf kleinem Raum einen zentralen Teil seiner Philo-sophie - die Lehre von den individuellen Substanzen,
die drei Jahrzehnte später in der Monadologie ihre
endgültige Ausprägung erhalten hat. Um den Begriff
der Substanz (des Dinges, des Köpers oder des unum
per se) näher zu bestimmen und vorn Begriff des Akzidens (der Eigenschaft, des Attributs, der Qualität)
klar abzugrenzen, greift er auf das In-esse-Prinzip zurück: "Nun steht fest, daß jede wahre Aussage einen
Grund in der Natur der Dinge hat, und wenn ein Satz
nicht identisch, d. h., wenn das Prädikat nicht ausdrücklich im Subjekt enthalten ist, so muß es doch
virtuell in ihm enthalten sein" (S. 17). Wenn nämlich
in jeder wahren Aussage der Prädikatsbegriff Teil des
Subjektsbegriff ist, dann kommt einer individuellen
Substanz ein vollkommener Begriff zu, d. h. ein Begriff, aus dem sich alle ihre Eigenschaften erschließen lassen. Damit will Leibniz vermutlich das folgende sagen: Ein Ding A ist durch alle wahren Aussagen der Form HA ist H" vollständig bestimmt;
durch die Menge aller wahren Aussagen über A ist
gleichzeitig auch die Menge aller Prädikatsbegriffe
gegeben, unter die A fällt und die gemäß dem Inesse-Prinzip im Begriff von A enthalten sein müssen;
folglich gibt der Subjektsbegriff - unter der Voraussetzung, daß wir ihn vollständig verstehen ~" über alle
Eigenschaften des betreffenden Dinges Auskunft und
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KRITERION
nicht aber A2 zukommen (gemäß des Prinzips von
der Identität des Ununterscheidbaren müßte es ja
mindestens eine solche geben); dann würde sich die
Frage stellen, ob der Satz "A o ist B" wahr ist oder
nicht; da A o (wegen des Kontinuitätsprinzipsl) sowohl in A J als auch in A2 fortbestünde, müßte er zugleich wahr und falsch sein, was das Prinzip des Widerspruchsaber ausschließt; somit kann die Annahme nicht richtig sein. Ein analoges Argument könnte
auch zur Begründung der Unmöglichkeit einer Fusion zweier Substanzen vorgebracht werden.
Viertens bzw. fünftens sagt Leibniz, jede Substanz
drücke das ganze Universum in einer ihr eigentümlichen Weise aus (vgl. S. 19 f., 33 und 85) und bilde
gleichsam eine Welt für sich (vgl. S. 21, 35 und 39).
Wie diese beiden Konklusionen aus der Vollkommenheit der substantiellen Subjektsbegriffe begründet werden können, bleibt allerdings unklar. Für seine Theorie der Perzeption erweist sich aber namentlich letztere als zentral: Wie später auch in der Monadologie betont er nämlich, es sei "eine üble Gewohnheit, zu denken, unsere Seele empfinge irgendwelche Kunde bringende Bilder und hätte TÜTen und
Fenster" (S. 65 f.). Dementsprechend bringe es die
Konzeption der individuellen Substanzen mit sich,
"daß alle ihre Erscheinungen oder Perzeptionen
(spontan) ihrer eigenen Natur entstammen müssen"
(S. 85, meine Hervorhebung).
Veränderungen ihrer Form zurückzuführen. Die
Scholastik differenziert zwischen zwei Arten von
Formveränderungen. Änderungen, bei denen das ihnen unterworfene Ding dasselbe bleibt und nur seine
akzidentelle Form sich wandelt, und Änderungen, bei
denen es seine Identität und damit auch seine substantielle Form verliert - wie etwa die Verwandlung
einer Raupe in einen Schmetterling. Die substantiellen Formen wiederum zerfallen in drei Typen: solche, die für sich - ohne Materie - eine eigene Substanz ausmachen (Gott), solche, welche zur Konstitution einer Substanz Materie, d. h. einen Körper benötigen, aber zeitweilig (zwischen Tod und Jüngstem
Gericht) ohne letzteren existieren (menschliche Seelen), und solche, die immer auf Materie angewiesen
sind.
Im Gegensatz zur Scholastik hält Descartes sowohl
die Seelen als auch die Körper für selbständige Substanzen: Jene sind reine Formen, die vollkommen
ohne Materie auskommen, diese sind Substanzen, die
nur geometrische und kinematische Eigenschaften
besitzen, nämlich Größe, Gestalt, Position und Bewegung. Leibniz hingegen widerspricht Descartes
mit der Behauptung, "daß jeder, der über das Wesen
der Substanz [...] nachdenkt, finden wird, daß das gesamte Wesen des Körpers nicht bloß in der Ausdehnung besteht, d. h. in der Größe, Gestalt und Bewegung, sondern daß man notwendigerweise darin etwas anerkennen muß, das eine Beziehung zu den
Seelen hat und das man gewöhnlich substantielle
Form nennt" (S. 25). Weshalb sich nicht alle Eigenschaften eines Körpers auf Größe, Gestalt und Bewegung reduzieren lassen, versucht Leibniz im Abschnitt 17 zu beweisen. Dort zeigt er mit einem physikalisch korrekten Argument, daß die Bewegungsgröße (modem gesprochen: der Impuls) nicht - wie
Descartes glaubt - mit der bewegenden Kraft (der kinetischen Energie) identisch ist. Folglich muß die
Kraft als irreduzible Eigenschaft von Körpern aufgefaßt werden, "und man kann daraus schließen, daß
alles, was unter .dem Begriff Körper verstanden wird,
nicht einzig in der Ausdehnung und in ihren Modifikationen besteht, wie es sich unsere Modemen einreden. Daher sind wir auch genötigt, gewisse Wesenheiten oder Formen wieder einzusetzen, die sie verbannt haben" (S. 47). Weshalb die bewegende Kraft
nicht einfach als zusätzliche materiale Eigenschaft
verstanden werden kann, sondern "notwendigerweise
[...] eine Beziehung zu den Seelen hat", erörtert er
nicht. Aber es drängt sich die Vermutung auf, Leibniz denke hier in irgend einer Form vitalistisch.
