Sonderdruck aus Heft 12/2015 Wie smarte produkte ­unternehmen verändern Von Michael E. Porter und James E. Heppelmann STRATEGIEN ORGANISATION 2 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 ILLUSTRATIONEN: CHRIS LABROOY DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 3 STRATEGIEN ORGANISATION 4 n das Internet angeschlossene Thermostate steuern immer mehr Geräte im Haus und übertragen Nutzungsdaten an die Hersteller. Miteinander vernetzte Industriemaschinen koordinieren und optimieren selbstständig Arbeitsabläufe. Autos melden ihren Herstellern allerhand Daten über den laufenden Betrieb, ihren Aufenthaltsort und ihre Umgebung. Softwareupdates steigern die Leistung und warnen vor drohenden Problemen. Der Entwicklungsprozess eines Produkts endet heute nicht mehr mit der Markteinführung: Immer häufiger beginnt nach dem Verkauf ein kontinuierlicher, zeitlich nicht begrenzter Datenaustausch zwischen dem Hersteller, seinen Produkten und den Kunden. In unserem ersten Beitrag zu diesem Thema („Wie smarte Produkte den Wettbewerb verändern“, Harvard Business Manager, Dezember 2014) haben wir die unternehmensexternen Auswirkungen beleuchtet und detailliert dargestellt, welche Veränderungen sich für Wettbewerb, Branchenstrukturen, Branchengrenzen und Strategie ergeben (siehe Kasten Seite 11). Im aktuellen Beitrag untersuchen wir die internen Auswirkungen und zeigen, wie smarte Produkte in Fertigungsbetrieben praktisch jede Unternehmensfunktion grundlegend verändern. Die Kernbereiche Produktentwicklung, IT, Fertigung, Logistik, Marketing, Vertrieb und Aftersales werden neu definiert und durch engere Koordination verbunden. Daneben entstehen völlig neue Funktionen, unter anderem um die enormen Datenmengen zu verwalten, die inzwischen anfallen. All das wirkt sich erheblich auf die klassische Organisationsstruktur von Fertigungsunternehmen aus. Was wir momentan erleben, ist der vielleicht tiefgreifendste Wandel im Fertigungssektor seit der zweiten industriellen Revolution vor mehr als 100 Jahren. A zwischen Produkt und Cloud, dem externen Betriebssystem des Produkts). Die neuartigen Produkte erfordern eine völlig neue, mehrstufige Technologieinfrastruktur. Dieser sogenannte Technology Stack ermöglicht den Datenaustausch zwischen Produkt und Nutzer und integriert Daten von Unternehmenssystemen, externen Quellen sowie anderen verwandten Produkten. Er fungiert außerdem als Plattform für die Speicherung und Analyse von Daten, hostet Anwendungen und gewährleistet den Zugang zu Produkten und den Daten, die sie aussenden und empfangen (siehe Grafik Seite 7). Diese Infrastruktur ermöglicht außergewöhnliche neue Produktmerkmale, die sich in vier Gruppen gliedern lassen. Erstens können die Produkte sich selbst und ihr Umfeld überwachen und liefern so Erkenntnisse über ihre Leistung und Anwendung. Zweitens können die Nutzer komplexe Produktaufgaben aus der Ferne steuern; ihnen stehen dafür verschiedene Wege zur Verfügung. Sie können daher in bisher nicht gekanntem Ausmaß die Funktionen, die Leistung und die Bedienoberfläche von Produkten individuellen Anforderungen anpassen und die Geräte in gefährlichen oder schwer zugänglichen Bereichen einsetzen. Drittens ermöglicht die Kombination aus Überwachung und Fernsteuerung neue Formen der Optimierung. Mit Algorithmen lassen sich Leistung, Auslastung, Verfügbarkeit und das Zusammenspiel von Produkten in vernetzten Systemen wie Wohnungen (Smart Homes) oder landwirtschaftlichen Betrieben (Smart Farms) optimieren. Das Zusammenspiel aus Datenkontrolle, Fernsteuerung und Optimierung ermöglicht schließlich eine vierte neue Merkmalsgruppe: die Automatisierung. Produkte können lernen, sich ihrem Umfeld und den Präferenzen der Nutzer anzupassen, sich selbst zu warten und auch selbstständig zu arbeiten. WAS DIE NEUEN PRODUKTE KÖNNEN DAS NEUE FERTIGUNGSUNTERNEHMEN Um zu begreifen, wie intelligente, vernetzte Produkte die Arbeitsweise von Unternehmen verändern, müssen wir zunächst ihre Komponenten, ihre Technologie und ihre Fähigkeiten verstehen. Damit haben wir uns in unserem ersten Beitrag befasst. Die Erkenntnisse lassen sich so zusammenfassen: Alle smarten Produkte, von Haushaltsgeräten bis zu Industriemaschinen, umfassen drei Kernelemente: physische Komponenten (wie mechanische und elektronische Bauteile), intelligente Komponenten (Sensoren, Mikroprozessoren, Datenspeicher, Steuerungselemente, Software, ein integriertes Betriebssystem und eine digitale Bedienoberfläche) und Vernetzungskomponenten (Schnittstellen, Antennen, Protokolle sowie Netzwerke. Letztere ermöglichen die Kommunikation Bis ein Produkt beim Kunden ist, werden in Fabriken eine Menge Tätigkeiten erledigt, die sich in der Regel in die typischen Unternehmensfunktionen gliedern: Forschung und Entwicklung (oder Engineering), IT, Fertigung, Logistik, Marketing, Vertrieb, Aftersales-Service, Personalwesen, Beschaffung und Finanzen. Die neuen Fähigkeiten smarter Produkte verändern jeden einzelnen Job dieser Wertschöpfungskette. Im Kern dieser Veränderung stehen Daten. HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 DAS PRODUKT ALS NEUE DATENQUELLE Früher entstanden Daten in erster Linie durch interne Abläufe und durch Transaktionen entlang der Wertschöpfungskette – Auftragsbearbeitung, Lieferantenbeziehungen, Verkaufstransaktionen, Kundendienst- besuche und so weiter. Die dabei gesammelten Informationen ergänzten die Unternehmen um Daten, die sie aus Umfragen, Marktforschungen und anderen externen Quellen gewannen. Das lieferte Erkenntnisse über Kunden, Nachfrage und Kosten, aber kaum über die Funktionsweise von Produkten. Das Definieren und Analysieren der Daten lief dezentral und isoliert in den unterschiedlichen Unternehmensfunktionen ab. Gelegentlich tauschten sich die Bereiche untereinander aus, zum Beispiel wenn das Ersatzteilmanagement Informationen aus dem Vertrieb nutzte, solche Kooperationen blieben aber sporadisch. Jetzt werden diese traditionellen Datenquellen zum ersten Mal um eine neue Ressource ergänzt: das Produkt selbst. Intelligente, vernetzte Geräte können laufend Informationen bereitstellen, die es in dieser Vielfalt und in diesem Umfang bisher nicht gab. Personal, Technologie und Kapital waren früher die wichtigsten Güter eines Unternehmens. In diesen Kreis sind jetzt auch die Daten aufgestiegen, in vielen Betrieben entwickeln sie sich vielleicht sogar zum entscheidenden Faktor. Die neuen Produktdaten sind schon für sich genommen wertvoll, aber ihr Nutzen steigt exponentiell, wenn sie mit anderen Daten kombiniert werden, zum Beispiel mit der Wartungshistorie, Lagerstandorten, Rohstoffpreisen und Bewegungsmustern. In der Landwirtschaft lassen sich Daten aus Feuchtigkeitssensoren mit Wettervorhersagen kombinieren, um die Bewässerungsanlagen zu optimieren und den Wasserverbrauch zu senken. Wenn Flottenmanager wissen, wann die Autos und Lastwagen ihres Fuhrparks eine Inspektion benötigen und wo sie sich gerade befinden, können sie gezielt Wartungstermine planen, Ersatzteile bestellen und die Effizienz von Reparaturen steigern. Daten zum Garantiestatus werden noch wertvoller, wenn sie mit Informationen zum Einsatz und zur Leistung eines Produkts verknüpft werden. Wenn ein Hersteller weiß, dass ein Kunde sein Gerät so intensiv nutzt, dass es vermutlich noch innerhalb der Garantiefrist kaputtgehen wird, kann er teuren Reparaturen durch zusätzliche Wartungstermine vorbeugen. AUSWERTUNG DER DATEN Die Fähigkeit, das volle Potenzial von Daten auszuschöpfen, entwickelt sich immer mehr zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor. Deshalb entsteht für die Verwaltung, Kontrolle, Analyse und Sicherheit von Daten eine wichtige neue Unternehmensfunktion. Firmen können überaus nützliche Erkenntnisse gewinnen, wenn sie nicht nur einzelne Messwerte verarbeiten, sondern in Tausenden von Werten, die bei Produkten im Lauf der Zeit anfallen, Muster ermitteln. Bei einem Auto offenbaren getrennt voneinander er- KOMPAKT EIN RADIKALER WANDEL Vernetzte Produkte zwingen Unternehmen, ihre Branchen neu zu definieren und fast alles, was sie tun, zu überdenken – angefangen bei der Strategie. Der zweite Beitrag der Autoren Porter und Heppelmann zu diesem Thema konzentriert sich auf die betrieblichen Abläufe und die Organisationsstruktur der Unternehmen. NEUE BEZIEHUNGEN Die beispiellose Fülle an Daten und Funktionen, die vernetzte Produkte bieten, verändert die Interaktion der Unternehmen mit ihren Kunden. Es entsteht eine dauerhafte, zeitlich nicht begrenzte Kundenbeziehung. NEUE PROZESSE Die neuen Fähigkeiten der Produkte, die neue Infrastruktur und die Daten, die diese Produkte generieren, verändern praktisch jede Unternehmensfunktion, von der Produktentwicklung über IT, Fertigung, Logistik, Marketing und Vertrieb bis zur Kundenpflege. Außerdem müssen die Funktionen sich jetzt erheblich enger abstimmen. NEUE STRUKTUREN Die bestehenden Funktionen