86 9 Manie Peter Neu Fallbeispiel Eine 50-jährige Professorin für Literaturwissenschaften wird nach Einweisung des Hausarztes in die Klinik aufgenommen. Sie leidet an einer langjährigen Bipolar-I-Erkrankung mit bisher 4 depressiven und 2 manischen Phasen. Sie hatte vor 6 Monaten ihre Medikamente nach einem Aufenthalt in Indien abgesetzt. Eine sie begleitende Freundin berichtet, dass sie seit einigen Wochen fahrig und unkonzentriert wirke. Sie habe die Freundin immer öfter nachts angerufen, um belanglose Dinge mit ihr zu besprechen. Von ihren Nachbarn habe sie bereits Anzeigen bei der Polizei erhalten, da sie sich immer sehr lärmend und laut verhalte und einmal einen Wasserschaden verursacht habe, weil ihre Badewanne übergelaufen war. Auch am Arbeitsplatz in der Universität benehme sie sich auffällig. In ihren Vorlesungen rede sie sehr schnell und sprunghaft und halte sich gar nicht mehr an ihr Vorlesungsthema, sondern verfalle in immer andere neue Themengebiete. Auch habe sie dem Dekan der Universität aufdringliche Avancen gemacht, sodass sie bereits eine Abmahnung erhalten habe. Sie habe in der letzten Zeit große Summen Geldes ausgegeben. So habe sie auf einer Auktion ein Rennpferd ersteigert, obwohl sie noch nicht einmal reiten könne. Bei der Aufnahme präsentiert sich eine deutlich antriebsgesteigerte Patientin mit im Wesentlichen gehobener Stimmung, die aber auch teilweise dysphorisch-gereizt ist. Sie bleibt im Aufnahmegespräch nur kurz sitzen und läuft dann auf der Station umher, geht in die Zimmer anderer Patienten und verwickelt diese in Gespräche. Sie hat keine Krankheitseinsicht und lehnt eine weitere Untersuchung und Behandlung kategorisch ab. Die Patientin ist mit 0,8 ‰ alkoholintoxikiert. 9.1 Diagnose- und Entscheidungsalgorithmus Wie auch bei anderen Erkrankungen sollten Sie sich in dem oben genannten Beispielfall zunächst darauf konzentrieren, die zu ergänzen. Aufgrund des phasenhaften Krankheitsverlaufes gelingt es Patienten mit einer Manie oder bipolaren Störung meist besser als Patienten beispielsweise mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer Schizophrenie, sich sozial zu etablieren bzw. nach einer erfolgreich behandelten Krankheitsepisode sich wieder in ihre alten sozialen und beruflichen Strukturen zu begeben. Dies hat für Ihre Diagnostik einen wichtigen Umstand zur Folge. Sie werden als behandelnder Arzt sehr viel leichter und umfassender eine Fremdanamnese erhalten, als dies z. B. bei vielen an einer Schizophrenie Erkrankten der Fall ist. Was die direkte Untersuchung eines Patienten mit einer Manie angeht, so wird sie ebenfalls mitunter leichter sein als bei einer Schizophrenie, da die Patienten krankheitsbedingt eher geneigt sind, den Kontakt zu anderen Menschen zu suchen. Insofern ist eine Exploration zwar anspruchsvoll, weil es schwierig sein wird, eine Linie zu halten, an Kontaktbereitschaft mangelt es jedoch meistens nicht. Auch die notwendigen Zusatzuntersuchungen können, ähnlich wie bei schizophrenen Patienten, unter Umständen schwer zu beschaffen sein, da die Patienten z. B. eine Blutuntersuchung ablehnen können, weil sie mei- 9.1 Diagnose- und Entscheidungsalgorithmus nen, so etwas nicht zu brauchen, da sie ja nicht krank sind. Wenn Sie sich einen befriedigenden Überblick über die Diagnose verschafft haben, gilt es wiederum zu entscheiden, ein Klinikaufenthalt und eine Behandlung auch gegen den Willen des Patienten ist oder nicht. Insbesondere bei leichter ausgeprägten Manien ist dies nicht immer einfach zu entscheiden. Zwar ist es im Allgemeinen offensichtlich, dass eine Krankheit vorliegt, aber dies impliziert nicht notwendigerweise, dass der Patient gegen seinen Willen im Krankenhaus bleiben muss. Selbst wenn einer Person dadurch Nachteile drohen, hat sie das Recht, sich gegen eine Behandlung zu entscheiden. Gerade bei einer Manie kann es sehr schwierig sein, die Nachteile, die einem Patienten durch die Erkrankung entstehen, zu quantifizieren, da die Grenzen zwischen exzentrischem und pathologischem Verhalten fließend sein können und die sozialen, finanziellen und persönlichen Folgen nicht immer klar abzuschätzen sind. Sehr häufig wird man als Arzt vor der Situation stehen, dass z. B. die zu Recht verzweifelten Angehörigen massiv darauf drängen, eine Aufnahme und Behandlung durchzuführen, und