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Arbeitsmedizinische Gehörvorsorge nach G 20 „Lärm“
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1.
Grundlagen
2.
Arbeitsmedizinische Vorsorge „Lärm“
3.
Untersuchungstechniken
4.
Erkrankungen des Hörorgans
5.
Beratung des Beschäftigten und des Unternehmers
6.
Versicherungsmedizin
7.
Kasuistik
8.
Weiterführende Literatur und andere Quellen
9.
Stichwortverzeichnis
10.
Anhang
11.
Abbildungsverzeichnis
1
1.1
1.1.1
10
Grundlagen
Rechtsgrundlagen
Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV)
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
1.1.2
22
Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch Lärm und
Vibrationen (LärmVibrationsArbSchV)
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
1.2
Akustische Grundlagen I: Schallmessung – Lärmbeurteilung
Bodo H. Pfeiffer
1.2.1
Einleitung
Lärm ist Schall, der stört, belästigt, ein erhöhtes Unfallrisiko hervorruft oder zu gesundheitlichen Gefahren führt. Fast alle Menschen in den Industriegesellschaften sind Lärm zumindest
gelegentlich ausgesetzt. Die körperlichen Reaktionen auf Lärm hängen in der Regel von
Stärke und Dauer der Belastung ab.
Die Folgen der Lärmbelastung können vielfältig sein, z. B.:
·
·
·
·
·
·
·
Schlafstörungen,
Kreislaufstörungen,
Leistungsminderung, aber auch
Leistungssteigerung,
Einschränkung des Sprachverstehens und des Signalhörens durch Verdeckung,
Lärmschwerhörigkeit,
Knall- und Explosionstraumen.
Bis auf die Verdeckungseffekte sind alle Lärmwirkungen von der Disposition des Exponierten
abhängig. Die einzige bisher anerkannte Berufskrankheit durch Lärmbelastung ist die berufliche Lärmschwerhörigkeit BK 2301, deren Vorsorge in diesem Beitrag behandelt werden soll.
1.2.2
Grundbegriffe
Unter Schall werden mechanische Wellen eines näherungsweise elastischen Mediums verstanden, z. B. Kompressions- und Dehnungswellen in Gasen. Erregt werden diese Wellen
meist durch schwingende Grenzflächen wie z. B. Maschinenteile oder die Membran im Audiometerkopfhörer oder im Lautsprecher. Die Anzahl der Schwingungen der Grenzwand pro
Sekunde entspricht der Frequenz f dieser periodischen Wandbewegung. Das angekoppelte
Medium - Luft, Wasser oder ein Festkörper - folgt mit derselben Frequenz und leitet die Bewegung mit einer für das Medium charakteristischen Schallgeschwindigkeit c fort. Betrachtet
man in Richtung der Schallausbreitung den geringsten Abstand zweier Punkte gleicher Phasenlage, also Punkte, die sich hinsichtlich der momentanen Auslenkung entsprechen, so ist
die Entfernung zwischen ihnen die Wellenlänge l.
·
Die Schallgeschwindigkeit c in m/s, die Frequenz f in Hz und die Wellenlänge l in m
stehen zueinander in der Beziehung c = f*l.
Da der Mensch Frequenzen, die sich um Faktor 2 bzw. 1/2 unterscheiden, als ähnlich empfindet, ist die Oktaveneinteilung in der Akustik bevorzugt. Wir tragen auf der Abszisse - wie
auf der Tastatur des Klaviers - Oktaven äquidistant auf, dadurch erhalten wir eine logarithmische Einteilung der Frequenzskala.
Ausgehend von einem beliebigen Bezugston erreichen wir durch Multiplikation mit dem Faktor H=³Ö2 die um eine Terz höher liegende Frequenz bzw. durch Multiplikation mit N=1/³Ö2
die um eine Terz tiefer liegende Frequenz.
Bei Luft- und Flüssigkeitsschall ändert sich der Druck um einen Gleichgewichtszustand (z. B.
atmosphärischer Druck). Diese Druckänderungen (Wechseldrucke) werden als Schalldruck
bezeichnet.
33
Um die Druckänderungen an der Schallquelle zu bewirken, muss Arbeit geleistet werden.
Die zugeführte Energie wird mit der Schallwelle transportiert. Die pro Zeit- und Flächeneinheit transportierte Energie im Wellenfeld ist die Schallintensität I gemessen in W/m².
Ist die Welle eine einfache Sinuswelle, enthält sie nur eine Grundschwingung, so ist dies im
physikalischen Sinne ein reiner Ton. Einfache Klänge sind aus der Grundschwingung und
einer Anzahl von Oberschwingungen mit ganzzahlig vielfacher Frequenz zusammengesetzt.
Klanggemische entstehen aus mehreren einfachen Klängen. Da Töne und Klänge periodische Vorgänge sind, folgt, dass die Darbietungsdauer relativ groß gegenüber der Schwingungsdauer sein muss.
Wird der Schall nur kurz dargeboten, so spricht man von Schallimpulsen. Tonimpulse sind
Töne kurzer Dauer, unter Knall versteht man einen zweiseitigen Schallimpuls vornehmlich
großer Stärke. Rauschen ist ein Schallsignal statistischer Natur, bei dem nur ein kontinuierliches Spektrum angegeben werden kann. Bei weißem Rauschen ist die abgestrahlte Intensität pro Frequenzeinheit konstant, bei so genanntem rosa Rauschen ist die Intensität pro Frequenzeinheit umgekehrt proportional zur Frequenz. Beim Schmalbandrauschen wird die
akustische Leistung nur in einem schmalen Frequenzband abgegeben. Es wird heute als
bevorzugtes Vertäubungsgeräusch in der Audiometrie verwendet. Der Frequenzbereich des
menschlichen Hörvermögens - der Hörbereich - erstreckt sich von etwa 16 Hz bis zu 16 kHz
bei jugendlichen Versuchspersonen.
1.2.3
Schallpegel
Wahrnehmbare Schallintensitäten umfassen den riesigen Bereich von 10-12 W/m² (Hörschwelle) bis zu 10 W/m² (Schmerzgrenze). Dem entsprechen effektive Schalldrucke peff
von 20 mPa bis zu 60 Pa. Für derart große Intensitäts- bzw. Schalldruckbereiche ist es sinnvoll, eine logarithmische Skala zu verwenden, zumal das Gehör nach dem WEBERFECHNERschen Gesetz auch eine näherungsweise logarithmische Empfindlichkeit aufweist.
Aus diesem Grunde bildet man den Schallpegel, gemessen in Dezibel:
Schalldruckpegel:
L = 20 lg (peff/p0)
34
oder der
Schallintensitätspegel:
L = 10 lg (I/I0)
Schallintensitäts-
Schalldruck
in mPa
Schallpegel
in dB (A)
Geräuschquelle
Verhältnis bezogen auf
I0 = 1 pW/m²
100 000 000 000 000
200000
140
Bolzensetzwerkzeug
10 000 000 000 000
60000
130
Düsenflugzeug
Schmerzschwelle
1 000 000 000 000
20000
120
Propellermaschine
100 000 000 000
6000
110
Drucklufthammer
10 000 000 000
2000
100
Kreissäge
1 000 000 000
600
90
Schlagbohrmaschine
100 000 000
200
80
Lastkraftwagen
10 000 000
60
70
Personenwagen
1 000 000
20
60
Normales Gespräch
100 000
6
50
Ruhiger Büroarbeitsplatz
10 000
2
40
Leise Radiomusik
1 000
0,6
30
Flüstern
100
0,2
20
Ruhiger Raum
10
0,06
10
Blätterrauschen
1
0,02
0
Hörschwelle
Abb. 1.1: Bekannte Umweltgeräusche und ihre Schallpegel
Bezugsgrößen sind: p0= 20 mPa bzw. I0 = 1 pW/m², wobei 1 Pa = 1 N/m²»105kp/cm² ist.
Abb. 1.1 gibt Beispiele verschiedener Umweltgeräusche und ihrer Schallpegel.
Werden zwei unabhängige Schallquellen betrieben, so können die Einzel-Intensitäten addiert
und aus der Gesamtintensität der Gesamtschallpegel gebildet werden:
L1 = 10 lg (I1/I0); L2 = 10 lg (I2/I0)
Nach Delogarithmieren von L1 und L2 werden die Intensitätsverhältnisse I1/I0 =10 0,1L1 und
I2/I0 =10 0,1L2 addiert und der Gesamtpegel nach
L1+2
= 10 lg (10 0,1 L1 + 10 0,1L2)
berechnet (siehe auch Abb. 1.2).
