9 Manie - beck

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Manie
Peter Neu
Fallbeispiel
Eine 50-jährige Professorin für Literaturwissenschaften wird nach Einweisung des Hausarztes
in die Klinik aufgenommen. Sie leidet an einer
langjährigen Bipolar-I-Erkrankung mit bisher 4
depressiven und 2 manischen Phasen. Sie hatte
vor 6 Monaten ihre Medikamente nach einem
Aufenthalt in Indien abgesetzt. Eine sie begleitende Freundin berichtet, dass sie seit einigen Wochen fahrig und unkonzentriert wirke. Sie habe
die Freundin immer öfter nachts angerufen, um
belanglose Dinge mit ihr zu besprechen. Von ihren
Nachbarn habe sie bereits Anzeigen bei der Polizei erhalten, da sie sich immer sehr lärmend und
laut verhalte und einmal einen Wasserschaden
verursacht habe, weil ihre Badewanne übergelaufen war. Auch am Arbeitsplatz in der Universität
benehme sie sich auffällig. In ihren Vorlesungen
rede sie sehr schnell und sprunghaft und halte
sich gar nicht mehr an ihr Vorlesungsthema, sondern verfalle in immer andere neue Themengebiete. Auch habe sie dem Dekan der Universität aufdringliche Avancen gemacht, sodass sie bereits
eine Abmahnung erhalten habe. Sie habe in der
letzten Zeit große Summen Geldes ausgegeben.
So habe sie auf einer Auktion ein Rennpferd
ersteigert, obwohl sie noch nicht einmal reiten
könne. Bei der Aufnahme präsentiert sich eine
deutlich antriebsgesteigerte Patientin mit im Wesentlichen gehobener Stimmung, die aber auch
teilweise dysphorisch-gereizt ist. Sie bleibt im
Aufnahmegespräch nur kurz sitzen und läuft dann
auf der Station umher, geht in die Zimmer anderer
Patienten und verwickelt diese in Gespräche. Sie
hat keine Krankheitseinsicht und lehnt eine weitere Untersuchung und Behandlung kategorisch
ab. Die Patientin ist mit 0,8 ‰ alkoholintoxikiert.
9.1 Diagnose- und
Entscheidungsalgorithmus
Wie auch bei anderen Erkrankungen sollten
Sie sich in dem oben genannten Beispielfall
zunächst darauf konzentrieren, die zu ergänzen. Aufgrund des phasenhaften Krankheitsverlaufes gelingt es Patienten mit einer Manie oder bipolaren Störung meist besser als
Patienten beispielsweise mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer Schizophrenie, sich sozial zu etablieren bzw. nach
einer erfolgreich behandelten Krankheitsepisode sich wieder in ihre alten sozialen und
beruflichen Strukturen zu begeben. Dies hat
für Ihre Diagnostik einen wichtigen Umstand zur Folge. Sie werden als behandelnder
Arzt sehr viel leichter und umfassender eine
Fremdanamnese erhalten, als dies z. B. bei
vielen an einer Schizophrenie Erkrankten der
Fall ist. Was die direkte Untersuchung eines
Patienten mit einer Manie angeht, so wird
sie ebenfalls mitunter leichter sein als bei
einer Schizophrenie, da die Patienten krankheitsbedingt eher geneigt sind, den Kontakt zu
anderen Menschen zu suchen. Insofern ist
eine Exploration zwar anspruchsvoll, weil es
schwierig sein wird, eine Linie zu halten, an
Kontaktbereitschaft mangelt es jedoch meistens nicht.
Auch die notwendigen Zusatzuntersuchungen können, ähnlich wie bei schizophrenen
Patienten, unter Umständen schwer zu beschaffen sein, da die Patienten z. B. eine Blutuntersuchung ablehnen können, weil sie mei-
9.1 Diagnose- und Entscheidungsalgorithmus
nen, so etwas nicht zu brauchen, da sie ja nicht
krank sind.