arbeiten auf eine andere Art und Weise zusammen, und völlig neue Funktionen entstehen. Dazu gehören zentrale Datenabteilungen, Teams, die Produkte auch nach dem Verkauf kontinuierlich weiterentwickeln, und Bereiche, die sich nur darauf konzentrieren, die Kundenbeziehung zu optimieren. Dieser Beitrag ist Teil 2 der Serie von Michael E. Porter und James E. Heppelmann über das Internet der Dinge. Im von Experten viel beachteten ersten Teil beschreiben sie, „Wie smarte Produkte den Wettbewerb verändern“. Er ist im Dezember-Heft 2014 des Harvard Business Managers erschienen. DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 5 STRATEGIEN ORGANISATION fasste Daten, wie zum Beispiel die Motortemperatur, die Stellung der Drosselklappen und der Kraftstoffverbrauch, wie die Leistung mit den technischen Spezifikationen korreliert. Auch wenn Probleme auftreten, kann es helfen, mehrere Messwerte zu kombinieren. Und selbst wenn es schwierig ist, die Ursache des Problems zu klären, helfen Datenmuster dabei, richtig zu handeln. Daten aus Hitze- und Vibrationssensoren können schon Tage oder Wochen im Voraus signalisieren, dass im Motor ein Lagerschaden droht. Solche Erkenntnisse zu entwickeln ist die Aufgabe des neuen Bereichs Big Data Analytics, der Ansätze aus Mathematik, Informatik und Business Analysis zusammenführt. Dabei setzten Unternehmen eine Reihe neuer Methoden ein. Größtes Problem: Die Daten aus den vernetzten Produkten sowie damit zusammenhängende interne und externe Daten sind oft unstrukturiert. Sie können in völlig unterschiedlichen Formaten vorliegen, zum Beispiel als Messwerte von Sensoren, Standortinformationen, Temperaturangaben und Vertriebs- oder Garantiehistorien. So ein Sammelsurium unterschiedlicher Datenformate lässt sich mit herkömmlichen Instrumenten wie Tabellenkalkulationsprogrammen und Datenbanktabellen nicht gut verwalten. Dafür werden sogenannte Data Lakes eingesetzt, zu Deutsch Datenseen. Das sind Speicher, die sämtliche Daten in ihrem Rohformat aufnehmen. Dort können sie dann mit neuen Analysetools untersucht werden. Diese Tools lassen sich in vier Gruppen einteilen: deskriptiv, diagnostizierend, prognostizierend und präskriptiv (siehe Grafik Seite 9). Außerdem setzen Unternehmen zunehmend sogenannte digitale Zwillinge ein, um mit der Fülle an Daten mehr anfangen zu können. Die „Digital Twins“, die ursprünglich von der Forschungsabteilung des USVerteidigungsministeriums, Darpa, entwickelt wurden, sind virtuelle 3-D-Nachbildungen eines physischen Produkts. Sie sind eine Art Avatar, mit dem Unternehmen den Status und die Betriebsbedingungen eines Geräts visualisieren können, das Tausende Kilometer weit weg ist. Das Originalprodukt sendet Daten über sich und seine Umgebung, und der digitale Zwilling im Unternehmen setzt diese Daten um und spiegelt in einer virtuellen Realität die Veränderung des tatsächlichen Geräts wider. Hersteller können mit solchen virtuellen 3-D-Visualisierungen auch lernen, wie sie Produkte besser konstruieren, fertigen, betreiben oder warten können. DIE WERTKETTE TRANSFORMIEREN Die wertvollen Daten sowie die neuen Konfigurationen und Fähigkeiten vernetzter Produkte verändern die traditionellen Unternehmensfunktionen, manchmal so6 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 gar grundlegend. Begonnen hat diese Transformation in der Produktentwicklung, inzwischen erstreckt sie sich auf die gesamte Wertkette. Die Grenzen zwischen den Funktionen verschieben sich, neue entstehen. PRODUKTENTWICKLUNG Smarte Produkte stellen völlig andere Anforderungen an Konzeption und Entwicklung. Früher war die Produktentwicklung vor allem maschinenbaugetrieben, heute dominiert das interdisziplinäre System Engineering. Jedes Produkt ist ein komplexes System mit Software im Gerät selbst und noch einmal genauso viel oder mehr Software in der Cloud. Deshalb arbeiten in den Entwicklungsteams anders als früher auch mehr Softwareentwickler als Maschinenbauingenieure. Manche Industrieunternehmen, wie GE, Airbus oder Danaher, haben daher schon Niederlassungen in Softwarezentren wie Boston oder dem Silicon Valley aufgemacht. Auch die Grundsätze der Produktentwicklung weichen vom Althergebrachten ab: Variabilität zum kleinen Preis. Bei konventionellen Produkten sind Variationen teuer, denn sie erfordern unterschiedliche physische Bauteile. Dank der zentralen Rolle der Software bei smarten Produkten lässt sich Vielfalt deutlich billiger erreichen. Der amerikanische Landmaschinenhersteller John Deere produzierte seine Motoren früher in mehreren Versionen mit unterschiedlicher Leistung. Heute stellt er nur noch einen Standardmotor her und variiert die PS-Zahl mithilfe einer Software. Auf ähnliche Art und Weise ersetzen digitale Benutzeroberflächen Wählscheiben und Knöpfe; dadurch lassen sich einem Produkt problemlos und kostengünstig andere Steuerungsoptionen verpassen. Die Variabilitätsansprüche der Kunden mit Software statt mit Hardware zu erfüllen ist ein zentrales neues Prinzip der Produktentwicklung. Produkte müssen nicht nur über Kundensegmente, sondern auch über Regionen hinweg variabel sein. Dank Software lassen sich Geräte zwar einfacher an unterschiedliche Länder und Sprachen anpassen. Allerdings erfordert das Entstehen neuer lokaler Vorschriften für die grenzübergreifende Datenübertragung, dass die Speicherinfrastruktur oder die Anwendungen doppelt vorhanden sein müssen. Solche Vorschriften schaffen neue Unterschiede zwischen Ländern und Regionen, manchmal auch aus politischen Gründen. Kontinuierliche Weiterentwicklung von Produkten. Früher gab es noch Modellgenerationen. Jede neue Generation brachte eine Reihe von Verbesserungen, und dann änderte sich bis zur nächsten Generation nichts mehr. Smarte Produkte sind diesem Zyklus nicht mehr unter- DIE NEUE TECHNOLOGIE-INFRASTRUKTUR Für intelligente, vernetzte Produkte müssen Unternehmen eine völlig neue Technologieinfrastruktur aufbauen. Dieser „Technologie-Stapel“, wie der englische Fachausdruck wörtlich übersetzt heißt, besteht aus mehreren Blöcken. Dazu gehören neue Produkthardware, eingebettete Software, Netzwerkkomponenten, eine Cloud für die Software, eine Reihe von Sicherheitswerkzeugen, ein Anschluss an externe Datenquellen und die Anbindung an andere Unternehmenssysteme. Die Grafik zeigt, wie diese Technologien miteinander verknüpft sind. PRODUKT-CLOUD INTELLIGENTE PRODUKTANWENDUNGEN Software in der Cloud, die Produktfunktionen überwacht, steuert, optimiert und zum Teil auch automatisch ablaufen lässt. REGEL-/ANALYSE-ENGINE Enthält Regeln, Geschäftslogiken und Big-Data-Analysefähigkeiten. Liefert den Algorithmen im Produktbetrieb Informationen und neue Erkenntnisse über die Produkte. IDENTITÄT UND SICHERHEIT Werkzeuge für die Verwaltung von Nutzerprofilen und Systemzugängen sowie zur Sicherung des Produkts, der Netzwerkverbindung und der CloudKomponenten. ANWENDUNGSPLATTFORM Entwicklungsumgebung, in der intelligente, vernetzte Geschäftsanwendungen mit Datenzugang, Visualisierung und Laufzeittools schnell erstellt werden können. PRODUKTDATENBANK Big-Data-Datenbanksystem, in dem historische und aktuelle Produktdaten aggregiert, normalisiert und verwaltet werden können. NETZANBINDUNG NETZWERKKOMMUNIKATION Protokolle, die die Kommunikation zwischen Produkt und Cloud ermöglichen. EXTERNE DATENQUELLEN Ein Anschluss für Informationen aus externen Quellen – zum Beispiel Wetter, Verkehr, Rohstoff- und Energiepreise, soziale Medien und Geo-Ortung – als Datengrundlage für Produktfunktionen. ANBINDUNG AN UNTERNEHMENSSYSTEME Tools, die Daten aus intelligenten, vernetzten Produkten an die Kernsysteme des Unternehmens binden, zum Beispiel Enterprise Resource Planning, Customer-Relationship-Management und Product-Lifecycle-Management PRODUKT SOFTWARE Eingebettetes Betriebssystem, Softwareanwendungen im Produkt, eine erweiterte Benutzerschnittstelle und Produktsteuerungskomponenten. HARDWARE Eingebettete Sensoren, Prozessoren sowie Netzwerkanschluss oder Antenne – zusätzlich zu den traditionellen mechanischen und elektrischen Komponenten. DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 7 STRATEGIEN ORGANISATION worfen. Sie lassen sich mithilfe ihrer Software kontinuierlich weiterentwickeln, oft per Fernwartung. So können die Hersteller zum Beispiel neue Kundenanforderungen erfüllen oder Leistungsprobleme beheben. Wer die Maschinen von ABB Robotics einsetzt, kann sie per Fernzugriff überwachen und wenn nötig während des Betriebs anpassen. Die Hersteller haben in diesem System auch die Möglichkeit, Funktionen auf den Markt zu bringen, deren Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Der Elektroautobauer Tesla stattet seine Fahrzeuge seit Kurzem mit einer Autopilotfunktion aus und will die Fähigkeiten des Systems im Lauf der Zeit mit Softwareupdates weiter ausbauen. Neue Benutzeroberflächen und erweiterte Realität. Die digitale Benutzeroberfläche