35
Beispiel: zwei gleiche Maschinen L1 = L2 = L sollen nebeneinander betrieben werden;
L1+2 = 10 lg (10 0,1L1 + 10 0,1L2)
= 10 lg (2×10 0,1L) = L + 10×lg 2 = L + 3 dB.
Abb. 1.2: Diagramm zur Pegeladdition für zwei unabhängige Schallquellen
1.2.4
Abstandsgesetz für Hörweitenbestimmungen
Bei Vergrößerung des Abstandes zwischen punktförmigem Schallsender und Empfangsort
verringert sich der dort gemessene Schalldruckpegel. Im freien Schallfeld misst man eine
Abnahme des Schalldruckpegels um 6 dB je Abstandsverdoppelung und eine Zunahme des
Schalldruckpegels um 6 dB je Abstandshalbierung. In leicht halligen Untersuchungsräumen
und bei ausgedehnten Schallquellen kann diese Ab-/Zunahme wesentlich geringer sein.
1.2.5
Schallpegelmesser
Abb. 1.3 zeigt den prinzipiellen Aufbau von Schallpegelmessgeräten. Das Mikrofon wandelt
die Schalldruckänderung in eine elektrische Wechselspannung, diese wird verstärkt, mit externen oder internen Filtern bewertet, nachverstärkt, gleichgerichtet, logarithmiert und zur
Anzeige gebracht. Als Filter können z. B. Oktav- oder Terzfilter in den Signalfluss geschaltet
werden. Bei der Oktavpegelanalyse misst man die im Bereich aufeinander folgender Oktaven auftretenden Intensitäten. Bei der Terzpegelanalyse misst man die im Bereich der einzelnen 1/3-Oktaven auftretenden Intensitäten.
36
Abb. 1.3: Schaltung eines analogen (Brüel & Kjaer) und eines digitalen Schallpegelmessers
Da das menschliche Ohr bei niedrigen und hohen Frequenzen unempfindlicher als bei mittleren ist (siehe Abb. 1.29), also erst größere Schalldruckpegel wahrgenommen werden können, als z. B. solche bei 1 und 2 kHz, versucht man bei der Schallpegelmessung diese Frequenzabhängigkeit durch Bewertungsfilter anzunähern. Der A-bewertete Schalldruckpegel,
gemessen in dB(A) wird wie folgt gebildet: Der Schallpegelmesser zieht automatisch von
jedem Pegel bei jeder Frequenz den entsprechenden Dämpfungswert (siehe Abb. 1.4) ab
und zeigt den resultierenden Gesamtpegel an.
37
Abb. 1.4: Bewertungskurve A für Schallpegelmesser
Präzisionsschallpegelmesser sind mit unterschiedlichen Zeitbewertungen (Anzeigedynamiken) ausgerüstet:
·
Einstellung "Fast" (Schnell) oder ,,F" (kurze Integrationszeit bei der Bildung des Effektivwertes des Schalldruckes. Zeitkonstante t = 125 ms). Die Anzeige folgt raschen Pegeländerungen.
·
Einstellung "Slow" (Langsam) oder ,,S" (lange Integrationszeit, das Instrument ist
stark gedämpft, die Zeitkonstante beträgt 1 s).
·
Einstellung "Impuls" oder "I" (die Anstiegszeitkonstante der elektrischen Schaltung ist
der Trägheit des menschlichen Ohres nachgebildet und beträgt 35 ms. mit einer Zeitkostanten von 3 dB/s ist der Rücklauf verzögert).
Abb. 1.5:
Handschallpegelmesser, die für den Betriebsarzt für Übersichtsmessungen geeignet sind, [7]
Genauigkeitsklassen nach DIN/IEC 651 [1] für Schallmessgeräte:
Klasse 0:
Laborgerät mit sehr engen Fehlergrenzen
Klasse 1:
Präzisionsgerät für Labor und Betrieb bei hohen Anforderungen an die Messgenauigkeit
Klasse 2:
Gerät für Betriebsmessungen
Klasse 3:
Gerät für Orientierungsmessungen
38
Integrierende Schallpegelmesser:
Mit integrierenden Schallpegelmessern lässt sich für ein im Pegel schwankendes Geräusch
der über die Messzeit gemittelte Schalldruckpegel , der Mittelungspegel Lm, bestimmen. Wird
der Mittelungspegel mit der Zeitbewertung „Impuls“ gebildet, ergibt sich durch die unterschiedlichen Zeitkonstanten für Anstieg und Abfall bei der Messung von Impulsgeräuschen
ein Impulszuschlag KI = LmI - LmF gegenüber der Mittelung in "Fast" oder ,,Slow".
Auswahl eines Schallpegelmessers:
Für betriebliche Übersichtsmessungen werden integrierende Schallpegelmesser der Genauigkeitsklasse 2 empfohlen. Diese Geräte werden zu Preisen von ca. 600 bis 1500 Euro angeboten.
Die Anschaffung eines teuren Schallpegelmessers der Genauigkeitsklasse 1 (Kosten meist
über 3500 Euro) ist für Übersichtsmessungen nicht angemessen, [7].
1.2.6
Beurteilung von Schall - Tages-Lärmexpositionspegel
Lärm ist nach der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung Schall, der zu einer Beeinträchtigung des Hörvermögens oder zu einer sonstigen mittelbaren oder unmittelbaren Gefährdung von Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten führen kann. Lärmbedingte Hörverluste und Gehörschäden können auch auftreten, wenn der Tages-Lärmexpositionspegel
LEX,8h den Wert von 85 dB(A) über längere Zeiträume hinweg erreicht oder überschreitet.
Dieses Risiko steigt mit zunehmendem Pegelwert und der Anzahl der Lärmexpositionsjahre.
Hörverluste bzw. Gehörschäden können auch auftreten, wenn der Spitzenschalldruckpegel
LpC,peak den Wert von 137 dB(C) erreicht oder überschreitet (obere Auslösewerte).
Werden die Werte des Tages-Lärmexpositionspegels LEX,8h = 80 dB(A) und der Wert des
Spitzenschalldruckpegels LpC,peak = 135 dB(C) (untere Auslösewerte) überschritten, so können nach jahrelanger Exposition geringfügige lärmbedingte Hörminderungen nicht völlig
ausgeschlossen werden.
Arbeitet jemand 8 Stunden lang bei konstantem Lärm, so stimmt der TagesLärmexpositionspegel mit dem momentan gemessenen A-bewerteten Schalldruckpegel
überein. In allen übrigen Fällen wird der Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h nach folgender
Formel gebildet:
Te
LEX,8h = 10 lg [1/8h ∫ 100,1LAF(t)dt] in dB(A)
Ta
Ta und Te: Zeitpunkte für Anfang und Ende der Lärmbelastung.
Er umfasst alle am Arbeitsplatz auftretenden Schallereignisse.
Der Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h nach DIN 45645 Teil 2 [3] und Lärm- und VibrationsArbeitsschutzverordnung ist der A-bewertete, auf 8 Stunden bezogene, mit der Zeitbewertung "Fast" gemessene Mittelungspegel. Ein Impulszuschlag wird nicht berücksichtigt.
Einwirkdauer in h
Pegel in dB(A)
lntegrand
3
80
3
• 108
2
95
0,63
• 1010
1
100
1
• 1010
2
90
2
• 109
39
0,5
50
Insgesamt:
Abb. 1.6:
5
LEX,8h
• 104
= 94 dB(A)
Beispiel für die Berechnung des Tages-Lärmexpositionspegels bei zeitlich variierendem Lärm
Häufig stellt sich die Frage, ob eine kurzzeitige Exposition bei hohen Pegeln gehörschädlich
ist. Die folgende Tabelle gibt an, welche Pegel-Expositionszeitkombinationen jeweils einen
Tages-Lärmexpositionspegel von 85 dB(A) ergeben.
Schalldruckpegel für
85 dB(A) Tages-Lärmexpositionspegel
Abb. 1.7:
Einwirkzeit
85 dB(A)
8 Stunden
88 dB(A)
4 Stunden
91 dB(A)
2 Stunden
94 dB(A)
1 Stunde
97 dB(A)
30 Minuten
100 dB(A)
15 Minuten
103 dB(A)
7 Minuten 30 Sekunden
106 dB(A)
3 Minuten 45 Sekunden
Schalldruckpegel/Einwirkzeitkombinationen, die jeweils einen Tages-Lärmexpositionspegel von
85 dB(A) ergeben.