Wenn Sie sich einen befriedigenden Überblick
über die Diagnose verschafft haben, gilt es
wiederum zu entscheiden, ein Klinikaufenthalt und eine Behandlung auch gegen den
Willen des Patienten ist oder nicht. Insbesondere bei leichter ausgeprägten Manien ist dies
nicht immer einfach zu entscheiden. Zwar ist
es im Allgemeinen offensichtlich, dass eine
Krankheit vorliegt, aber dies impliziert nicht
notwendigerweise, dass der Patient gegen seinen Willen im Krankenhaus bleiben muss.
Selbst wenn einer Person dadurch Nachteile
drohen, hat sie das Recht, sich gegen eine Behandlung zu entscheiden. Gerade bei einer
Manie kann es sehr schwierig sein, die Nachteile, die einem Patienten durch die Erkrankung entstehen, zu quantifizieren, da die Grenzen zwischen exzentrischem und pathologischem Verhalten fließend sein können und die
sozialen, finanziellen und persönlichen Folgen
nicht immer klar abzuschätzen sind.
Sehr häufig wird man als Arzt vor der Situation stehen, dass z. B. die zu Recht verzweifelten Angehörigen massiv darauf drängen, eine
Aufnahme und Behandlung durchzuführen,
und mit Unverständnis und Empörung reagieren, wenn der Arzt den Patienten wieder
nach Hause entlässt, weil die ärztlichen Entscheidungskriterien mitunter nun einmal
andere sind als die der Angehörigen (zum
Problem der medizinethischen Aspekte der
Therapieentscheidung s. Kap. 18). In unserem
Beispielfall fällt die Entscheidung für eine Behandlung relativ leicht, da die sozialen, beruflichen und finanziellen Schäden, die durch die
Krankheit angerichtet werden, so ausgeprägt
sind, dass man im Sinne der Patientin tätig
werden muss.
Als nächsten Schritt müssen Sie allerdings
zunächst wiederum die Rechtsgrundlage für
eine Behandlung bzw. schaffen. Eine Unterbringung nach Psychischkrankengesetz (PsychKG)
wird im Beispielfall nicht möglich sein, da
eine akute Gefahr für Leib und Leben der Patientin oder ihrer Umgebung trotz der ausge-
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Diagnostik ergänzen
Entscheidung treffen,
ob weitere Behandlung indiziert ist oder nicht
Rechtsgrundlage feststellen bzw. schaffen
Behandlungskonzept festlegen
(medikamentös und nichtmedikamentös)
Behandlung und Stabilisierung
Nachbehandlung, Krankheitsaufklärung
und -bewältigung, Etablieren eines Notfallplans
für zukünftige Phasen
Abb. 9-1 Diagnose- und Entscheidungsalgorithmus bei
der Manie
prägten Symptome nicht erkennbar ist. Es
kommt daher nur ein Antrag auf Eilbetreuung
nach Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) verbunden mit einem Behandlungsauftrag infrage. Dieser Antrag muss beim zuständigen Vormundschaftsgericht gestellt werden. Wir gehen auf die Details hierzu im Kapitel 17 ein.
Gleichzeitig müssen Sie aufgrund der Rechtslage im vorliegenden Beispielfall aber zunächst einmal wieder kontraintuitiv handeln:
Solange die Rechtsgrundlage nicht geschaffen
ist, müssen Sie die Patientin, wenn sie dies verlangt, wieder nach Hause entlassen, obwohl
absehbar ist, dass die Schwierigkeiten, in die
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9 Manie
sie durch die Erkrankung geraten ist, zunehmen werden. Dennoch ist die Rechtslage eindeutig: Eine Unterbringung nach PsychKG
wird eher nicht erfolgen können, da eine akute
Eigen- oder Fremdgefährdung nicht klar erkennbar ist. Es müsste also unbedingt eine Eilbetreuung erfolgen, die aber möglicherweise
erst mit einigen Tagen Verzögerung gerichtlich
beschlossen wird. Bis dahin müsste die Patientin auf Wunsch nach Hause geschickt werden.