mit Unverständnis und Empörung reagieren, wenn der Arzt den Patienten wieder nach Hause entlässt, weil die ärztlichen Entscheidungskriterien mitunter nun einmal andere sind als die der Angehörigen (zum Problem der medizinethischen Aspekte der Therapieentscheidung s. Kap. 18). In unserem Beispielfall fällt die Entscheidung für eine Behandlung relativ leicht, da die sozialen, beruflichen und finanziellen Schäden, die durch die Krankheit angerichtet werden, so ausgeprägt sind, dass man im Sinne der Patientin tätig werden muss. Als nächsten Schritt müssen Sie allerdings zunächst wiederum die Rechtsgrundlage für eine Behandlung bzw. schaffen. Eine Unterbringung nach Psychischkrankengesetz (PsychKG) wird im Beispielfall nicht möglich sein, da eine akute Gefahr für Leib und Leben der Patientin oder ihrer Umgebung trotz der ausge- 87 Diagnostik ergänzen Entscheidung treffen, ob weitere Behandlung indiziert ist oder nicht Rechtsgrundlage feststellen bzw. schaffen Behandlungskonzept festlegen (medikamentös und nichtmedikamentös) Behandlung und Stabilisierung Nachbehandlung, Krankheitsaufklärung und -bewältigung, Etablieren eines Notfallplans für zukünftige Phasen Abb. 9-1 Diagnose- und Entscheidungsalgorithmus bei der Manie prägten Symptome nicht erkennbar ist. Es kommt daher nur ein Antrag auf Eilbetreuung nach Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) verbunden mit einem Behandlungsauftrag infrage. Dieser Antrag muss beim zuständigen Vormundschaftsgericht gestellt werden. Wir gehen auf die Details hierzu im Kapitel 17 ein. Gleichzeitig müssen Sie aufgrund der Rechtslage im vorliegenden Beispielfall aber zunächst einmal wieder kontraintuitiv handeln: Solange die Rechtsgrundlage nicht geschaffen ist, müssen Sie die Patientin, wenn sie dies verlangt, wieder nach Hause entlassen, obwohl absehbar ist, dass die Schwierigkeiten, in die 88 9 Manie sie durch die Erkrankung geraten ist, zunehmen werden. Dennoch ist die Rechtslage eindeutig: Eine Unterbringung nach PsychKG wird eher nicht erfolgen können, da eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung nicht klar erkennbar ist. Es müsste also unbedingt eine Eilbetreuung erfolgen, die aber möglicherweise erst mit einigen Tagen Verzögerung gerichtlich beschlossen wird. Bis dahin müsste die Patientin auf Wunsch nach Hause geschickt werden. Wenn hingegen die Entscheidung gefallen ist, dass eine Behandlung stationär erfolgen soll, und wenn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür geschaffen wurden, geht es darum, ein Behandlungskonzept. Bei der Manie liegt, anders als bei z. B. depressiven oder schizophrenen Erkrankungen, der Schwerpunkt zumindest der Akutbehandlung eindeutig auf der medikamentösen Therapie. Zunächst sollten Sie dem Patienten den so dringend benötigten Schlaf ermöglichen und die Antriebssteigerung beherrschen. Der Diagnose- und Entscheidungsalgorithmus ist noch einmal in Abbildung 9-1 zusammengefasst. 9.2.1 Parenteral applizierbare Substanzen Typische Antipsychotika Wir führen die typischen Antipsychotika hier nur kurz aus, weil deren Einsatz in der Manie zu den Ausnahmefällen gehören sollte. Früher zählten typische Antipsychotika zur Standardbehandlung der Manie, auch wenn keine psychotischen Symptome vorlagen. Dies ist heute obsolet. Patienten mit manischen Erkrankungen beschreiben die Wirkung von typischen Antipsychotika als sehr unangenehm, und es stehen heute besser verträgliche Mittel mit gleich guter Wirksamkeit zur Verfügung. Die einzige noch existierende Indikation von typischen Antipsychotika ist eine Manie mit psychotischen Symptomen, bei der gleichzeitig eine parenterale Behandlung notwendig ist. Einzig das unten aufgeführte Zuclopenthixol hat aufgrund der guten sedierenden und die Erregung hemmenden Eigenschaften seinen Einsatzbereich auch in nichtpsychotischen Krankheitsphasen. 