Bei konstantem Schalldruckpegel bewirkt die Halbierung der Einwirkzeit eine Abnahme des
Tages-Lärmexpositionspegels um 3 dB(A), s. Abb. 1.8.
Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h
Einwirkzeit von Lärm mit LAF = 100 dB(A)
100 dB(A)
8 Stunden
97 dB(A)
4 Stunden
94 dB(A)
2 Stunden
91 dB(A)
1 Stunde
88 dB(A)
30 Minuten
85 dB(A)
15 Minuten
82 dB(A)
7 Minuten 30 Sekunden
79 dB(A)
3 Minuten 45 Sekunden
Abb. 1.8: Verringerung der Einwirkzeit bei konstantem Lärm LAF von 100 dB(A)
40
Für die Beurteilung der Gefährdung durch Lärm und die daraus abzuleitenden Maßnahmen
sind der ermittelte Tages-Lärmexpositionspegel und der Spitzenschalldruckpegel entscheidend. Nach der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung umfasst der TagesLärmexpositionspegel zeitlich gemittelt alle Schallereignisse am Arbeitsplatz des Beschäftigten bezogen auf eine fiktive Achtstundenschicht. In vielen Fällen haben Beschäftigte ortsfeste Arbeitsplätze. Hier ist eine ortsbezogene Ermittlung des Tages-Lärmexpositionspegels
ausreichend. Bei Arbeitsplätzen mit verschiedenen Aufenthaltsbereichen bzw. Arbeitsorten
wird eine personenbezogene Ermittlung erforderlich.
Bei der Arbeitsplatz-Lärmanalyse für das Berufskrankheitsverfahren (BK-2301-Verfahren)
werden Tages-Lärmexpositionspegel für den einzelnen Betroffenen für möglichst alle Lärmsituationen seines Arbeitslebens rekonstruiert, um sein Gehörschädigungsrisiko durch Lärm
abschätzen zu können.
1.2.7
Orientierungsmessungen durch den Betriebsarzt
Die genaue Bestimmung des Tages-Lärmexpositionspegels als dem über den durchschnittlichen achtstündigen Arbeitstag gemittelten Schalldruckpegel [4] geht weit über den Rahmen
orientierender Messungen hinaus und ist im Allgemeinen nicht Aufgabe des Betriebsarztes.
Orientierende Schallpegelmessungen "vor Ort" sind jedoch hilfreich, erlauben sie es dem
Betriebsarzt doch, sich selbst ein Bild von der Lärmbelastung an einzelnen Arbeitsplätzen zu
machen und damit besonders gefährdete Beschäftigte zu erkennen [5].
Kalibrierung:
Vor jeder Messung ist das Schallmessgerät nach Anleitung des Herstellers zu kalibrieren
(Verwendung eines akustischen Kalibrators oder einer geräte-internen Bezugsspannung).
Messgeräte der Genauigkeitsklasse 3, die keine eigene Kalibriereinrichtung besitzen, sollten
zumindest regelmäßig durch eine Vergleichsmessung mit einem Messgerät der Klasse 1
oder 2 überprüft werden.
Mikrofonposition:
Zur Lärmmessung am Arbeitsplatz ist das Mikrofon in Ohrnähe des Beschäftigten zu halten
und in seine Blickrichtung zu richten. Da jede Person in Mikrofonnähe das Messergebnis
beeinflussen kann (Schallreflexion, Abschattung), sollte der Beschäftigte bei der Messung
möglichst ein paar Schritte zur Seite treten, wenn er sich nicht unbedingt an seinem Arbeitsplatz, z. B. zum Bedienen der Maschine, aufhalten muss.
Ablesen:
Bei impulsfreien Geräuschen mit gering schwankenden Pegeln lässt sich der A-bewertete
Schalldruckpegel mit einem Handschallpegelmesser in der Zeitbewertung „S" oder ,,F" direkt
ablesen. Falls der Zeigerausschlag dabei um bis zu 5 dB (A) schwankt, ist die Mitte des
Schwankungsbereichs als Mittelungspegel anzugeben. Bei impulshaltigen oder stärker
schwankenden Geräuschen ist dagegen die Verwendung eines integrierenden Schallpegelmessers zweckmäßig, um damit den zeitlich gemittelten A-Schalldruckpegel erfassen zu
können.
Durch Mittelung in der Zeitbewertung "S" oder "F" erhält man den energieäquivalenten Dauerschallpegel LAeq = LASrn = LAFm.
Berechnung des Tages-Lärmexpositionspegels:
Der Tages-Lärmexpositionspegel ist jeweils abhängig von der Höhe des Schallpegels und
der Dauer der Einwirkung (siehe oben). Der im Rahmen einer Betriebsbegehung durch kurzzeitige Messung bestimmte mittlere A-Schalldruckpegel erlaubt nur dann eine Verwendung
als Tages-Lärmexpositionspegel, wenn dabei die längerfristig typische Geräuschbelastung
für den achtstündigen Arbeitstag vorgelegen hat. Dies ist z. B. in einem größeren Websaal
anzunehmen, in dem die Maschinen den ganzen Tag im gleichen Betriebszustand laufen.
41
Falls sich die typische Arbeitsschicht aus mehreren Zeitabschnitten mit unterschiedlicher
Lärmbelastung zusammensetzt, sind zur Bestimmung des Tages-Lärmexpositionspegels
Messungen über die gesamte Arbeitszeit oder Messungen in einzelnen Teilzeiten und anschließende Pegelberechnungen unumgänglich.
1.2.8
Literatur
[1]
B&K Technical Review, no1, 1976
[2]
Zwicker, E. und R. Feldtkeller: Das Ohr als Nachrichtenempfänger. S. Hirzel Verlag,
Stuttgart (1967)
[3]
DIN ISO 226: Akustik – Normalkurven gleicher Lautstärkepegel (ISO 226:2003), Ausgabe 2006-04, Beuth Verlag, Berlin
[4]
DIN 45 631: Berechnung des Lautstärkepegels aus dem Geräuschspektrum - Verfahren nach E. ZWICKER. Ausgabe 1991-03, Beuth Verlag, Berlin
[5]
Reiss, Walkowiak, Zenner, Plinkert und Lehnhardt: Das stato-akustische Organ - Ein
Bildatlas zur Evolution, Physiologie und Morphologie. Duphar-Pharma, Hannover
(1989)
[6]
Keidel, W. (Hrsg.): Physiologie des Gehörs. Georg Thieme Verlag, Stuttgart (1975)
[7]
BIA-Handbuch: Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsschutz. Hrsg.: Berufsgenossenschaftliches Institut für Arbeitsschutz – BIA des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften; Beitrag: "Schallpegelmesser für betriebliche
Lärmmessungen, Anforderungen und Auswahl"; Erich Schmidt Verlag, 2. Auflage
2003
1.3
Anatomie und Physiologie des Hörorgans
Wolfhart Niemeyer
Im Folgenden wird die Anatomie und Physiologie des Hörorgans unter den Aspekten der
arbeitsmedizinischen Gehörvorsorge betrachtet.
42
Abb. 1.9:
1.3.1
Einteilung des Hörorgans und zugehörige Funktionen
(ohne zentrale Anteile, Hörschnecke vergrößert dargestellt), aus [7]
Äußeres Ohr
Zum äußeren Ohr gehören die Ohrmuschel und der äußere Gehörgang (klinisch: einschließlich des Trommelfellepithels).
Ohrmuschel
Funktion:
Ohrmuschel bewirkt richtungsabhängige Schallbildänderungen im oberen Frequenzbereich
[11], unterstützt Schallrichtungs-Erkennung in der Horizontalebene und komplettiert den
Rechts-Links-Eindruck in der Sagittalebene zum mehrdimensionalen räumlichen Hören:
Zentrale Verrechnung der Pegel- und Zeitdifferenzen zwischen rechts- und linksohrigem
Schallmuster; durch Ohrmuschel zusätzlich Vorn-Hinten-; in geringem Maße auch ObenUnten-Lokalisation. Diese Richtungserkennung in der Frontal- und Horizontalebene wird
durch Kapselgehörschützer weitgehend verhindert (Unsicherheitsgefühl im Raum, unbestimmtes Gefährdungsgefühl). Auch Gehörschutzstöpsel beeinträchtigen räumliches Hören,
da Ohrmuschel und Gehörgang akustisch zusammenwirken. Probanden darauf hinweisen,
dass Gewöhnung eintreten wird [8].