Wenn hingegen die Entscheidung gefallen ist,
dass eine Behandlung stationär erfolgen soll,
und wenn die rechtlichen Voraussetzungen
hierfür geschaffen wurden, geht es darum, ein
Behandlungskonzept. Bei der Manie liegt,
anders als bei z. B. depressiven oder schizophrenen Erkrankungen, der Schwerpunkt zumindest der Akutbehandlung eindeutig auf
der medikamentösen Therapie. Zunächst sollten Sie dem Patienten den so dringend benötigten Schlaf ermöglichen und die Antriebssteigerung beherrschen.
Der Diagnose- und Entscheidungsalgorithmus ist noch einmal in Abbildung 9-1 zusammengefasst.
9.2.1 Parenteral applizierbare
Substanzen
Typische Antipsychotika
Wir führen die typischen Antipsychotika hier
nur kurz aus, weil deren Einsatz in der Manie
zu den Ausnahmefällen gehören sollte. Früher
zählten typische Antipsychotika zur Standardbehandlung der Manie, auch wenn keine psychotischen Symptome vorlagen. Dies ist heute
obsolet. Patienten mit manischen Erkrankungen beschreiben die Wirkung von typischen
Antipsychotika als sehr unangenehm, und es
stehen heute besser verträgliche Mittel mit
gleich guter Wirksamkeit zur Verfügung. Die
einzige noch existierende Indikation von typischen Antipsychotika ist eine Manie mit psychotischen Symptomen, bei der gleichzeitig
eine parenterale Behandlung notwendig ist.
Einzig das unten aufgeführte Zuclopenthixol
hat aufgrund der guten sedierenden und die
Erregung hemmenden Eigenschaften seinen
Einsatzbereich auch in nichtpsychotischen
Krankheitsphasen.
9.2 Medikamentöse
Therapie
Für eine bessere Übersicht unterscheiden wir
im Folgenden wieder zwischen parenteral und
oral applizierbaren Substanzen. Tabelle 9-1
stellt die zugelassenen Substanzen für die Manie dar. Wir weisen auch hier nochmals darauf
hin, dass die Besprechung der Psychopharmaka kein Lehrbuch der Psychopharmakologie
ersetzen soll und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern sie beschränkt
sich auf die Situation der Akutstation. Wenn
eine Empfehlung für oder gegen eine Substanz
ausgesprochen wird, bedeutet dies keine Bewertung für andere Indikationsgebiete außerhalb der Akutstation.
Haloperidol i.m. oder i.v.: Dosierung:
Eine Tagesdosis von 5−15 mg sollte nur in begründeten Ausnahmefällen überschritten wer-
Tab. 9-1 Manie – Zulassungsstatus von Substanzen
laut Fachinformation
Aripiprazol
Lithium
Zyprexa
Valproinsäure
Carbamazepin
Lamotrigin
Risperidon
Quetiapin
Ziprasidon
Akuttherapie
Phasenprophylaxe
+
+
+
+
–
–
+
+
+
+
+
+
+
+
–
–
–
–
+ = zugelassen für die Indikation; – = nicht zugelassen
für die Indikation
9.2 Medikamentöse Therapie
den. Bei Patienten über 65 Jahren ist die Hälfte
empfehlenswert. Nebenwirkungen und Interaktionen: Extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen (EPMS) , kardiale Nebenwirkungen (v.a. QTc-Verlängerungen) möglich,
malignes neuroleptisches Syndrom, Nebenwirkungsgefahr steigt mit der Dosis. Bewertung für die Akutstation: Sehr gut akut
wirksames Antipsychotikum, sollte jedoch nur
bei Manien mit zusätzlichen psychotischen
Symptomen angewendet werden und wenn
eine parenterale Gabe notwendig ist. Gefahr
von unerwünschten Arzneimittelwirkungen
können minimiert werden durch Gabe von
nicht zu hohen Dosen und Begrenzung der
Einsatzdauer.
i.m.: Dosierung: Je nach
Körpergewicht und Konstitution. Grobe Orientierung: 60−70 kg Körpergewicht: 50 mg i.m.;
70−80 kg Körpergewicht: 75 mg i.m.; 80−
100 kg Körpergewicht: 100 mg i.m.; >100 kg
Körpergewicht: 150 mg i.m. Nebenwirkungen und Interaktionen: Orthostatische Dysregulation und Sedierung (Kreislaufkontrolle!).