intelligenter, vernetzter Produkte kann auf einen Tablet-Computer oder ein Smartphone übertragen werden. So können sie von jedem Ort gesteuert werden und benötigen nicht einmal mehr Schalter oder Anzeigen am Produkt selbst. Digitale Nutzeroberflächen sind billiger und leichter anpassbar als Knöpfe, Anzeigen und Schalter, und sie ermöglichen dem Nutzer mehr Mobilität. Einige Geräte besitzen mit der sogenannten erweiterten Realität (Augmented Reality) eine zusätzliche leistungsstarke Technologie. Der Nutzer zeigt mit einem Smartphone oder einem Tablet-Computer auf ein Produkt oder sieht sich das Gerät mit einer besonderen Brille an und erhält nützliche Zusatzinformationen, etwa Überwachungs-, Betriebs- und Kundendienstdaten, die Wartungen und Reparaturen erleichtern. Möglich wird dies durch Apps, die Informationen aus der Cloud holen und über einem digitalen Bild des Produkts einblenden. Solche leistungsstarken Benutzeroberflächen zu konstruieren ist ein weiterer wichtiger neuer Grundsatz der Produktentwicklung. Kontinuierliches Qualitätsmanagement. Seit Langem wird in der Produktentwicklung bereits unter den Bedingungen getestet, unter denen die Kunden ein Produkt später nutzen. Damit wollen die Hersteller die Zahl der Garantiefälle minimieren und sicherstellen, dass ein neues Gerät den Vorgaben entspricht. Vernetzte Produkte gehen im Qualitätsmanagement erheblich weiter und ermöglichen eine kontinuierliche Überwachung der Leistungsdaten im tatsächlichen Einsatz. So können Unternehmen Konstruktionsprobleme ermitteln und beheben, die in den Tests nicht aufgetreten sind. 2013 fing in zwei Tesla-Model-S-Fahrzeugen die Batterie Feuer. Sie waren von Metallgegenständen aufgeschlitzt worden, denen die Fahrer nicht mehr hatten ausweichen können. Die Straßenbedingungen und Geschwindigkeiten, die zu den Batterieschäden geführt 8 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 hatten, waren in der Testphase nicht simuliert worden. Tesla konnte sie aber rekonstruieren und schickte an alle Fahrzeuge ein Softwareupdate, das dafür sorgt, dass das Fahrwerk bei solchen Straßenbedingungen angehoben wird, was die Gefahr von Batterieschäden erheblich reduziert. Vernetzter Kundendienst. Das Produktdesign erfordert heute zusätzliche Instrumente, Möglichkeiten der Datenerfassung und Diagnosefunktionen, die den Zustand und die Leistung eines Produkts überwachen und drohende Ausfälle im Voraus anzeigen. Und da die Software mehr Funktionen ermöglicht, können Produkte auch mehr Onlinedienste bieten. Grundlage für neue Geschäftsmodelle. Mithilfe vernetzter Geräte können Hersteller vom reinen Produktverkauf zum Dienstleistungsgeschäft wechseln. Sie vertreiben dann nicht mehr das eigentliche Produkt, sondern bieten nur dessen Funktionen als Dienstleistung an. Eine Umstellung auf dieses Modell wirkt sich auch auf das Produktdesign aus. Für die Wartung der Geräte ist dann nämlich weiter der Hersteller verantwortlich, und das kann den einen oder anderen Designparameter verändern, besonders dann, wenn sich mehrere Kunden ein Produkt teilen, wie es zum Beispiel bei dem französischen Fahrradverleih Smoove der Fall ist. Das Unternehmen hat vernetzte Fahrräder entwickelt, die keine Kette haben, aber pannensichere Reifen und diebstahlsichere Schrauben. Das fördert die Langlebigkeit und erschwert Diebstahl. Produkte, die als Dienstleistung angeboten werden, müssen Benutzerdaten erfassen, damit die Nutzung mit dem Kunden exakt abgerechnet werden kann. Es ist wichtig, bereits bei der Konzeption des Produkts zu überlegen, welche Sensoren an welcher Stelle welche Daten erfassen und wie oft das Unternehmen die Informationen auswerten möchte. Als Xerox sich von einem Verkäufer von Kopiergeräten zu einem Kopierdienstleister wandelte, baute das Unternehmen am Fotorezeptor, am Ausgabefach und an der Tonerkartusche der Kopierer Sensoren ein. So kann Xerox die in Anspruch genommene Leistung exakt abrechnen und auch Verbrauchsartikel wie Papier und Toner verkaufen. Verknüpfung mit anderen Systemen. Wenn ein Produkt Teil eines größeren Systems wird, multiplizieren sich auch die Möglichkeiten, die Konstruktion zu optimieren. Gemeinsam können Unternehmen Hardware und Software über ganze Produktkategorien hinweg gleichzeitig entwickeln und verbessern; dies umfasst auch Produkte anderer Unternehmen. Der selbst lernende Thermostat von Nest Lab wurde mit einer Program- WERTSCHÖPFUNG IM DATENSTROM Die Daten aus vernetzten Produkten liefern unterschiedliche Erkenntnisse, die Unternehmen, Kunden und Partnern helfen, die Leistung eines Produkts zu optimieren. Einfache Analysen, die von einzelnen Produkten auf ihre eigenen Daten angewandt werden, liefern grundlegende Erkenntnisse. Komplexere Analysen werden mit Daten durchgeführt, die in einem Data Lake gesammelt werden. Dazu gehören auch Informationen aus anderen Quellen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens. Sie liefern tiefer gehende Erkenntnisse. DATENQUELLEN INTELLIGENTE, VERNETZTE PRODUKTE Daten zu Standort, Zustand, Nutzung … EXTERN Daten zu Preisen, Wetter, Lagerbeständen der Lieferanten … UNTERNEHMEN Daten zu Wartungshistorie, Garantiestatus … ROHDATEN DATA LAKE GRUNDLEGENDE ERKENNTNISSE z. B. Nutzungsmuster STEUERUNG UND OPTIMIERUNG z. B. über Softwareupgrades für mehr Leistung Ansammlung von Rohdaten in unterschiedlichen Formaten ROHDATEN ANALYSEN DESKRIPTIV Erfassen Zustand, Umfeld und Betrieb des Produkts DIAGNOSTIZIEREND Untersuchen die Ursachen von Leistungsminderung oder Fehlern PROGNOSTIZIEREND Erkennen Muster, die künftige Ereignisse ankündigen PRÄSKRIPTIV Identifizieren konkrete Handlungsempfehlungen, um Ergebnisse zu verbessern oder Fehler zu beheben TIEFER GEHENDE ERKENNTNISSE UNTERNEHMEN KUNDE PARTNER DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 9 STRATEGIEN ORGANISATION mierschnittstelle konzipiert, die den Austausch von Daten mit anderen Produkten erlaubt, zum Beispiel mit dem intelligenten Schloss Kevo. Wenn der Bewohner zur Tür hereinkommt, verbindet sich das Kevo-Schloss mit dem Nest-Thermostaten, der dann automatisch die Temperatur auf die jeweiligen Vorlieben abstimmt. FERTIGUNG Auch die Produktion wird mit neuen Anforderungen und Chancen konfrontiert. Das kann so weit gehen, dass die Endmontage zum Kunden verlagert wird. Dort bestehen die letzten Schritte darin, Software zu laden und zu konfigurieren. Noch gravierender ist die Neuerung, dass die Fertigung heute nicht mehr nur die Herstellung des eigentlichen Produkts umfasst, sondern auch den Aufbau eines cloudbasierten Systems, ohne das viele der neuen Funktionen nicht möglich wären. Die intelligente Fabrik. Die Fähigkeiten vernetzter Maschinen verändern auch die Abläufe in den Fabriken, in denen Anlagen zunehmend zu Systemen verknüpft werden. Initiativen wie Industrie 4.0 in Deutschland oder Smart Manufacturing in den USA vernetzen Maschinen untereinander, sodass diese voll automatisiert sind und selbstständig die Produktion optimieren. Wenn Einfachere Komponenten. Die mechanische Konstruktion wird oft umso einfacher, je mehr Funktionen eines Produkts durch Software ersetzt werden. Das heißt, bestimmte physische Komponenten fallen weg, und mit ihnen auch die Arbeitsschritte für ihre Herstellung und Montage. Die neuen Blutdruckmessgeräte des französischen Technologieunternehmens Withings bestehen nur noch aus einer Manschette und einem Sensor. Das Display wurde durch eine App ersetzt, die den Blutdruck überwacht und die Daten direkt an das medizinische Personal sendet. Auf ähnliche Art und Weise werden in Flugzeugen, Autos und Booten immer öfter sogenannte gläserne Cockpits eingebaut. Ein einziger Bildschirm zeigt eine ganze Reihe konfigurierbarer Messinstrumente. Doch je niedriger die physische Komplexität ist, desto höher ist der Anteil an Sensoren und Software. Damit ergeben sich neue Komponenten und eine neue Art der Komplexität. Neue Montageprozesse. In der klassischen Fertigung sind heute Standardplattformen üblich. Die Individualisierung der Produkte erfolgt dabei immer später im Montageprozess. Das fördert Skaleneffekte und senkt die Lagerhaltungskosten. Vernetzte Produkte gehen noch einen Schritt weiter. Außendienstmitarbeiter WIR GLAUBEN, DASS SMARTE PRODUKTE DIE LOGISTIK VOLLKOMMEN ERNEUERN WERDEN. solche Anlagen zum Beispiel einen Fehler erkennen, von dem Gefahr ausgehen könnte, sind sie in der Lage, andere Maschinen abzuschalten, bevor diese beschädigt werden, und das Wartungspersonal zu benachrichtigen. Die Brilliant-Factories-Initiative von General Electric stattet Maschinen mit Sensoren aus (entweder nachträglich oder schon beim Produktdesign). Sie sorgen dafür, dass die Anlagen ständig Daten in einen gemeinsamen Pool übertragen. Die Auswertung kann dazu beitragen, die Stillstandszeiten zu verringern und die Effizienz zu steigern. Einem der Werke ist es mit diesem Ansatz gelungen, die Produktion fehlerfreier Einheiten zu verdoppeln. 