Äußerer Gehörgang
Länge ca. 30 mm, Höhe 8-11 mm, Breite 5-8 mm; interindividuell sehr unterschiedlich. Querschnitt meist ovalär, selten schmal-elliptisch, dann Einpassung zylindrischer Gehörschutzstöpsel problematisch. Verlauf leicht schraubig gewunden, flache Abknickung zwischen äußerem knorpelig-bindegewebigen und innerem knöchernen Anteil; fast gerade äußere Gehörgänge kommen vor mit erhöhter Gefahr von Trommelfellverletzungen und Fremdkörpereinflug (Schweißperlen).
43
Epithelauskleidung enthält Härchen mit ekkrinen Talgdrüsen und apokrine Knäueldrüsen.
Zerumen besteht aus deren Sekreten, Pigmenten, Hautschilfer, Staub- und Schmutzpartikeln
(beigemischter Metallstaub u. U. Hinweis auf nicht getragene Gehörschützer); wirkt antimikrobiell durch niedrigen pH-Wert, Fettsäuren im Sekret der Talgdrüsen und Lysozymgehalt
des Sekrets der Knäueldrüsen.
Zerumen im Gehörgang:
Kein Zeichen von Unsauberkeit, sondern von funktionierendem Selbstschutz des Epithels.
Zeruminalpfröpfe können durch das Einsetzen von Gehörschutzstöpseln im Lauf der Zeit bis
ans Trommelfell geschoben werden (Schmerzen, Hörminderung).
Germinationszentrum des Gehörgangsepithels in Trommelfellmitte. Von dort langsame
Epithelmigration zum Gehörgangseingang unter Mitnahme von Zerumen und anderen Auflagerungen, unerlässlicher Bestandteil des Selbstreinigungsmechanismus.
Epithel insbesondere im knöchernen Anteil sehr dünn, infolge fehlender Verschiebbarkeit
gegen Unterlage leicht verletzlich, überaus schmerzempfindlich. Verletzungen neigen zu
Infektionen. Deshalb Manipulationen im Gehörgang, vor allem instrumentelle Entfernung von
Zerumen oder Fremdkörpern, dem HNO-Arzt überlassen, der die unerlässlichen manuellen
Fertigkeiten durch jahrelange tägliche Übung erworben hat.
Haare (Tragi) im Gehörgangseingang:
Bei Männern ab 5. Lebensjahrzehnt bisweilen so stark ausgebildet, dass schalldichter Abschluss zwischen Gehörschutzstöpsel und Gehörgangswand gefährdet und otoskopische
Beurteilung von Gehörgangsepithel und Trommelfell erschwert.
Funktion:
Äußerer Gehörgang hat Eigenresonanz bei 2.5 -3 kHz (Resonanz bei 1/4 Wellenlänge: 30
mm · 4 = 0.12 m; 340 m (Schallgeschwindigkeit): 0.12 m = 2833 Hz), trägt wahrscheinlich
zum Konsonantenverstehen bei. Frequenzbereich 2-3 kHz für Prävention und Begutachtung
von Lärmhörverlusten bedeutsam: 40 dB Hörverlust für 3000 Hz belassen noch annähernd
normales Hörvermögen, 40 dB Hörverlust für 2000 Hz erfordern „Lärm III“ und können unter
bestimmten Voraussetzungen bereits eine rentenberechtigende Lärmschwerhörigkeit bedeuten [9], [1], [2], [8]. Resonanzbedingte Schallverstärkung bei 2-3 kHz im äußeren Gehörgang
wahrscheinlich eine der Ursachen der initialen Hochton-Hörsenke um 4-6 kHz bei Lärmhörschäden.
44
1.3.2
Abb. 1.10:
Mittelohr
Mittelohr (Ausschnitt) mit Schall-Leitungsapparat, Paukenhöhle und den Fenstern zum Innenohr,
aus [7]
Trommelfell-Gehörknöchelchen-System, Paukenhöhle, Ohrtube, Antrum mastoideum und
pneumatische Räume des Warzenfortsatzes und der Felsenbeinpyramide.
Trommelfell:
ovalär 9-10 · 7-8 mm flach trichterförmig, leicht nach vorn gedreht und nach vorn-außen geneigt. Stärke ca. 0,1 mm, im Bereich der Pars flaccida geringer. Folgt im Normalzustand den
Luftschallschwingungen widerstandsarm. Wenn frei von atrophischen Narben, ausreichende
Widerstandsfähigkeit gegenüber Wasserdruck bei sachgemäßer Zerumenspülung.
Gehörknöchelchenkette:
Hammer-Amboss-Steigbügel zwischen Trommelfell und Innenohr. Hammergriff am Umbo
(Trommelfellmitte) fest mit Trommelfell verwachsen. Steigbügel mit Fußplatte elastisch in
ovales Fenster der medialen Paukenhöhlenwand eingelassen, dahinter die Innenohrflüssigkeit (Perilymphe) des gemeinsamen Vorhofs von Hörschnecke und Ohrgleichgewichtsorgan.
Zweites Fenster - rundes Fenster - nur durch lockere Membran und Mukosa gegen Innenohr
abgedichtet. Hinter dem runden Fenster die Perilymphe der Scala tympani. Zwischen beiden
Schneckenfenstern der Knochenwulst des Promontoriums, vorgewölbt durch basale Schneckenwindung, wo hohe Frequenzen verarbeitet werden.
Mittelohrmuskeln:
M. tensor tympani (Innervation von motorischer Portion des N. V) inseriert am Hammergriff
innen oben, für Gehörvorsorge vernachlässigbar. M. stapedius (N. VII) inseriert am Steigbügelköpfchen; kleinster quergestreifter Muskel; für Gehörvorsorge bedeutsamer (Impedanzmessungen bei "LÄRM III", Gefahr der verminderten Lärmresistenz des Innenohres nach
Otosklerose-Op.) [8].
Paukenschleimhaut dünn, Mukoperiost, vielfach gefältelt, steht über Antrum mastoideum mit
Auskleidung der Warzenfortsatzzellen in Verbindung. Immunfunktionen, resorbiert Luft.
Ohrtube (Ohrtrompete, Tuba Eustachii) besorgt Luftnachschub zur Paukenhöhle - Voraussetzung für normales Schwingungsverhalten des Trommelfell-Gehörknöchelchen-Systems.
Funktion:
Anpassung der in den Gehörgang eingeleiteten Luftschallschwingungen an den größeren
Schallwellenwiderstand der Innenohrflüssigkeiten mittels
45
·
des trommelfelleigenen Verstärkungsmechanismus und
·
Konzentration der auf die große Trommelfläche auftreffenden Schallenergie auf die
kleine Fläche der Steigbügel-Fußplatte.
Die Hebelwirkung der Gehörknöchelchen - langer Hebelarm: Hammergriff, kurzer Hebelarm:
Ambossschenkel/Steigbügel – ist für die Schallverstärkung ohne praktische Bedeutung [3].
Im Mittelohr erfolgt eine Kraftverstärkung der Schallschwingungen etwa um das 22fache.
Reizanpassung nicht nur passiver Vorgang; Wirkungsgrad des TrommelfellGehörknöchelchen-Systems reflektorisch verstellbar durch Kontraktion des M. stapedius.
Impedanzänderungen am Trommelfell (d.h. Veränderungen seines Widerstandes gegen
Schallschwingungen) außerdem durch pathologische Anomalien des Mittelohres. Einzelheiten siehe Abschn. 3.5, Impedanzmessung am Trommelfell.
1.3.3
Innenohr
Kochlea (Schnecke, Hörschnecke) mit Perilymphräumen, Ductus cochlearis (Endolymphschlauch), Innenohrweichteilen (Hörsinneszellen, Stützzellen, Stria vascularis usw.);
Ganglion spirale. Innenohr kommuniziert mit Ohrgleichgewichtsorgan. Beide bilden das Labyrinth. Knochen der Labyrinthkapsel härteste Körpersubstanz nächst Zahnschmelz.