Jedenfalls bilden für ihn weder die Seele noch der
Substantielle Form und Notwendigkeit
Bei der Ausarbeitung seiner Auffassung von Substanz stützt sich Leibniz nicht nur auf das ln-essePrinzip und die daraus abgeleiteten Sätze, sondern
auch auf die von allen namhaften Denkern seiner
Zeit verworfene scholastische Doktrin von den substantiellen Formen. Obwohl er vorerst die von Descartes, Hobbes und anderen neuzeitlichen Philosophen vertretene Ansicht geteilt hatte, die Scholastik
sei unfruchtbar, sieht er sich später gezwungen, auf
die Doktrin der substantiellen Formen zurückzukommen, "deren Kenntnis in der Metaphysik so sehr
vonnöten ist, daß man ohne sie meines Dafürhaltens
weder die ersten Prinzipien recht erkennen noch den
Geist zur Erkenntnis der unkörperlichen Wesenheiten
und der Wunderwerke Gottes erheben kann" (S. 23).
Form und Materie sind die Grundbegriffe der
scholastischen Philosophie, gemäß der alle Dinge aus
derselben Art Materie bestehen, sich aber in bezug
auf die ihnen innewohnende Form unterscheiden. Da
die Materie weder geschaffen noch zerstört werden
kann, sind Veränderungen an und in den Dingen auf
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KURZE EINFÜHRUNG IN DIE METAPHYSISCHE ABHANDLUNG
Körper eine unabhängige Substanz Die Seele ist
digen Folgerung schließt einen Widerspruch ein,
während das Gegenteil einer hypothetisch notwendigen keinen Widerspruch enthält, also logisch möglich ist. Im zweiten Fall setzt die "Beweisführung
[...] den von Gott frei gewählten Lauf der Dinge
[voraus]; und dieser beruht auf seinem ersten freien
Ratschluß, der darin besteht, allemal das Vollkommenste zu tun [...]. Alle Wahrheit nun, die in Ratschlüssen solcher Art begründet ist, ist zufällig, mag
sie auch gewiß sein; denn diese Ratschlüsse ändern
nichts an der Möglichkeit der Dinge, und obwohl
Gott [...] gewiß allemal das Beste wählt, so hindert
das nicht, daß das weniger Vollkommene an sich
möglich ist und bleibt" (S. 31). Leibniz differenziert
also zwischen "gewiß" und "notwendig" und sagt,
alle wahren Aussagen seien gewiß und deshalb träten
auch alle von ihnen beschriebenen Ereignisse mit Sicherheit ein. Diese Gewißheit ist aber nicht absolut,
sondern hängt von der vorgängigen, freien Entscheidung Gottes ab, von allen möglichen Welten die beste zu schaffen. Im Gegensatz dazu "beruhen die
[absolut] notwendigen Wahrheiten auf dem Prinzip
des Widerspruchs und auf der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Wesenheiten selbst, ohne daß man
dabei den freien Willen Gottes [...] in Betracht zu
ziehen braucht" (S. 33). Insofern hat das Prinzip des
Widerspruchs als stärker zu gelten als das Prinzip des
Besten: Selbst Gott kann sich bei der Schaffung der
Welt nicht über es hinwegsetzen.
vielmehr die substantielle Form des Körpers und
konstituiert nur mit diesem zusammen eine selbstän-
dige: Einheit
Das In-esse-Prinzip, das sich im Zusammenhang
mit der Theorie der Substanz als besonders fruchtbar
erwiesen hat, führt in einem anderen Bereich zu
Schwierigkeiten: Wie ist die Annahme, in jeder wahren Aussage sei der Prädikatsbegriff im Subjektsbegriff enthalten, mit der von Leibniz wie von den meisten bedeutenderen Philosophen des siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts anerkannten Tatsache vereinbar, daß es notwendige und kontingente Wahrheiten gibt? Denn da in jeder wahren Aussage der Prädikatsbegriff im Subjektsbegriff enthalten ist, muß
im Prinzip auch für jede wahre Aussage ein apriorisches Beweisverfahren existieren. Dieses Problem
hat Leibniz lange Zeit beschäftigt, und er hat zu seiner Behebung verschiedene Ansätze vorgelegt, so
den Vorschlag, eine notwendige Wahrheit unterscheide sich von einer kontingenten dadurch, daß sie
vermittels einer endlichen Anzahl von Definiens-fürDefiniendum-Substitutionen in eine identische (d. h.
analytische) Aussage übergeführt werden könne.
In der Metaphysischen Abhandlung legt er allerdings eine andere Lösung vor, indem er von der Unterscheidung zwischen absolut notwendigen und'hypothetisch notwendigen Beweisführungen ausgeht:
Das Gegenteil (die Negation) einer absolut notwen-
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