10 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 oder Kunden können die Software laden und konfigurieren, selbst wenn das Produkt die Fabrik längst verlassen hat, da das Programm im Produkt oder in der Cloud gespeichert ist. Sie können zum Beispiel neue Apps hinzufügen oder die Sprache der TouchscreenTastatur ändern. Gestaltung und Funktion lassen sich so auch in letzter Minute oder sogar nach der Auslieferung noch anpassen. Fertigung als dauerhafter Prozess. Bisher war die Fertigung ein abgeschlossener Prozess, der mit der Auslieferung des Produkts endete. Smarte Geräte funktionieren aber nicht ohne Softwareunterstützung aus der Cloud. AUSWIRKUNGEN AUF DIE STRATEGIE In einer intelligenten, vernetzten Welt stehen Unternehmen vor zehn neuen strategischen Entscheidungen, die massive Auswirkungen auf jede Aktivität in der betrieblichen Wertschöpfungskette haben. 1. Welche intelligenten, vernetzten Produktfunktionen soll das Unternehmen anstreben? 6. Wie verwaltet das Unternehmen die Eigentums- und Zugriffsrechte für die Produktdaten? 2. Welche Funktionen sollen ins Produkt integriert, welche sollen in die Cloud ausgelagert werden? 7. Soll das Unternehmen besser auf Vertriebspartner oder Servicenetzwerke verzichten? 3. Soll das Unternehmen ein offenes oder ein geschlossenes System anstreben? 8. Soll das Unternehmen sein Geschäftsmodell ändern? 4. Soll das Unternehmen alle Funktionen und die Infrastruktur selbst entwickeln oder andere beauftragen? 9. Soll das Unternehmen die gewonnenen Produktdaten an Dritte verkaufen? 5. Welche Daten braucht das Unternehmen, um den Wert seiner Produkte zu maximieren? 10. Soll das Unternehmen seinen Tätigkeitsbereich ausweiten? Quelle: Michael E. Porter, James E. Heppelmann: „Wie smarte Produkte den Wettbewerb verändern“, Harvard Business Manager, Dezember 2014. Die Technologieinfrastruktur ist Teil des Produkts und muss vom Hersteller betrieben und verbessert werden, solange das Produkt existiert. Insofern wird die Fertigung zu einem dauerhaften Prozess. LOGISTIK Die Idee vom vernetzten Gerät wurzelt in der Logistik. Mittels RFID-Etiketten können Mitarbeiter die Warenlieferungen mit funkgesteuerten Scannern erfassen. Die Kommerzialisierung dieser Technik hat es in den 90er Jahren deutlich einfacher gemacht, den Weg einer Lieferung über mehrere Stationen nachzuverfolgen. Heute ermöglichen intelligente, vernetzte Produkte eine lückenlose Überwachung, ohne dass jemand mit einem Scanner dasteht und Lieferungen erfasst. Die von den Produkten übertragenen Daten beziehen sich nicht nur auf den aktuellen Standort, sondern auch auf den Streckenverlauf, den Zustand der Lieferung (zum Beispiel Temperatur oder Belastungen) und das Umfeld. Wir glauben, dass smarte Produkte die Logistik vollkommen erneuern werden. Das Management großer, weit verstreuter Flotten funktioniert ganz anders, wenn die Zentrale für jedes einzelne Fahrzeug Standort, Funktionstüchtigkeit sowie die örtlichen Verkehrsund Wetterbedingungen überwachen und dem Fahrer einen optimierten Lieferfahrplan schicken kann. Bei vielen Produkten könnten außerdem automatisierte Drohnen den Lieferprozess revolutionieren. Amazon, Google und DHL testen bereits Drohnen, die Päckchen direkt vor der Haustür der Kunden abliefern. MARKETING UND VERTRIEB Die Möglichkeit, kontinuierlich zu kontrollieren, wie ein Produkt eingesetzt wird, verlagert den Fokus der Kundenbeziehung. Nicht mehr der Verkauf ist entscheidend, eine meist einmalige Angelegenheit, sondern die Maximierung des Werts für den Kunden über einen längeren Zeitraum. So entstehen auch für Marketing und Vertrieb neue Anforderungen und Chancen. Neue Möglichkeiten für Segmentierung und Individualisierung. Mit den Daten aus intelligenten, vernetzten Produkten können Unternehmen viel besser erkennen, wie die Kunden ein Produkt verwenden und welche Funktionen sie besonders schätzen oder überhaupt nicht nutzen. Die Hersteller können Nutzungsmuster analysieren und auf dieser Grundlage ihre Kunden exakter segmentieren – nach Branche, Region, Organisationseinheit oder auch nach spezifischeren Attributen. Dieses tief greifende Wissen bietet die Grundlage DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 11 STRATEGIEN ORGANISATION für maßgeschneiderte Angebote oder Aftersales-Pakete, spezielle Funktionen für einzelne Segmente und auch für eine bessere Preispolitik, die sich stärker am Wert eines Produkts für ein bestimmtes Kundensegment oder sogar für einen einzelnen Kunden orientiert. Neue Kundenbeziehungen. Je mehr es darum geht, den Kunden kontinuierlich etwas zu bieten, desto mehr wird das Produkt zum Mittel, um den Zusatznutzen zu liefern. Und weil die Hersteller über das Produkt mit ihren Kunden in Kontakt bleiben, haben sie eine neue Basis für einen direkten und kontinuierlichen Dialog. Die Unternehmen betrachten das Produkt zunehmend als Möglichkeit, die Bedürfnisse und die Zufriedenheit der Kunden direkt zu beobachten, statt sich auf Marktforschungen und Kundenbefragungen zu verlassen. Das amerikanische Unternehmen All Traffic Solutions stellt zum Beispiel Straßenschilder her, die Geschwindigkeit und Verkehrsaufkommen messen. Mit den Daten, die diese Schilder erheben, lassen sich Bewegungsmuster viel gründlicher analysieren, und die Polizei und andere Kunden können den Verkehrsfluss aus der Ferne überwachen und managen. Früher verkaufte das Unternehmen Schilder, heute vertreibt es Dienstleistungen, die ohne polizeiliche Eingriffe für mehr Sicherheit auf den Straßen sorgen. Die Schilder sind nun Instrumente, um Verkehrsmanagementleistungen zu liefern und zu verwalten. Neue Geschäftsmodelle. Wenn Unternehmen zu jedem Zeitpunkt wissen, ob und wie Kunden Produkte verwenden, können sie völlig neue Geschäftsmodelle entwickeln. Beim Power-by-the-hour-Modell von RollsRoyce bezahlen Fluggesellschaften für die Zeit, in der ein Triebwerk genutzt wird, und nicht mehr einen Kaufpreis plus Gebühren für Wartung und Reparaturen. Inzwischen bieten viele Industrieunternehmen ihre Produkte als Dienstleistung an – mit erheblichen Auswirkungen für Vertrieb und Marketing. Das Ziel der Verkäufer sind nicht mehr Abschlüsse, sondern der langfristige Erfolg der Kunden. Das kommt sowohl den Kunden als auch den Unternehmen zugute. Fokus auf Systeme statt auf einzelne Produkte. Wenn Produkte zu größeren Systemen gehören, wird auch das Wertversprechen für die Kunden breiter. Qualität und Funktionsumfang sind nicht mehr alles. Die Produkte müssen im Zusammenspiel mit anderen Geräten funktionieren, und die Unternehmen müssen sich überlegen, wie sie sich aufstellen: Bieten sie Einzelartikel an, Produktfamilien, eine übergeordnete Plattform oder wollen sie auf allen drei Feldern antreten? 12 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 Die Teams in Vertrieb und Marketing müssen über mehr Wissen verfügen, um ihre Produkte als Teile von größeren, vernetzten Systemen positionieren zu können. Um Produktlücken zu schließen oder Geräte an führende Plattformen anzubinden, werden oft Partnerschaften nötig sein. Die Vertriebsmitarbeiter müssen auch im Verkauf an solche Partner geschult werden, und die Anreizstrukturen müssen komplexere Ertragsbeteiligungsmodelle enthalten. Smart Things ist ein US-Start-up, das sich im Markt für das vernetzte Heim als Vermittler zwischen Verbrauchern und Herstellern positioniert hat. Das Hauptprodukt ist eine Box, mit deren Hilfe sich Sensoren per App steuern lassen. Sie hat eine einfache Benutzeroberfläche und bietet eine Reihe von Standardsensoren, zum Beispiel Feuchtigkeitsmessgeräte, Rauchmelder, Thermometer und Bewegungsmelder. Die Sensoren lassen sich an jedem beliebigen Gegenstand im Haus anbringen und automatisieren Beleuchtung, Alarmanlage und die Energiesteuerung. Auch die Smart-Home-Geräte anderer Hersteller lassen sich problemlos in die Plattform von SmartThings einbinden. Das Unternehmen hat ein weitreichendes Partnerökosystem aufgebaut, das bereits mehr als 100 kompatible Produkte umfasst. AFTERSALES-SERVICE Für die Hersteller langlebiger Güter wie Industriemaschinen kann der Aftersales-Service eine wichtige Umsatz- und Gewinnquelle darstellen. Das Potenzial ist unter anderem deshalb so groß, weil das traditionelle Kundendienstgeschäft notorisch ineffizient ist. Beim ersten Besuch identifiziert der Techniker das Problem und die nötigen Ersatzteile, und erst beim zweiten Besuch kümmert er sich um die eigentliche Reparatur. Mit smarten Produkten können Unternehmen von einem reaktiven auf einen vorbeugenden, aktiven und vernetzten Kundendienst umschwenken, Service und Effizienz nehmen zu. Effizientere Wartung. Die Techniker bereiten ihren Besuch mit einer Ferndiagnose vor und haben gleich beim ersten Mal das richtige Werkzeug und die richtigen Ersatzteile dabei, gegebenenfalls auch Hintergrundinformationen für die Reparatur. Mit nur einem Besuch ist alles erledigt, und die