46
Abb. 1.11: Schema des Innenohr-Aufbaus, Teil I, aus [14]
Kochlea ca. 32 mm lang, Innen-Ø 1-1.5 mm, schneckenhausähnlich in 2 1/2 bis 2 3/4 Windungen um kegelförmige Spindel (Modiolus) verlaufend. Lumen durch Schneckentrennwand
längsgeteilt in 2 Halbrohre:
·
Scala vestibuli (vom gemeinsamen Vorhof für Ohrgleichgewichtsorgan und Kochlea
ausgehend; ovales Fenster mit Stapesfußplatte, s. o.) und
·
Scala tympani (vom runden Fenster ausgehend).
Beide in Nähe der Schneckenspitze durch (hörphysiologisch unbedeutendes) Helicotrema
verbunden.
47
Abb. 1.12: Schema des Innenohr-Aufbaus, Teil II, aus [14]
Schneckentrennwand gebildet
·
innen von Lamina spiralis ossea; Teil der Schneckenspindel; verschmälert sich von
Schneckenbasis zur Schneckenspitze hin,
·
außen von Lamia basilaris (Basilarmembran), zwischen freiem Rand der Lam. spir.
ossea und äußerer Wand des Kochlealumens; bindegewebig-elastisch, verbreitert sich von
Schneckenbasis zur Schneckenspitze hin. Trägt als Suprastruktur CORTI-Organ mit Hörsinneszellen und Stützzellen.
Perilymphräume (Scala vestibuli und Sc. tympani) sind erweiterte Interzellularspalten, die
sekundär hydrodynamische Funktionen, insbesondere bei der Reizverteilung (s. u.), übernommen haben.
Perilymphe:
Natriumreich, kaliumarm. z. T. Blutfiltrat, z. T. dem Liquor cerebrospinalis entstammend, dem
sie chemisch ähnelt. Steht mit Subarachnoidalraum und Lymphspalten der Paukenschleimhaut in Verbindung (Überleitung von Toxinen und Erregern möglich). Perilymphe gelangt von
Sc. tympani her durch Spalten der Basilarmembran ins CORTI-Organ ("CORTI-Lymphe")
und umspült dort die Hörsinneszellen, deren Nährsubstrat sie ist.
48
Abb. 1.13:
Schnitt durch eine Schneckenwindung. Die Spindel der Hörschnecke ist links zu denken, aus [13].
Ausschnitt siehe Abb. 1.14.
Ductus cochlearis (Schneckengang, Endolymphschlauch). Teil eines in sich abgeschlossenen Schlauchsystems innerhalb von Ohrgleichgewichtsorgan und Innenohr ("häutiges Labyrinth"). Querschnitt in Kochlea dreieckig; begrenzt von Suprastrukturen der Basilarmembran,
Außenwand der Kochlea mit dem Gefäßgeflecht der Stria vascularis und, gegen Scala vestibuli, von dünner REISSNER-Membran. Enthält die Endolymphe (kaliumreich, natriumarm),
von Stria vascularis produziert und teilweise auch resorbiert; Resorption mehrheitlich im
Saccus endolymphaticus (an Hinterwand der Felsenbeinpyramide). Resorptionsstörungen
der Endolymphe in Ohrgleichgewichtsorgan und Kochlea nach heutiger Lehrmeinung Ursache des M. Menière: Durch Alteration der Sinneszellen Symptomtrias Drehschwindel, Innenohrschwerhörigkeit, Ohrenrauschen (s. Untersuchungsbogen LÄRM II, unter "Anamnese"
Ziff. 4, s. Abschn. 2.2.1 (G20 Abschn. 2.1.1).
Abb. 1.14:
CORTI-Organ (Ausschnitt) auf der Basilarmembran, darüber die Tektorialmembran. Stützzellen
nicht mit dargestellt
49
CORTI-Organ:
Der Basilarmembran in ganzer Länge aufsitzender Zellwulst, enthält außer Stützelementen
die Hörsinneszellen (wegen ihrer Stereozilien, sog. Sinneshärchen, auch "Haarzellen").
Oberfläche durch Retikularmembran abgedichtet (Grenzfläche zwischen Perilymphe im
CORTI-Organ und Endolymphe im Ductus cochlearis), beim Hörvorgang Ionenaustausch.
Hörsinneszellen:
Jeseits ca. 16 000 - 21 000, an ca. 30 000 Hörnervenfasern angeschlossen. Empfindlichste
Mechanorezeptoren unseres Organismus. Zwei funktionell stark differente Kategorien, nach
ihrer Lage auf der Basilarmembran als äußere und innere Haarzellen bezeichnet, s. Abb.
1.14.
·
äußere Haarzellen:
Ca. 13 000 - 19 000, in 3-5 Reihen angeordnet, zylinderförmig. Gruppenweise mit ca. 3 000
Hörnervenfasern verbunden, reichliche efferente Versorgung. Enthalten kontraktile Proteine
und fungieren als motorische Hilfszellen, gewissermaßen als Miniaturmuskeln des Innenohres; führen auf akustische Anregung komplizierte Bewegungsmuster aus [10], [12]. Erzeugen
dabei winzige Geräusche im Innenohr, die über Gehörknöchel und Trommelfell in den Gehörgang abgestrahlt werden: Otoakustische Emissionen (s. Abschn. 1.3.5). Empfindlich gegen Noxen, mikromechanische und metabolische Überforderung (z. B. durch Zwang zur
Verarbeitung unbiologischer Schallmengen wie Arbeitslärm usw.); Degeneration der äußeren
Haarzellen ist pathologisches Hauptsubstrat der meisten sensorineuralen Schwerhörigkeiten
(auch der Lärmschwerhörigkeit) und damit des Großteils aller Schwerhörigkeiten überhaupt
[8].
·
innere Haarzellen:
Ca. 3 500, in einer Reihe angeordnet, birnenförmig. Mit ca. 27 000 Hörnervenfasern verbunden. Keine Eigenmotilität. Offenbar die eigentlichen sensorischen (Hör-)Zellen. Weniger
empfindlich als äußere Haarzellen, bleiben nach deren Ausfall oft funktionsfähig erhalten.
Membrana tectoria (Deckmembran) überwölbt von der Lam. spiralis ossea her das CORTIOrgan bis über die äußeren Haarzellen; deren Stereozilien inserieren an ihrer Unterfläche.
Blutversorgung des Innenohres aus A. labyrinthi. Für Hörsinneszellen die Kapillarschlingen
am Rand der Lam. spiralis ossea zuständig. Erreichen die Hörsinneszellen nicht, sondern
geben 02 usw. zunächst an Perilymphe der Scala tympani ab; erst von dort Diffusion ins
CORTI-Organ (vielleicht eine Erklärung der Anfälligkeit der Hörsinneszellen, besonders der
motorisch aktiven äußeren, für Hypoxie unter akustischer Überlastung).
Funktion des Innenohres:
Reizverteilung, Reiztransformation, Beginn der Erregungsfortleitung.
Reizverteilung:
Druck und Sog der Stapesbewegungen erzeugen entsprechende Flüssigkeitsverschiebungen im Innenohr, Ausgleich durch gegenläufige Bewegungen der Rundfenstermembran. Flüssigkeitsbewegungen erzwingen Auslenkungen der Basilarmenbran, die
sich als Wanderwelle von Schneckenbasis zur Schneckenspitze fortpflanzen; dabei starke
Abnahme der Wellengeschwindigkeit.
50
Abb. 1.15:
Entstehung der Wanderwelle entlang der Schneckentrennwand (Basilarmembran) durch Druckund Sogwirkung der Steigbügel-Fußplatte im ovalen Fenster. Druckausgleich durch gegenläufige
Bewegungen des runden Fensters,
aus [14]
Abb. 1.16:
Verformung des Schneckengangs (Ductus cochlearis, Endolymphschlauch) bei Auslenkungen der
Basilarmembran. Deckmembran (Tektorialmembran) und CORTI-Organ mit den Hörsinneszellen
werden gegeneinander verschoben; dadurch wechselnde Abbiegungen der Sinneshärchen (Stereozilien); dadurch Aktivierung der Hörsinneszellen („Haarzellen“), aus [14]
Ort der maximalen Auslenkung frequenzabhängig: Hohe Frequenzen in Basalwindung, mittlere in Mittelwindung, tiefe in Spitzenwindung „abgebildet". Verarbeitung von 4000-6000 Hz
(Bereich der initialen Hochtonsenke bei Lärmschwerhörigkeit) in ca. 10 mm Abstand von
Schneckenbasis.