9.2 Medikamentöse Therapie Für eine bessere Übersicht unterscheiden wir im Folgenden wieder zwischen parenteral und oral applizierbaren Substanzen. Tabelle 9-1 stellt die zugelassenen Substanzen für die Manie dar. Wir weisen auch hier nochmals darauf hin, dass die Besprechung der Psychopharmaka kein Lehrbuch der Psychopharmakologie ersetzen soll und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern sie beschränkt sich auf die Situation der Akutstation. Wenn eine Empfehlung für oder gegen eine Substanz ausgesprochen wird, bedeutet dies keine Bewertung für andere Indikationsgebiete außerhalb der Akutstation. Haloperidol i.m. oder i.v.: Dosierung: Eine Tagesdosis von 5−15 mg sollte nur in begründeten Ausnahmefällen überschritten wer- Tab. 9-1 Manie – Zulassungsstatus von Substanzen laut Fachinformation Aripiprazol Lithium Zyprexa Valproinsäure Carbamazepin Lamotrigin Risperidon Quetiapin Ziprasidon Akuttherapie Phasenprophylaxe + + + + – – + + + + + + + + – – – – + = zugelassen für die Indikation; – = nicht zugelassen für die Indikation 9.2 Medikamentöse Therapie den. Bei Patienten über 65 Jahren ist die Hälfte empfehlenswert. Nebenwirkungen und Interaktionen: Extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen (EPMS) , kardiale Nebenwirkungen (v.a. QTc-Verlängerungen) möglich, malignes neuroleptisches Syndrom, Nebenwirkungsgefahr steigt mit der Dosis. Bewertung für die Akutstation: Sehr gut akut wirksames Antipsychotikum, sollte jedoch nur bei Manien mit zusätzlichen psychotischen Symptomen angewendet werden und wenn eine parenterale Gabe notwendig ist. Gefahr von unerwünschten Arzneimittelwirkungen können minimiert werden durch Gabe von nicht zu hohen Dosen und Begrenzung der Einsatzdauer. i.m.: Dosierung: Je nach Körpergewicht und Konstitution. Grobe Orientierung: 60−70 kg Körpergewicht: 50 mg i.m.; 70−80 kg Körpergewicht: 75 mg i.m.; 80− 100 kg Körpergewicht: 100 mg i.m.; >100 kg Körpergewicht: 150 mg i.m. Nebenwirkungen und Interaktionen: Orthostatische Dysregulation und Sedierung (Kreislaufkontrolle!). Bewertung für die Akutstation: Depotwirkung für 2−3 Tage. Für die Beherrschung von längeren Erregungszuständen sehr gut geeignet. Für die Behandlung der Manie auf der Akutstation derzeit unverzichtbar. Bei Patienten über 65 Jahren sollte der Einsatz wegen der Kreislaufnebenwirkungen nur in begründeten Ausnahmefällen und in niedriger Dosierung erfolgen. Cave: Die maximale Wirkung wird nach 36 Stunden erreicht und steigt bis dahin kontinuierlich an. Das bedeutet, dass die erste klinisch relevante Wirkung erst etwa 3−5 Stunden nach Applikation zu erwarten ist. Bei akuten Erregungszuständen muss daher gegebenenfalls z. B. mit einem parenteral applizierten Benzodiazepin kombiniert werden. 89 gegeben werden, über 24 Stunden sind bis zu 3 Injektionen möglich, eine Höchstdosis von 30 mg darf nicht überschritten werden. Nebenwirkungen und Interaktionen: Eine Kombination mit Benzodiazepinen ist möglich. Als Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Agitiertheit, Schlaflosigkeit, Akathisie und Parkinsonismus möglich; nur geringe Sedierung oder Gewichtszunahme. Bewertung für die Akutstation: Selbst wenn erlaubte Kombination mit Benzodiazepinen geringere Einschränkungen auferlegt, so ist doch die zwingende i.m.-Applikation eher selten, denn für akute manische Zustände gibt es bisher wenig klinische Erfahrung. Daher wird man eher in der subakuten Phase auf die orale Applikation zurückgreifen. Zuclopenthixol Atypische Antipsychotika Aripiprazol i.m.: Dosierung: 9,75 mg, eine zweite Injektion kann nach 2 Stunden Olanzapin i.m.: Dosierung: Empfohlene Initialdosis 10 mg, eine zweite sollte erst nach 2 Stunden gegeben werden. Die empfohlene Höchstdosis für 24 Stunden beträgt 20 mg in höchstens 3 Injektionen. Nebenwirkungen und Interaktionen: Kontraindikation bei bestehender Demenz, Morbus Parkinson oder dem Risiko eines Engwinkelglaukoms. Keine Kombination mit parenteral verabreichten Benzodiazepinen, da in diesem Fall vital bedrohliche Herzkreislaufwirkungen beschrieben sind. Bewertung für die Akutstation: Die oben genannten Interaktionen und Kontraindikationen beschränken die intramuskuläre Applikationsform auf wenige Ausnahmefälle. Im Falle einer zwingenden parenteralen Gabe ist eine Co-Medikation auch von Benzodiazepinen häufig nötig, aber hier kontraindiziert. Die i.m.-Applikationsform von Olanzapin ist daher in den seltenen Fällen zu erwägen, wenn ein Patient zu keiner regelmäßigen oralen Einnahme in der Lage, aber die Krankheitssituation so weit beherrscht ist, dass weitere parenterale Medikamente nicht notwendig sind. Ziprasidon i.m.: Dosierung: Einzeldosis 10−20 mg, Tagesdosis bis 40 mg. Nebenwirkungen und Interaktionen: Gelegentlich Kopfschmerzen, Schwindel, Verstopfung, Übelkeit.