Erfolgsquote steigt. Kundendienst aus der Distanz. In vielen Fällen wird eine Wartung oder Reparatur aus der Ferne möglich – ähnlich wie es beim Beheben von Computerproblemen oft der Fall ist. Sysmex, ein Hersteller von Geräten für die Analyse von Blut und Urin, ist ein gutes Beispiel dafür. Ursprünglich ergänzte das Unternehmen seine Geräte um Netzwerkkomponenten, um eine Fernüberwa- chung zu ermöglichen; inzwischen bietet Sysmex aber auch Wartungs- und Reparaturleistungen per Fernzugriff an. Dabei können die Techniker auf genauso viele Informationen zugreifen wie vor Ort. Häufig reicht es, die Software neu zu booten, ein Softwareupgrade zu installieren oder einem Mediziner am Telefon zu erklären, was er tun muss. Dieser Prozess hat die Servicekosten und die Ausfallzeiten der Geräte gesenkt und die Kundenzufriedenheit drastisch erhöht. Vorbeugen ist die beste Medizin. Mithilfe von Analysetechniken, die Vorhersagen ermöglichen, den sogenannten Predictive Analytics, können Unternehmen Problemen zuvorkommen und vorbeugend handeln. Diebold, ein Spezialist für Selbstbedienungsautomaten, überwacht seine vernetzten Automaten aus der Ferne, und wenn irgendwo Probleme drohen, führen Techniker eine Fernwartung durch oder suchen die Automaten auf und regulieren oder ersetzen ausfallgefährdete Teile. Auch Funktionsupdates oder -erweiterungen lassen sich mit einer vorbeugenden Wartung verbinden, und auch das ist teilweise aus der Ferne möglich. Kundendienst mit erweiterter Realität. Die enormen Datenmengen, die smarte Produkte zur Verfügung stellen, eröffnen Kundendienstmitarbeitern auch neue Möglichkeiten zu arbeiten – allein, gemeinsam und mit Kunden. Dabei setzen sie auch Systeme mit erweiterter Realität ein, wie wir sie bereits beschrieben haben. Wenn die von solchen Systemen bereitgestellten Zusatzinformationen Wartungsbedarf anzeigen oder den Nutzern eine Schritt-für-Schritt-Reparaturanleitung anzeigen, können Effizienz und Effektivität drastisch steigen. Neue Serviceangebote. Der Kundendienst ist zu einer wichtigen Innovationsquelle geworden und nutzt Daten sowie Vernetzungs- und Analysemöglichkeiten, um mit neuen Leistungen wie Garantieverlängerungen und Anlagen-, Flotten- oder Branchen-Benchmarking Umsatz und Gewinn anzukurbeln. Die Lösungen, mit denen der Baumaschinenhersteller Caterpillar seinen Kunden beim Management von Bau- und Bergbaumaschinenflotten hilft, sind ein gutes Beispiel dafür. Die Serviceteams von Caterpillar erheben und analysieren für jede Maschine auf einer Baustelle oder in einem Bergwerk eine Vielzahl von Daten und empfehlen den STRATEGIEN ORGANISATION Kunden auf dieser Basis, wo bestimmte Anlagen stehen sollten, in welchen Fällen weniger Maschinen genügen, wo zusätzliche Geräte Engpässe beheben könnten und wie sich für die gesamte Flotte die Kraftstoffeffizienz steigern lässt. SICHERHEIT Für die Sicherheit der Rechenzentren sowie der Systeme, Computer und Netzwerke eines Industrieunternehmens war bis vor Kurzem die IT-Abteilung verantwortlich. Mit dem Einzug von vernetzten Maschinen hat sich dies geändert. Jetzt sind alle Unternehmensfunktionen für die IT-Sicherheit verantwortlich. Jedes vernetzte Gerät ist für Hacker potenziell entweder ein Einfallstor oder eine Basis für Cyberangriffe. Smarte Produkte durchziehen das gesamte Unternehmen, sind exponiert und schwer zu schützen. Da die Chips in den Geräten selbst oft nur eine begrenzte Rechenleistung haben, unterstützen sie keine moderne Sicherheitstechnik bei Hardware und Software. Einige der Schwachstellen kennen wir von herkömmlichen IT-Systemen. So sind sie zum Beispiel den gleichen Denial-of-Service-Angriffen ausgesetzt, die mit einer Flut an Anfragen auch Server und Netzwerke Die Kunden erwarten, dass ihre Daten und die Produkte sicher sind. Deshalb entwickelt sich die Fähigkeit, diese Sicherheit zu gewährleisten, zu einem zentralen Werttreiber und sogar zu einem potenziellen Alleinstellungsmerkmal. Kunden mit besonderen Sicherheitsanforderungen, zum Beispiel das Militär oder Rüstungsunternehmen, fordern unter Umständen auch außergewöhnliche Sicherheitsleistungen. Die IT-Abteilung spielt weiterhin eine zentrale Rolle beim Ermitteln und Umsetzen von Best Practices für Daten- und Netzwerksicherheit. Zudem müssen bereits beim Produktdesign Sicherheitsbelange berücksichtigt werden. Die Risikomodelle müssen alle potenziellen Zugriffspunkte abdecken, vom Gerät selbst über das Netzwerk bis hin zur Produkt-Cloud. Es entstehen auch neue Vorbeugungsmethoden: Die amerikanische Arzneimittelaufsicht FDA schreibt zum Beispiel für alle medizinischen Geräte mehrstufige Authentifizierungsverfahren und Zeitbegrenzungen für die Nutzung vor, um das Risiko für die Patienten zu senken. Bei anderen Geräten können die Nutzer bestimmen, wann sie Daten in die Cloud übertragen wollen und welche Arten von Daten der Hersteller erheben darf. Auch das steigert die Sicherheit. Insgesamt entwickeln sich das Wissen und PRAKTISCH JEDE TRADITIONELLE FUNKTION WIRD IRGENDWANN RESTRUKTURIERT WERDEN MÜSSEN. lahmlegen können. Andere Schwachstellen sind hingegen neu, und hier können auch die Folgen von Angriffen gravierender sein. Hacker können die Kontrolle über eine Maschine übernehmen oder sensible Daten abrufen, die zwischen der Maschine, dem Hersteller und dem Kunden ausgetauscht werden. In der US-Fernsehsendung „60 Minutes“ demonstrierte die Darpa, wie ein Hacker aus der Distanz ein Auto beschleunigen oder bremsen kann. Und wenn Hacker die Kontrolle über Flugzeuge, Autos, medizinische Geräte, Generatoren und andere vernetzte Produkte übernehmen, kann das deutlich gravierendere Folgen haben als der Datendiebstahl von einem geschäftlichen E-Mail-Server. 14 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 die Best Practices für mehr Sicherheit in der vernetzten Welt enorm schnell weiter. Datenschutz und ein fairer Tausch „Daten gegen Mehrwert“ liegen den Kunden am Herzen. Für Recht, Marketing, Vertrieb, Kundendienst und andere Abteilungen wird es immer wichtiger, Datenrichtlinien zu erstellen und sie den Kunden mitzuteilen. Diese Vorgaben müssen nicht nur den Datenschutzbedenken der Kunden gerecht werden, sondern auch immer strengeren staatlichen Auflagen genügen. Außerdem müssen sie klar definieren, welche Daten das Unternehmen sammelt, wie es diese Daten intern nutzt oder was externe Parteien damit machen. PERSONAL Ein Hersteller smarter Produkte ist eine Kreuzung aus Softwareunternehmen und traditionellem Produzenten. Diese Mischung erfordert neue Fähigkeiten auf allen Stufen der Wertschöpfungskette sowie neue Arbeitsweisen und eine veränderte Firmenkultur. Neue Kompetenzbereiche. Die Fähigkeiten, die man braucht, um intelligente, vernetzte Produkte zu entwerfen, zu verkaufen und zu warten, sind sehr gefragt, aber dünn gesät. Für Industrieunternehmen wird es zunehmend wichtiger, die richtigen Mitarbeiter zu finden, denn der Wandel schreitet schnell voran: Früher waren Maschinenbauingenieure gesucht, heute sind es Softwareingenieure. Früher verkaufte die Industrie Produkte, heute vertreibt sie Dienstleistungen. Früher reparierte der Kundendienst Maschinen, heute optimiert er deren Verfügbarkeit. Fertigungsunternehmen werden Experten aus neuen Gebieten einstellen müssen: für Anwendungstechnik, für die Entwicklung von Benutzeroberflächen und für Systemintegration. Sie brauchen vor allem Datenwissenschaftler, die automatische Analysen entwickeln und durchführen können. Nur so können sie aus der Flut an Daten auch Maßnahmen ableiten. Der Business oder Data Analyst früherer Tage entwickelt sich zu einem Spezialisten, der sowohl technisches als auch unternehmerisches Wissen braucht und seine Erkenntnisse aus Datenanalysen den Managern und IT-Leitern erklären kann. In den traditionellen Industrieregionen sind solche Fähigkeiten besonders knapp, denn die wenigsten von ihnen sind auch Technologiestandorte. Deshalb gründen einige amerikanische Fertigungsunternehmen Niederlassungen in IT-Hochburgen wie Boston oder dem Silicon Valley. Dort kommen sie alle zusammen: moderne Fertigungsunternehmen und führende Hochschulen, Hersteller von B2B-Hardware und -Software sowie neue Produzenten von intelligenten, vernetzten Produkten. Der französische Elektrotechnikkonzern Schneider Electric zum Beispiel verlegt seine US-Zentrale nach Boston. In solchen Clustern können Industrieunternehmen in den kommenden zehn Jahren schneller dazulernen und besser qualifizierte Mitarbeiter einstellen. Sie werden aber auch andere Personalbeschaffungsmodelle brauchen, zum Beispiel Praktikumsprogramme mit den örtlichen Universitäten und Partnerprogramme mit führenden Technologiekonzernen, von denen sie sich Mitarbeiter „ausleihen“ könnten. Neue Firmenkultur. Die Herstellung intelligenter, vernetzter Produkte erfordert ein erheblich höheres Maß an funktions- und fachübergreifender Koordination als die traditionelle Fertigung. Dazu gehört