Bei Hörverlusten, die „dauernde gesundheitliche Bedenken" nach G 20 Abschn. 2.1.1 indizieren, sind die äußeren Haarzellen in halber Schneckenlänge weitgehend ausgefallen (schon
die aus geringeren Haarzellverlusten resultierenden, nach G 20 noch hinnehmbaren Hörminderungen disqualifizieren übrigens für eine Reihe technischer und künstlerischtechnischer Berufe).
51
Abb. 1.17: Reizverteilung, d.h. „Abbildung“ der Frequenzverarbeitung entlang der Schnecke
Äußere Haarzellen verschärfen durch aktive Motilität die Auslenkungen der Basilarmembran
und erhöhen damit das Frequenzunterscheidungsvermögen [10]; bei Ausfall der äußeren
Haarzellen folglich nicht nur Hörverluste von bis zu 40-60 dB, sondern auch Verschlechterung der überschwelligen Hörfunktionen; Einzelheiten, s. Abschn. 4.4.
Abb. 1.18:
52
Effekt der äußeren Haarzellen. Ihre Motorik verstärkt und verschärft die Auslenkungen der Basilarmembran. Auslenkungen stark überhöht dargestellt, in Wirklichkeit liegen sie im Mikrometer- und
Nanometer-Bereich. Anregung mit 2 kHz, aus [10]
Reiztransformation:
Auslenkungen der Basilarmembran verformen den Ductus cochlearis. Dadurch (nach noch
geltender, aber umstrittener Lehrmeinung) Querverschiebungen zwischen Deckmembran
und Oberfläche des CORTI-Organs mit Verbiegung der Stereozilien. Diese löst als "Triggerreiz" Erregung der Hörsinneszellen aus.
Bei geringeren Reizstärken (bis ca. 60 dB) verstärken äußere Haarzellen die Auslenkungen
der Basilarmembran und setzen innere Haarzellen dadurch instand, leisen und mittellauten
Schall zu verarbeiten [10]. Einzelheiten des Zusammenspiels von äußeren und inneren
Haarzellen noch ungesichert.
Otoakustische Emissionen:
Motorische Aktivität der äußeren Haarzellen produziert als Nebenprodukt Schallschwingungen, die vom Innenohr über das Mittelohr in den äußeren Gehörgang abgestrahlt, dort mit
empfindlichen Mikrofonen aufgenommen und rechnergestützt als Kurvenzug dargestellt werden können [4], [5]. Neues Verfahren der objektiven Hördiagnostik, in der Paedaudiologie
bereits benutzt; noch ungeklärt, ob für arbeitsmedizinische Gehörvorsorge verwendbar.
Hörsinneszellen geben mehr Energie ab, als sie aufnehmen; transformieren also nicht nur
Schwingungen der Innenohrflüssigkeit bzw. Auslenkungen der Sinneshärchen in körpereigene, chemisch-bioelektrische Erregung, sondern fungieren auch als Verstärker, wozu Sinneszellmetabolismus beiträgt - illustriert dessen Empfindlichkeit gegen akustische Überforderung, z. B. durch Arbeitslärm.
Beginn der Erregungsfortleitung:
Hörsinneszellen übertragen Erregung auf die ca. 30 000 Dendriten der bipolaren Ganglienzellen des Ganglion spirale cochleae (zu über 90% an innere Haarzellen angeschlossen).
Die Neuriten bilden den Hörnerven (Pars cochlearis des N. statoacusticus).
Kodierung:
Abhängig von der jeweiligen Schallfrequenz werden die von den maximal erregten Hörsinneszellen ausgehenden Hörnervenfasern aktiviert: Ortskodierung der Reizfrequenz. Die
Schallstärke ist in der Entladungsfrequenz repräsentiert: Zeitkodierung der Reizstärke.
Hören über Knochenleitung:
Aufsetzen des schwingenden Stimmgabelstiels oder Audiometer-Knochenleitungshörers auf
Schädelknochen versetzt diesen in erzwungene Mitschwingungen: "Knochenschall". Knochen guter Schallleiter, nur geringer Intensitätsverlust bei Schallausbreitung im Schädel. Daher beide Innenohren, unabhängig von Platzierung des Knochenschallsenders (in der praktischen Audiometrie linkes oder rechtes Mastoid), fast mit gleicher Intensität erreicht. Schallleitungsapparat im Mittelohr wird umgangen, d.h. Knochenleitungs-Hörschwelle unabhängig
von etwaiger Schallleitungsstörung; ermöglicht selektive Prüfung der Innenohrleistung (Knochenleitungs-Audiometrie).
Schallschwingungen des Schädelknochens komprimieren und dekomprimieren auch Labyrinth mit Kochlea. Dabei führen das stark massenbelastete ovale Fenster (Gehörknöchel und
Trommelfell) und das wenig massenbelastete runde Fenster (nur Rundfenstermembran) gegensinnige Ausgleichsbewegungen aus und induzieren entsprechende Auslenkungen der
Basilarmembran mit frequenzabhängiger Reizverteilung. Durch Knochenschall mithin annähernd gleiche mechanische Anregung des Innenohres wie durch luftschallinduzierte Stapesbewegungen. Sprache und Musik über Knochenleitung einwandfrei übertragbar (Knochenleitungs-Hörgeräte bei Schallleitungs-Schwerhörigkeit infolge schwerer Außen/Mittelohrfehlbildung oder wenn Luftleitungs-Hörgerät aus anderen Gründen nicht getragen
werden kann). Ein Teil des Knochenschalls wird in Luft des Gehörgangs und der Paukenhöhle abgestrahlt, dadurch ggf. zusätzliche Schallübertragung über TrommelfellGehörknöchelchen-System (osteotympanaler Knochenschall).
53
Nicht nur Knochenschallsender, auch auftreffende Luftschallwellen versetzen Schädelknochen in schallsynchrone Schwingungen. Diese jedoch infolge großen SchallwellenWiderstandes des Schädels so schwach, dass Hörschwelle des Innenohres über Knochenleitung erst mit Luftschall von 50-60 dB erreicht. Bei Verwendung üblicher AudiometerLuftleitungskopfhörer folglich keine stärkere Luft-Knochenleitungs-Differenz als 50 dB, unter
bestimmten Voraussetzungen von 60 dB, im Audiogramm möglich.
1.3.4
Hörnerv
Die Neuriten der Spiralganglienzellen treten durch die Area cochleae der Lamina cribrosa in
den inneren Gehörgang ein, verlaufen in diesem als Hörnerv gemeinsam mit Pars vestibularis des N. statoacusticus, N. facialis und Labyrinthgefäßen durch die Felsenbeinpyramide;
enden in den Kochleariskernen im Hirnstamm (erstes Neuron).
Funktion:
Erregungsfortleitung vom Innenohr zum ZNS. Die in Sekundenbruchteilen wechselnden
Kombinationen von
·
gleichzeitig oder nacheinander aktivierten Hörnervenfasern und Fasergruppen mit
·
unterschiedlichen Aktionspotential-Frequenzen in den erregten Fasern
ergeben eine unübersehbare Zahl möglicher Erregungsmuster.
1.3.5
Zentrale Hörbahnen und Hörzentren
Zweites Neuron von den Kochleariskernen mehrheitlich zu oberen Olivenkomplexen beider
Seiten, teilweise zu den unteren Vierhügeln der Gegenseite; drittes Neuron zum mittleren
Kniehöcker, viertes zur HESCHLschen Windung des Schläfenlappens (primäre Hörrinde).
Mehrfache Kreuzungen. Sekundäre und tertiäre Hörrindenareale.
Funktion der zentralen Hörbahnen und Hörzentren:
Erregungsverarbeitung, Bewusstwerden des Hörerlebnisses. Weniger als ein Fünftel des
Hörsystems werden von Außen-, Mittel-, Innenohr und Hörnerv gebildet, mehr als vier Fünftel vom ZNS. Beim Menschen von Lärmschädigung nicht betroffen; Funktionen jedoch bedeutsam für objektive Hördiagnostik im Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren (HNOBegutachtung), insbesondere wenn
·
Proband nicht kooperiert (Aggravation, Simulation, psychogene Überlagerung der
organischen Schwerhörigkeit), und
·
konventionelle Tonschwellen- und überschwellige Audiometrie keine zuverlässige
Differenzierung von Sinneszell- und Hörnerven-Komponente der Schwerhörigkeit ermöglichen.