Bewertung für die Akutstation: Depotwirkung für 2−3 Tage. Für die Beherrschung von
längeren Erregungszuständen sehr gut geeignet. Für die Behandlung der Manie auf der
Akutstation derzeit unverzichtbar. Bei Patienten über 65 Jahren sollte der Einsatz wegen der
Kreislaufnebenwirkungen nur in begründeten
Ausnahmefällen und in niedriger Dosierung
erfolgen. Cave: Die maximale Wirkung wird
nach 36 Stunden erreicht und steigt bis dahin
kontinuierlich an. Das bedeutet, dass die erste
klinisch relevante Wirkung erst etwa 3−5 Stunden nach Applikation zu erwarten ist. Bei akuten Erregungszuständen muss daher gegebenenfalls z. B. mit einem parenteral applizierten
Benzodiazepin kombiniert werden.
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gegeben werden, über 24 Stunden sind bis
zu 3 Injektionen möglich, eine Höchstdosis
von 30 mg darf nicht überschritten werden.
Nebenwirkungen und Interaktionen: Eine
Kombination mit Benzodiazepinen ist möglich. Als Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen,
Übelkeit, Agitiertheit, Schlaflosigkeit, Akathisie und Parkinsonismus möglich; nur geringe
Sedierung oder Gewichtszunahme. Bewertung für die Akutstation: Selbst wenn erlaubte
Kombination mit Benzodiazepinen geringere
Einschränkungen auferlegt, so ist doch die
zwingende i.m.-Applikation eher selten, denn
für akute manische Zustände gibt es bisher
wenig klinische Erfahrung. Daher wird man
eher in der subakuten Phase auf die orale Applikation zurückgreifen.
Zuclopenthixol
Atypische Antipsychotika
Aripiprazol i.m.:
Dosierung: 9,75 mg,
eine zweite Injektion kann nach 2 Stunden
Olanzapin i.m.: Dosierung: Empfohlene
Initialdosis 10 mg, eine zweite sollte erst nach
2 Stunden gegeben werden. Die empfohlene
Höchstdosis für 24 Stunden beträgt 20 mg in
höchstens 3 Injektionen. Nebenwirkungen
und Interaktionen: Kontraindikation bei bestehender Demenz, Morbus Parkinson oder
dem Risiko eines Engwinkelglaukoms. Keine
Kombination mit parenteral verabreichten
Benzodiazepinen, da in diesem Fall vital bedrohliche Herzkreislaufwirkungen beschrieben
sind. Bewertung für die Akutstation: Die
oben genannten Interaktionen und Kontraindikationen beschränken die intramuskuläre
Applikationsform auf wenige Ausnahmefälle.
Im Falle einer zwingenden parenteralen Gabe
ist eine Co-Medikation auch von Benzodiazepinen häufig nötig, aber hier kontraindiziert.
Die i.m.-Applikationsform von Olanzapin ist
daher in den seltenen Fällen zu erwägen, wenn
ein Patient zu keiner regelmäßigen oralen Einnahme in der Lage, aber die Krankheitssituation so weit beherrscht ist, dass weitere parenterale Medikamente nicht notwendig sind.
Ziprasidon
i.m.:
Dosierung:
Einzeldosis
10−20 mg, Tagesdosis bis 40 mg. Nebenwirkungen und Interaktionen: Gelegentlich Kopfschmerzen, Schwindel, Verstopfung, Übelkeit.
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