auch die Integration von Mitarbeitern, die ganz unterschiedliche Arbeitsweisen und einen vielfältigen sozialen und kulturellen Hintergrund aufweisen. Das kann problematisch sein. Die Softwareentwicklung zum Beispiel hat in der Regel eine deutlich höhere „Taktrate“ als ein herkömmlicher Industriebetrieb. Die Personalabteilungen werden viele Aspekte ihrer Organisationsstruktur, Richtlinien und Standards überdenken müssen. Neue Vergütungsmodelle. Bei der Rekrutierung und Motivation von Mitarbeitern werden die Fertigungsunternehmen ebenfalls neue Ansätze benötigen. Der Typ Fachkräfte, den sie suchen, bekommt in den IT-Konzernen ganz selbstverständlich Anreize wie flexible Arbeitsbedingungen, Concierge-Betreuung, Sabbaticals und Zeit für eigene Projekte. AUSWIRKUNGEN AUF DIE ORGANISATIONSSTRUKTUR Die Verlagerung der Arbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette führt bei Fertigungsunternehmen zu einer organisatorischen Veränderung von historischem Ausmaß. General-Electric-Chef Jeffrey Immelt hat einmal gesagt, dass jedes Industrieunternehmen sich zu einem Softwareunternehmen entwickeln müsse. Hinter dieser Äußerung steckt die Tatsache, dass Software heute ein wesentlicher Bestandteil vieler Industrieprodukte ist. Im Gegensatz dazu haben sich die Softwarehersteller bereits in Bereiche hineinentwickelt, die für das Geschäft mit intelligenten, vernetzten Produkten wichtig sind, zum Beispiel die kontinuierliche Weiterentwicklung von Produkten, Upgrades per Fernzugriff und Product-as-a-Service-Modelle (siehe Kasten Seite 17). Doch die Transformation der Fertigungswirtschaft wird das Ausmaß der Veränderungen in der Softwarebranche noch übertreffen. Die Industrieunternehmen müssen nicht nur in die Bereiche Software, CloudComputing und Datenanalyse einsteigen, sie müssen weiterhin komplexe physische Produkte entwickeln, produzieren und mit einer Dienstleistungsinfrastruktur begleiten. Welche Aspekte der Organisationsstruktur werden betroffen sein? Wie Jay W. Lorsch und Paul R. Lawrence in ihrem Klassiker „Organization and Environment“ geschrieben haben, muss jede Organisationsstruktur zwei grundlegende Elemente miteinander verbinden: Differenzierung und Integration. Unterschiedliche Aufgaben wie Vertrieb und Konstruktion müssen differenziert, das heißt in unterschiedliche organisatorische Einheiten gegliedert werden. Gleichzeitig müssen aber die Aktivitäten dieser getrennten Einheiten wieder inDEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 15 STRATEGIEN ORGANISATION tegriert, das heißt koordiniert und abgestimmt werden. Intelligente, vernetzte Produkte haben sowohl auf die Differenzierung als auch auf die Integration gravierende Auswirkungen. In der klassischen Struktur ist ein Industrieunternehmen in verschiedene Funktionen unterteilt, zum Beispiel Forschung und Entwicklung (F&E), Fertigung, Logistik, Vertrieb, Marketing, Aftersales, Finanzen und IT. (Organisationsstrukturen haben zwar auch eine geografische Dimension, die das Ganze noch etwas komplizierter macht, aber diese ist durch intelligente, vernetzte Produkte weniger betroffen.) Die einzelnen Funktionen sind sehr eigenständig. Eine gewisse Abstimmung ist zwar erforderlich, meist bleibt es aber bei einzelnen und taktisch motivierten Aktionen. Neben der Anpassung an die übergeordnete Unternehmensstrategie und an den Businessplan gibt es noch weitere Abstimmungsaufgaben: die Koordination wichtiger Übergaben im Fertigungszyklus (vom Produktdesign zur Fertigung, vom Vertrieb zum Service et cetera) und das Einholen von Feedback (zum Beispiel Informationen zu Defekten und Kundenreaktionen), um Prozesse und Produkte zu verbessern. Die funktionsübergreifende Integration erfolgt weitgehend durch das Führungsteam der Geschäftsbereiche und über formale Prozesse für Produktentwicklung, Supply-Chain-Management, Auftragsbearbeitung und ähnliche Dinge, an denen mehrere Einheiten beteiligt sind. Smarte Produkte brechen diese klassische Struktur auf. Sie erfordern eine dauerhafte bereichsübergreifende Koordination – von der Produktentwicklung über den Cloud-Betrieb und die Verbesserung des Services bis zum Kundenkontakt nach dem Verkauf. Mit regelmäßigen Übergaben ist es nicht mehr getan. Konstruktion und Gestaltung, Produktion, Vertrieb, Service, IT und andere Funktionen müssen sich kontinuierlich und intensiv abstimmen. Dabei überschneiden sich ihre Rollen, und die Grenzen zwischen den Funktionen verwischen. Außerdem entstehen wichtige neue Funktionen, zum Beispiel für die Verwaltung und Analyse der von smarten Produkten generierten Daten und für die neue, dauerhafte Beziehung zu den Kunden. Auf oberster Ebene führt die Flut an Daten und stetigem Feedback dazu, dass das traditionelle, zentralisierte Modell von Weisung und Kontrolle ersetzt wird durch ein Modell, das auf dezentralen, aber eng abgestimmten Entscheidungen und kontinuierlicher Verbesserung basiert. Zusätzlich müssen die Fertigungsbetriebe aber weiterhin konventionelle Produkte herstellen und betreuen. Daran dürfte sich in einigen Fällen auf Jahrzehnte hinaus nichts ändern. Selbst bei den progressivsten unter den heute etablierten Industrieunterneh16 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 men machen intelligente, vernetzte Geräte weniger als die Hälfte aller verkauften Produkte aus. Dieses Nebeneinander von Alt und Neu verkompliziert die Organisationsstrukturen zusätzlich. Wie wird das neue Fertigungsunternehmen aussehen? Die Organisationsstrukturen verändern sich schnell, selbst bei den führenden Herstellern smarter Produkte. Dabei zeichnet sich eine Reihe wichtiger Veränderungen ab. Die erste ist eine verstärkte und tiefgreifendere Zusammenarbeit und Integration zwischen IT und F&E. Im Lauf der Zeit könnten diese beiden Funktionen – und andere – zusammenwachsen. Darüber hinaus entwickeln die Unternehmen drei neue Arten von Funktionen: zentrale Datenabteilungen; Zwitterfunktionen aus Entwicklung und Produktion (Dev-Ops); und Abteilungen, die sich um den Erfolg der Kunden kümmern (siehe Grafik Seite 18). Die Aktivitäten für Produkt- und Datensicherheit nehmen unterdessen rapide zu und erstrecken sich über unterschiedliche Funktionen. Welche Struktur sich daraus letztlich entwickeln wird, ist noch unklar. Irgendwann wird angesichts der dramatischen Neuausrichtung von Aufgaben und Rollen praktisch jede traditionelle Funktion restrukturiert werden müssen. ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN IT UND F&E Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung hat traditionell Produkte entwickelt, während die IT sich vor allem um die Computerinfrastruktur gekümmert und die Anwendungsprogramme verwaltet hat, zum Beispiel Software für Computer-Aided Design (CAD), Enterprise Resource Planning (ERP) oder Customer-Relationship-Management (CRM). Künftig muss die IT eine zentralere Rolle spielen. Die smarten Produkte und die gesamte Technologieinfrastruktur enthalten IT-Hardware und Software. Hier stellt sich die Frage, wer für diese Infrastruktur verantwortlich sein sollte: die IT, F&E oder eine Kombination aus beiden Funktionen? Momentan besitzt nur die IT die nötigen Fähigkeiten, um softwarebasierte Technologien und die für smarte Produkte erforderliche Infrastruktur zu unterstützen. F&E-Abteilungen sind hingegen darauf spezialisiert, mechanische und elektrische Bauteile zu entwickeln und zu kombinieren; viele meistern inzwischen auch die Aufgabe, Software in Produkte einzugliedern. Nur wenige F&E-Abteilungen haben jedoch Erfahrung im Aufbauen und Managen der cloudbasierten Elemente der Technologieinfrastruktur. Jetzt müssen IT und F&E ihre Aktivitäten kontinuierlich zusammenführen. Dabei haben die beiden Funktionen in der Vergangenheit bei der Produktentwicklung kaum zusammenarbeitet – in einigen Unternehmen sind die Abteilungen sogar traditionell verfeindet. LEKTIONEN AUS DER SOFTWAREBRANCHE 1. KÜRZERE ENTWICKLUNGSZYKLEN. Die Softwarebranche bringt nicht mehr in regelmäßigen Abständen große Produktgenerationen auf den Markt, sondern bietet inzwischen häufiger kleinere Upgrades und Verbesserungen an. So können die Unternehmen neue Produkte schneller auf den Markt bringen und zügiger auf veränderte Kundenanforderungen reagieren. Agile Produktentwicklungsprozesse sind längst etabliert. Sie setzen auf die tägliche Zusammenarbeit zwischen Entwicklern und Vermarktern, wöchentliche Produktverbesserungen, fortlaufende Kursanpassungen und eine kontinuierliche Prüfung der Kundenzufriedenheit. 2. PRODUCT-AS-A-SERVICE-MODELLE. Die Softwarebranche stellt auf serviceorientierte Geschäftsmodelle um. Die Kunden kaufen ihre Programme auf Abobasis und bezahlen nur für die tatsächlich genutzten Funktionen und den in Anspruch genommenen Zeitraum, statt „Shelfware“ zu kaufen, die zum Teil ungenutzt bleibt. Dadurch wird das Produkt von einer Investition zu einem Teil der betrieblichen Kosten – von Capex zu Opex. Außerdem wird die Bereitstellung einfacher, weil sie über die Cloud erfolgt. Um dieses Modell erfolgreich umsetzen zu können, haben Softwareunternehmen gelernt, die Produktnutzung und die Zufriedenheit der Kunden genau im Auge zu behalten. 