Objektive Audiometrie:
Sammelbezeichnung für hördiagnostische Verfahren, die - im Gegensatz zur konventionellen
psychoakustischen Audiometrie - ohne willentliche Kooperation des Probanden auskommen
[4]. Für Prävention und Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit bedeutsam:
Otoakustische Emissionen:
Die bei der motorischen Aktivität der äußeren Haarzellen entstehenden Schallschwingungen
können im äußeren Gehörgang mit Spezialmikrofonen aufgenommen und rechnergestützt
als Kurvenzug dargestellt werden. Wichtiges Verfahren in der Pädaudiologie und u. a. für die
Differentialdiagnose der schallempfindungsbedingten (sensorineuralen) Schwerhörigkeiten:
Unterscheidung zwischen kochleärer („Innenohr-Haarzell-“) und Hörnerven-Schwerhörigkeit
[5]. Bei der Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit vor allem in Zweifelsfällen unerlässlich,
auch bei Verdacht auf Aggravation oder Simulation; ob für arbeitsmedizinische Gehörvorsorge verwendbar, derzeit noch ungeklärt.
54
Akustischer Stapediusreflex:
Prüfung als Teil der Impedanzmessungen am Trommelfell. Bei „Lärm III“ verwendet zum
Ausschluss einer Schallleitungsstörung und zur Differenzierung von Haarzell- und Hörnervenschwerhörigkeit.
Potentialaudiometrie:
Die von der Kochlea zum Kortex fortgeleiteten Hörbahnpotentiale überlagern elektrische
Spontanaktivität des Kortex (EEG) und können wie diese mit Schädelelektroden abgegriffen
werden, sind ihr gegenüber aber sehr schwach. Registrierung daher rechnergestützt mittels
Mittelwertbildung, Autokorrelation usw.
Frühe (Hirnstamm-)Potentiale lassen z. B. Verzögerung der Erregungsfortleitung im Hörnerven erkennen; grobe Differenzierung von Tiefton-, Mittelton- und Hochton-Hörverlusten.
Späte (kortikale) Potentiale ermöglichen Frequenz für Frequenz eine näherungsweise Bestimmung der Hörschwelle bei Aggravanten.
Reflexaudiometrie:
Spezifische Hörbahn mit vegetativen und motorischen Zentren verknüpft. Dadurch mannigfache reflektorische Reaktionen auf Schall: Auropalpebraler Reflex (Lidschluss), MOROSchreckreflex (Zusammenzucken), Hautwiderstandsänderung durch vermehrte Schweißsekretion, vasomotorische Reaktion usw., vor allem für Hördiagnostik bei nicht kooperierenden
Kleinkindern verwendbar. In arbeitsmedizinischer Gehörvorsorge werden die durch reflektorische Kontraktion der Mittelohrmuskeln bewirkten Impedanzänderungen am Trommelfell
benutzt, also der oben erwähnte akustische Stapediusreflex.
1.3.6
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
[13]
[14]
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55
1.4
Akustische Grundlagen II: Hörphysiologie
Bodo H. Pfeiffer
1.4.1
Äußeres Ohr, Mittelohr und Innenohr
Anhand des Schemas des menschlichen Hörsystems von Per V. Brüel [1] in Abb. 1.19 sollen
einige Eigenschaften des äußeren Ohres, des Mittel- und Innenohres erläutert werden.
Abb. 1.19: Wirkungsweise des äußeren Ohres, Mittel- und Innenohres
(Schematischer Aufbau des Gehörs)
Das Äußere Ohr in Abb. 1.19 und Abb. 1.24, bestehend aus Ohrmuschel und äußerem Gehörgang, sorgt durch seine akustische Resonanz bei ungefähr 4 kHz (Abb. 1.20) für eine
gesteigerte Empfindlichkeit des normalhörenden Ohres in diesem Frequenzbereich. Je nach
Einfallswinkel des Schalls (vorn-hinten oder unten-oben) verändert die Ohrmuschel als frequenzabhängiges Filter das Klangbild und ermöglicht daher für bekannte Schalle die Vornhinten-Ortung und die Zuordnung oben-unten, womit erst das räumliche Hören möglich wird.
Abb. 1.20: Amplitudengang des äußeren Ohres
Die Gehörknöchelchenkette des Mittelohres (Hammer, Amboss, Steigbügel), gekennzeichnet
durch den Hebelmechanismus in Abb. 1.21, überträgt nicht alle Frequenzen gleichmäßig auf
das ovale Fenster in die Hörschnecke. Das Flächenverhältnis (Trommelfell/Ovales Fenster)
und die Gehörknöchelchenkette bewirken eine Druckverstärkung, die den Übergang von den
Luftdruckschwingungen auf die Flüssigkeitsschwingungen im Innenohr erleichtert. Der Sta56
pediusmuskel kann durch Kontraktion die Steifigkeit des Übertragungssystems im Mittelohr
erhöhen. Die reflektorische Kontraktion wird über den nervus facialis bei höheren Schallpegeln ab etwa 75 dB ausgelöst; die damit verbundene Impedanzänderung des Ohres erreicht
ihr Maximum bei Schallpegeln von 90 - 95 dB. Der Stapediusreflex verringert die Empfindlichkeit des Gehörs bei tieferen Frequenzen unter 1500 Hz bis 1800 Hz. Das Innenohr wird
daher durch den Stapediusreflex bei höheren Frequenzen nicht geschützt, aber das Nachschwingen (Klirren) des Mittelohrapparates bei hohen Schallpegeln wird unterdrückt.
Abb. 1.21: Amplitudengang des Mittelohres
Die Druckschwankungen im Schallfeld lösen eine kolbenartige oder kippende Bewegung des
Steigbügels im ovalen Fenster aus, wodurch die Perilymphe in der Scala vestibuli in Bewegung gerät (Abb. 1.25). Die Volumenänderung wird durch Schwingungen des runden Fensters in der Skala tympani ausgeglichen. Die Flüssigkeitsverschiebungen lösen nun Schwingungen der Basilarmembran mit dem Endolymph-Schlauch aus. Diese Wanderwellen auf der
Basilarmembran laufen nun vom basalen Ende der Schnecke in Richtung Helicotrema. Je
nach Frequenz der akustischen Anregung wird in der Hörschnecke (Abb. 1.19) zu einer Geraden aufgerollt) ortsabhängig eine maximale Auslenkung der Basilar-Membran bewirkt
(Abb. 1.22). Die hohen Frequenzen führen zu einer maximalen Auslenkung in der Nähe des
ovalen Fensters, die tiefen Frequenzen werden dagegen in der Nähe der Schneckenspitze,
des Helicotrema, abgebildet.
mm
Abb. 1.22:
Orte maximaler Auslenkung der Basilarmembran in Abhängigkeit von der Frequenz des Schalls
57
Abb. 1.23: Schnitt durch das Corti-Organ
In den inneren Haarzellen wird mit Hilfe der aktiven, äußeren Haarzellen (Abb. 1.23 und Abb.
1.27) im Cortischen Organ (Abb. 1.26) die ortsabhängig unterschiedlich starke Auslenkung
der Basilarmembran in entsprechende Nervenimpulse umgesetzt, wobei mit wachsender
Auslenkung die Folgefrequenz der Nervenimpulse zunimmt. Die so frequenzanalysierten
Signale werden auf parallelen Nervenleitungen dem Gehirn zugeführt, die komplexe retrocochleäre Signalverarbeitung bleibt bei dieser sehr vereinfachenden Darstellung unberücksichtigt.
58
Abb. 1.24:
Gliederung des Ohres - Äußeres Ohr, Mittel- und Innenohr
(schematische Darstellung, nicht maßstabgerecht)
Abb. 1.25: Cochlea (schematisch dargestellt, nicht maßstabgerecht)
59
Abb. 1.26:
Schnitt durch das Corti'sche Organ
(schematische Darstellung, nicht maßstabgerecht)
Abb. 1.27:
Die Wirkungsweise der aktiven äußeren Haarzellen auf die Perzeptionsleistung der inneren Haarzellen ist noch weitgehend unbekannt. 95% der afferenten Nervenfasern führen zu den inneren
Haarzellen, lediglich etwa 5% zu den äußeren. IHZ: innere Haarzellen, ÄHZ: äußere Haarzellen,
DZ: Deiterzellen (Stützfunktion), TCF: tunnel crossing fibers (efferente Fasern). Aus [5].