3. FOKUS AUF DEN ERFOLG DER KUNDEN. Die Umstellung auf servicebasierte Modelle hat bei Softwareunternehmen Abteilungen entstehen lassen, die sich nur um den Erfolg der Kunden kümmern. Da die Kunden problemlos von heute auf morgen den Anbieter wechseln können, müssen die Softwarehersteller dafür sorgen, dass der Kunde kontinuierlich einen echten Mehrwert aus dem Produkt zieht. Deshalb haben viele Anbieter Teams gegründet, die sich nur um dieses Ziel kümmern. 4. PRODUKTE ALS TEIL GRÖSSERER SYSTEME. Die meisten Softwareprogramme sind Teil einer größeren Gruppe von Business Tools, deren Wert durch das Zusammenspiel zunimmt. Erfolgreiche Softwareunternehmen bieten häufig Programmierschnittstellen und andere Werkzeuge, die dafür sorgen, dass ihre Produkte leicht mit Programmen anderer Hersteller zusammengespannt werden können. Darüber hinaus fördern die Hersteller oft die Bildung von Entwickler-Communities, die neue Anwendungsmöglichkeiten für ihre Produkte schaffen. 5. ANALYTIK ALS WETTBEWERBSVORTEIL. Softwareunternehmen, vor allem im E-Commerce, wissen seit Langem, wie gut sich mit Datenanalysen ein Mehrwert für die Kunden schaffen lässt. Unternehmen, die von Werbeeinnahmen abhängen, ermitteln mit Analysen, wann die Kunden am ehesten empfänglich sind für Werbung und darauf reagieren. Immer mehr Softwarehersteller untersuchen außerdem die Daten zur Produktnutzung, um die Softwarefehler ausfindig zu machen, die den Kunden am meisten schaden. - ETABLIERTE VORBILDER Viele der organisatorischen Veränderungen, die vernetzte Produkte in der Fertigungswirtschaft bewirken, spiegeln Entwicklungen wider, die in der Softwarebranche bereits stattgefunden haben. Das ist nicht überraschend; schließlich müssen Fertigungsunternehmen im Grunde genommen einen internen Softwarebetrieb aufbauen, um vernetzte Produkte anbieten zu können. Die Softwarebranche bietet ihre digitalen Produkte schon länger sowohl vor Ort als auch über die Cloud an und liefert Support per Fernzugriff. Außerdem waren Softwareunternehmen die ersten, die ihre Produkte auch nach dem Verkauf kontinuierlich weiterentwickelten. Die organisatorischen Lehren, die andere Branchen aus den Erfahrungen der Softwarebranche ziehen können, lassen sich in fünf Gruppen gliedern: STRATEGIEN ORGANISATION EINE NEUE ORGANISATIONSSTRUKTUR Unternehmensfunktionen von Fertigungsbetrieben müssen aufgrund der zunehmenden Vernetzung von Produkten und Maschinen auf eine neue Art und Weise zusammenarbeiten. Deshalb verändern sich die Organisationsstrukturen der Unternehmen rapide. Eine neue Abteilung für Datenmanagement beginnt sich durchzusetzen, und es entstehen erste Abteilungen, die sich speziell um die kontinuierliche Weiterentwicklung von Produkten oder um den Erfolg der Kunden kümmern. Geführt von einem Chief Data Officer. Kümmert sich auf Konzernebene um die Datenerhebung und -analyse, unterstützt die Analysen der einzelnen Bereiche und stellt Informationen und Erkenntnisse im gesamten Unternehmen bereit IT Enge Zusammenarbeit, weil IT bereits in der Produktentwicklung wichtig ist. Kann dazu führen, dass IT-Teams in F&E oder Produktentwicklungsteams in IT eingegliedert werden. CEO ZENTRALE DATENABTEILUNG F&E DEV-OPS Es zeichnet sich bereits eine Reihe von Organisationsmodellen ab. Manche Unternehmen integrieren IT-Teams in ihre F&E-Abteilung. Andere bilden funk tionsübergreifende Produktentwicklungsteams, in denen auch Mitarbeiter der IT-Abteilung vertreten sind, lassen die separaten Berichtslinien aber bestehen. Bei Ventana Medical Systems, einem Hersteller intelligenter, vernetzter Laborgeräte, entwickeln IT- und F&ETeams inzwischen gemeinsam neue Produkte, wobei die IT maßgeblich beeinflusst, welche Produktfunktionen über die Cloud bereitgestellt werden und wann Softwareupdates erforderlich sind. Bei Thermo Fisher Scientific, einem auf wissenschaftliche Forschung spezialisierten Technologieunternehmen, arbeiten IT-Mit18 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 FINANZEN FERTIGUNG MARKETING Rekrutiert Teams aus F&E, IT, Fertigung und Service. Verantwortet Produktupdates, Aftersales-Service und Verbesserungen und strebt kürzere Produkteinführungszyklen an. arbeiter direkt in der F&E-Abteilung, der sie auch fachlich unterstellt sind (Dotted-Line-Prinzip) und deren Ziele sie mitverfolgen. So verbesserte Thermo Fisher seine Effektivität beim Definieren und Aufbauen der Produkt-Cloud, beim sicheren Erfassen, Analysieren und Speichern von Produktdaten und beim Versenden der Daten im Unternehmen und an Kunden. EINE ZENTRALE DATENABTEILUNG Da das Datenaufkommen sehr viel größer, komplexer und strategisch bedeutender geworden ist, kann und soll nicht mehr jede Funktion ihre Daten selbstständig verwalten, analysieren oder schützen. Um die neue Ressource optimal zu nutzen, gründen viele Unterneh- überwachen und die Anwendung hoch entwickelter Datenanalysen entlang der Wertschöpfungskette vorantreiben. Die Ford Motor Company setzte etwa vor Kurzem einen Chief Data and Analytics Officer ein, der eine konzernweite Vision für die Datenanalyse entwickeln und umsetzen soll. Der CDO sorgt dafür, dass das Unternehmen die Daten aus smarten Produkten nutzt, um die Vorlieben der Kunden besser zu verstehen, künftige Strategien für vernetzte Autos zu entwickeln und die internen Prozesse neu zu gestalten. Traditionelle Funktionen Neue Funktionen PERSONALWESEN VERTRIEB KUNDENERFOLGSMANAGEMENT SERVICE UND SUPPORT Kümmert sich um die kontinuierliche Beziehung zu den Kunden und arbeitet darauf hin, dass der Kunde maximalen Nutzen aus dem Produkt zieht. men eine zentrale Abteilung, die Daten erhebt, aggregiert, analysiert und dafür verantwortlich ist, Daten und Erkenntnisse funktions- und bereichsübergreifend bereitzustellen. Der Marktforscher Gartner prognos tiziert, dass annähernd ein Viertel aller großen Un ternehmen bis 2017 eigene Datenabteilungen haben werden. An der Spitze der neuen Funktion steht in der Regel ein Chief Data Officer (CDO), der als Manager der oberen Führungsebene direkt an den CEO berichtet oder manchmal auch an den CFO oder den CIO. Die Datenabteilung muss eine einheitliche Datenverwaltung gewährleisten, den übrigen Bereichen den Umgang mit Datenressourcen vermitteln, Zugriffsberechtigungen DEV-OPS Der Zwang zu zeitlosem Design, kontinuierlichem Betrieb und Service sowie ständigen Updates macht eine neue Konzernfunktion erforderlich. Sie wird manchmal mit der Abkürzung Dev-Ops bezeichnet. Der Name kommt aus der IT-Branche und beschreibt eine gemeinschaftliche, funktionsübergreifende Entwicklung und Anwendung von Software. Diese Abteilung ist dafür verantwortlich, die Leistung der Produkte zu managen und zu optimieren, nachdem sie die Fabrik verlassen haben. Deshalb arbeiten hier Softwareingenieure aus der traditionellen Produktentwicklung (Dev von Development) gemeinsam mit Mitarbeitern aus IT, Fertigung und Wartung, die für den Betrieb (Ops von Operations) des Produkts zuständig sind. Dev-Ops organisiert und führt Teams, die Produkteinführungszyklen verkürzen, Produktupgrades und das Beheben von Fehlern managen und nach dem Verkauf neue Dienstleistungen und Erweiterungen bereitstellen. Die Abteilung sorgt dafür, dass häufig kleine, gut getestete Produktänderungen in der Cloud bereitgestellt werden, idealerweise ohne Beeinträchtigung oder Unterbrechung für die bestehenden Produkte und die Nutzer. Außerdem arbeitet die Dev-Ops-Funktion federführend an einer Ausweitung von vorbeugenden Wartungsangeboten. KUNDENERFOLGSMANAGEMENT Eine dritte neue Unternehmensfunktion, die ebenfalls ein Pendant in der Softwarebranche hat, kümmert sich um das Kundenerlebnis und ist dafür verantwortlich, dass der Kunde maximalen Nutzen aus dem Produkt zieht. Diese Aufgabe ist bei intelligenten, vernetzten Produkten entscheidend, vor allem um dafür zu sorgen, dass die Kunden bei Product-as-Service-Angeboten bei der Stange bleiben. Das Kundenerfolgsmanagement ersetzt nicht unbedingt Vertriebs- oder Kundendienstabteilungen, trägt nach dem Verkauf aber die Hauptverantwortung für die Beziehung zum Kunden. Diese Funktion übernimmt Rollen, für die der traditionelle Vertrieb oder Kundendienst nicht ausgerüstet ist und für die er auch keine Anreize hat: Sie überwacht die DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 19 STRATEGIEN ORGANISATION Nutzungs- und Leistungsdaten der Produkte, ermittelt auf dieser Grundlage, welchen Nutzen die Kunden aus dem Produkt ziehen, und entwickelt Möglichkeiten, diesen Nutzen weiter zu steigern. Diese neue Unternehmensfunktion arbeitet nicht isoliert, sondern kooperiert eng mit Marketing, Vertrieb und Kundendienst. Abteilungen für den Kundenerfolg verändern