60
Abb. 1.28:
1.4.2
Blick auf das Corti-Organ in der Basalwindung der Hörschnecke: Beim Meerschweinchen drei Reihen äußerer Haarzellen stehen einer Reihe innerer Haarzellen gegenüber, aus [5]. Beim Menschen
sind dies 4-5 Reihen äußerer Haarzellen.
Hören über Knochenleitung
Beim Hören über Knochenleitung werden die auf den Schädelknochen übertragenen Druckschwankungen in Knochenschall gewandelt, der dann das Felsenbein mit der eingeschlossenen Hörschnecke komprimiert und dekomprimiert. Wegen der verschiedenen akustischen
Widerstände an ovalem und rundem Fenster verformen sich beide Fenster verschieden
stark, wodurch wieder eine dem Hören über Luftleitung entsprechende Auslenkung der Basilar-Membran angeregt wird. Zusätzlich erzeugt der Knochenschall im Paukenraum den
sogenannten osteo-tympanalen Schall (Luftschall), der nun über Hammer-AmbossSteigbügel auch auf das Innenohr wirkt. Mit dem Knochenleitungshörer wird der sonst übliche Schallweg über das Mittelohr weitgehend umgangen.
1.4.3
Hörfeld
In Abb. 1.29 ist die Hörfläche des menschlichen Ohres dargestellt. Die untere Berandung
zeigt die Hörschwelle, die als Mittelwert einer Vielzahl von Messungen an otologisch normalen Personen gewonnen wurde. Aufgetragen ist der Schalldruckpegel für binaurales Hören
im freien Schallfeld. Die obere Berandungskurve bei Schallpegeln um 120 dB ist die sogenannte Schmerzschwelle, bei der über die Mechanorezeptoren im Trommelfell und im äußeren Gehörgang die hohen Wechseldrucke als schmerzhaft wahrgenommen werden. Unter
der Schmerzschwelle liegt die so genannte Unbehaglichkeitsschwelle, eine Warnschwelle für
unphysiologisch hohe Schallbelastungen. Weiterhin sind eingezeichnet das Sprachfeld und
der Bereich der musikalischen Informationen. Hörminderungen im Sprachfeld führen zur Einschränkung der akustischen Kommunikationsfähigkeit (soziales Sprachgehör).
61
Abb. 1.29: Das menschliche Hörfeld
1.4.4
Hörverlustdarstellung
Bei der Schalldruckpegel-Darstellung (wie in Abb. 1.29) wird als gemeinsame Bezugsgröße
für alle Frequenzen ein Bezugsschalldruck po von 20 µPa oder die Bezugsschallintensität Io
= 1 pW/m2 verwendet. Die Hörschwelle ist damit, wie in Abb. 1.30 dargestellt, eine "durchhängende" Kurve. Bezieht man bei der Reintonaudiometrie die für einen Höreindruck eben
notwendigen Schalldrucke auf die genormte, aus vielen Messungen an normalhörenden
Personen gemittelte Hörschwelle, so kommt man zur so genannten Hörverlustdarstellung
oder auch zur relativen Darstellung (frequenzabhängige Bezugswerte). Wie Abb. 1.31 zeigt,
trägt man die Schallpegel nach unten wachsend und die Frequenz wieder im logarithmischen
Maßstab als Abszisse auf. Ist bei der Hörprüfung ein größerer Pegel als "normal" notwendig,
um eine Hörwahrnehmung bei Probanden zu erzielen, ergibt dies Abweichungen nach unten
zu größeren Hörverlusten. Hört die Versuchsperson besser als das Normkollektiv im Mittel,
so ist der Hörverlust negativ und es ergeben sich Abweichungen nach oben. Normale Hörleistung entspricht einer Hörschwelle ungefähr auf der Nulllinie.
62
Abb. 1.30:
1.4.5
Streubereich der Hörschwellen bei normalhörenden, jungen Versuchspersonen in der Schalldruckpegel-Darstellung aus [2].
Lautstärkepegel
Die Angabe des A-bewerteten Schalldruckpegels eines Schalls, z. B. eines Signals, ermöglicht trotz der Hörschwelle nachempfundenen A-Bewertung keinen Schluss auf die Lautstärkeempfindung, die bei der Wahrnehmung des Signals zu erwarten ist. Der Lautstärkepegel
wird in phon angegeben und durch Lautstärkevergleich des zu beurteilenden Schalls mit einem gleichlaut empfundenen 1000-Hz-Ton ermittelt. Betrachten wir für Töne die Kurven gleicher Lautheit in Abb. 1.32, so ist z. B. ein Ton von 80 dB bei 1kHz gleichlaut mit einem 85dB-Ton bei 100 Hz. Dieser 100-Hz-Ton ist somit 80 phon "laut". Für breitbandige Geräusche
gibt es ein Berechnungsverfahren nach ZWICKER [4] in DIN 45 631 zur Ermittlung des Lautstärke-Pegels für stationäre Geräusche. Für fluktuierende und impulshaltige Geräusche ist
die Lautheit noch nicht modellhaft vorhersagbar.
Abb. 1.31:
Audiogrammformular nach DIN 45 627 für die Hörverlustdarstellung aus dem Untersuchungsbogen
"LÄRM II"
63
Abb. 1.32:
1.4.6
Hörschwelle und Kurven gleicher Lautheit im freien Schallfeld bei beidohrigem Hören aus [3]
Verdeckung
Wird mit einem Reinton-Prüfsignal gleichzeitig z. B. ein Schmalband-Rauschsignal dargeboten (Abb. 1.33), so verschiebt sich je nach Pegel und Frequenzlage des Rauschsignals die
gemessene Hörschwelle für den Sinuston. In diesem Fall wird die Hörschwelle unter Mithören eines anderen Schalls bestimmt, eine so genannte Mithörschwelle. Abb. 1.33 zeigt, dass
z. B. ein Schmalbandgeräusch von 160 Hz Bandbreite mit der Mittenfrequenz 1 kHz und einem Schalldruckpegel von 60 dB 1-kHz-Prüftöne bis zu einem Pegel von 56 dB verdeckt.
Schmalbandgeräusche heben die Mithörschwelle in einem größeren Frequenzbereich an, als
es ihrer Bandbreite (Abb. 1.33 und Abb. 1.34) entspricht.
Verdeckungseffekte sind in der Vorsorgeaudiometrie von zweifacher Bedeutung:
·
der Verdeckungseffekt wird für die Maskierung übergehörter Prüftöne bei der so genannten "Vertäubung" genutzt und
·
unerwünschter Störschall im audiometrischen Untersuchungsraum kann die leisen
Prüftöne bei der Schwellenaudiometrie verdecken, wodurch falsche, zu große Hörverluste
vorgetäuscht werden.
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Abb. 1.33:
Mithörschwellen eines reinen Sinustones, verdeckt durch Schmalbandrauschen, aus [2]
Abb. 1.34:
Mithörschwellen eines Tones bei Verdeckung durch Schmalbandrauschen mit verschiedenen Mittenfrequenzen,
aus [2]
1.4.7
Literatur
[1]
Brüel, P. V.: Noise! Do we measure it correctly? Brüel&Kjaer, Naerum (1975)
[2]
Zwicker, E. und R. Feldtkeller: Das Ohr als Nachrichtenempfänger. S. Hirzel Verlag,
Stuttgart (1967)
[3]
DIN ISO 226: Akustik – Normalkurven gleicher Lautstärkepegel (ISO 226:2003), Ausgabe 2006-04 Beuth Verlag, Berlin
[4]
DIN 45 631: Berechnung des Lautstärkepegels aus dem Geräuschspektrum - Verfahren nach E. ZWICKER. Ausgabe 1991-03, Beuth Verlag, Berlin
[5]
Reiss, Walkowiak, Zenner, Plinkert und Lehnhardt: Das stato-akustische Organ - Ein
Bildatlas zur Evolution, Physiologie und Morphologie. Duphar-Pharma, Hannover
(1989)
[6]
Keidel, W. (Hrsg.): Physiologie des Gehörs. Georg Thieme Verlag, Stuttgart (1975)
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