das Customer-Relationship-Management. Früher haben sich Unternehmen traditionell mithilfe von Kundenbefragungen und Daten aus dem Callcenter über die Nutzung von Produkten informiert und geprüft, ob eine Kundenbeziehung gefährdet ist. Normalerweise hören Unternehmen erst von den Kunden, wenn etwas schiefgegangen ist – und dann ist es oft schon zu spät. Dank der Vernetzung werden die Produkte selbst zu Sensoren, die den Kundennutzen erfassen. Anhand dieser Daten kann der Hersteller viel über das Kundenerlebnis erfahren: Nutzung und Leistung des Produkts, Präferenzen und Zufriedenheit der Kunden. Solche Erkenntnisse können dem Unternehmen helfen, ein Abwandern von Kunden zu verhindern, und sie können zeigen, wo der Kunde von zusätzlichen Funktionen oder Leistungen profitieren könnte. GEMEINSAME VERANTWORTUNG Welcher Topmanager die Sicherheit verantwortet, ist nicht einheitlich geregelt. Mal ist es der IT-Leiter (CIO), mal der Technologiechef (CTO), der Verantwortliche für die Datenanalyse (CDO) oder der für die Compliance (CCO). Doch ganz gleich, wie die Führungsstruktur aussieht, das Thema Sicherheit erstreckt sich bereichsübergreifend von der Produktentwicklung über Dev-Ops und IT bis zum Kundendienst und anderen Abteilungen. Besonders eng muss die Zusammenarbeit zwischen F&E, IT und der Datenabteilung sein. Die Datenabteilung und die IT sind in der Regel dafür zuständig, Produktdaten zu schützen, Zugriffsrechte für die Nutzer festzulegen und dafür zu sorgen, dass die Vorschriften eingehalten werden. F&E und Dev-Ops konzentrieren sich auf Schwachstellen beim physischen Produkt, und IT und F&E arbeiten gemeinsam daran, die Produkt-Cloud und die Verbindungen zum Produkt aufrechtzuerhalten und zu schützen. Die Organisationsstruktur für das gesamte Thema Sicherheit entwickelt sich allerdings erst noch. DIE TRANSFORMATION MANAGEN Wie kann der Wandel gelingen? Die beschriebenen organisatorischen Veränderungen sind erheblich. Zentrale Datenabteilungen entstehen gerade erst, und die Integration von IT und F&E steht noch ganz am Anfang. Abteilungen wie Dev-Ops und Kundenerfolgs20 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 management sind selten, aber ihre Notwendigkeit wird allmählich anerkannt und ihre Aufgaben werden ausdifferenziert. Mit der Zeit könnten daraus feste Unternehmensfunktionen entstehen. Bei Herstellern von Flugzeugen, medizinischen Geräten oder Landmaschinen wird es noch lange ein Nebeneinander von smarten und herkömmlichen Produkten geben. Dies bedeutet, dass die von uns beschriebene organisatorische Veränderung eine evolutionäre und keine revolutionäre Entwicklung sein wird und dass alte und neue Strukturen oft nebeneinander werden existieren müssen. Die Veränderungen sind so umfassend und die nötige Kompetenz und Erfahrung im Umgang mit vernetzten Produkten ist so schwach ausgeprägt, dass viele Unternehmen Hybrid- oder Übergangsstrukturen brauchen werden. So können sie knappes Know-how optimal nutzen, einen gemeinsamen Erfahrungsschatz aufbauen und doppelte Arbeit vermeiden. Wie könnte eine solche Übergangsstruktur aussehen? Viele Unternehmen haben auf Geschäftsbereichsebene Initiativen für intelligente, vernetzte Produkte gestartet. Eine Funktion wie die IT könnte bei Strategie und Umsetzung im Bereich smarter Geräte die Führung übernehmen. Oder ein besonderer Lenkungsausschuss mit den Leitern der Unternehmensfunktionen könnte das Projekt unterstützen und verantworten. Manche Unternehmen arbeiten mit spezialisierten Softwareherstellern zusammen oder übernehmen solche Spezialisten und holen sich auf diese Weise neues Know-how und neue Perspektiven ins Haus. Caterpillar hat sich zum Beispiel an Uptake beteiligt, einem Unternehmen, das anhand von Datenanalysen Prognosen erstellt. Mischkonzerne etablieren auf oberster Ebene Strukturen, die über die Vorteile smarter Produkte informieren, die besten Ausgangspunkte ausloten, doppelte Arbeit vermeiden helfen, eine kritische Masse an Personal und Know-how aufbauen und die technische Infrastruktur verantworten. Diese Abteilungen haben oft die Unterstützung des CEOs oder des Topmanagements. Drei Modelle zeichnen sich ab. EIGENSTÄNDIGER GESCHÄFTSBEREICH Ein separater Bereich mit Ergebnisverantwortung ist für die intelligenten, vernetzten Produkte des Unternehmens verantwortlich. Der Bereich bündelt die passenden Mitarbeiter, mobilisiert die nötige Technologie und die erforderlichen Vermögenswerte, um die neuen Produkte auf den Markt zu bringen, und arbeitet mit allen beteiligten Geschäftsbereichen zusammen. Die Bosch Group hat so einen Bereich gegründet: Bosch Software Innovations. Die Abteilung hilft den produkt- WIE SICH DIENSTLEISTUNGEN VERÄNDERN SERVICEREVOLUTION Zwar verändert sich durch die Vernetzung der Produkte vor allem die Fertigung, aber der Wandel erstreckt sich bis in den Dienstleistungssektor. Denn Bereiche wie Luftfahrt, Hotelgewerbe, Gesundheitswesen und Finanzdienstleistungen setzen die neuen Produkte in großem Stil ein. Eine Fluggesellschaft mit smarten Flugzeugen, Bordsystemen und Gepäckräumen kann erheblich effizienter arbeiten. Wartungsprobleme können während des Flugs erkannt werden, und bei der Landung liegen bereits die nötigen Ersatzteile bereit. Moderne Waschmaschinen und Trockner in einem Studentenwohnheim informieren die Studierenden über das Handy, wann eine Maschine frei ist und wann die Wäsche fertig ist. Und wenn sie defekt sind, können die Maschinen sofort Wartungspersonal anfordern. Gesundheitsdienstleister können die Auslastung von teuren Geräten, Räumen und medizinischem Personal erheblich optimieren und die Patienten besser versorgen. Intelligente medizinische Geräte (zum Beispiel smarte Herzschrittmacher) ermöglichen eine Fernüberwachung von Patienten und damit sinnvollere und rechtzeitige Eingriffe. Und die Integration von Echtzeitdaten aus unterschiedlichen Quellen liefert neue Erkenntnisse und kann eine Änderung der basierten Geschäftsbereichen und den externen Kunden, Dienstleistungen für intelligente, vernetzte Produkte aufzubauen. Ein neu gegründeter Geschäftsbereich braucht sich nicht mit alten Geschäftsprozessen und Organisationsstrukturen herumzuschlagen. In manchen Unternehmen verlagert die Führung den Fokus mit der Zeit wieder auf die Geschäftsbereiche, wenn Wissen, Infrastruktur und Erfahrung wachsen. In anderen Fällen wirkt die spezialisierte Abteilung auf die Geschäftsbereiche eher abschreckend, anstatt Initiativen auf Bereichsebene zu fördern. Außerdem verbreitet sich Wissen, das in einem separaten Geschäftsbereich erworben wurde, womöglich langsamer im Unternehmen. CENTER OF EXCELLENCE In diesem Modell ist das Wissen zu intelligenten, vernetzten Produkten in einem separaten Konzernbereich angesiedelt, der aber keine Ergebnisverantwortung hat, sondern als Cost-Center betrieben wird, das die Ge- Lebensgewohnheiten herbeiführen. Die Chancen, die sich hier ergeben, sind revolutionär. ÜBERALL SENSOREN Selbst scheinbar technologieferne Dienstleistungen werden mit vernetzten Produkten arbeiten. Eine Reinigungsfirma wird an den Türen zu Toiletten oder Konferenzräumen Sensoren anbringen und sich nur auf die Räume konzentrieren, die wirklich gereinigt werden müssen. Ein Parkhausbetreiber wird jeden einzelnen Stellplatz mit einem Sensor ausstatten. Dann kann er die Nutzer per Smartphone-App zu freien Plätzen lotsen, Staus verringern und die Auslastung erhöhen. Zudem wird die App ein ticketloses, barrierefreies Bezahlsystem mit dynamischen Preisen und minutengenauer Abrechnung ermöglichen. Darüber hinaus werden völlig neue Dienstleistungen entstehen. Uber hat in der Taxi- und Zustellerbranche für Wirbel gesorgt, weil die App die enorm große ungenutzte Transportkapazität auf den Straßen anzapft. Sie rekrutiert viele neue Fahrer und gleicht dann die Standorte von Fahrern und Passagieren ab. Das Spektrum potenzieller neuer Dienstleistungen, die durch intelligente, vernetzte Produkte möglich werden, ist schier endlos. schäftsbereiche nutzen können. GE hat im Silicon Valley ein Center of Excellence gegründet. BEREICHSÜBERGREIFENDER LENKUNGSAUSSCHUSS Ein Gremium, dem die Vordenker unterschiedlicher Geschäftsbereiche angehören, agiert als Verfechter neuer geschäftlicher Möglichkeiten, tauscht Erfahrungen aus und ermöglicht eine Zusammenarbeit. Dass solche Ausschüsse meist keine formalen Entscheidungsbefugnisse haben, kann ihre Fähigkeit, Veränderungen einzuleiten, behindern. AUSBLICK Derzeit entstehen grundlegend andere Wertschöpfungsmöglichkeiten für die Wirtschaft. Im Fertigungssektor findet eine Revolution statt, aber auch andere Sektoren, wie der Dienstleistungssektor, sind von den Veränderungen betroffen (siehe Kasten oben). Dabei beginnen sich die Auswirkungen der smarten Produkte auf die Wirtschaft gerade erst zu entfalten. DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 21 STRATEGIEN ORGANISATION EINE NEUE LEAN-ÄRA VIEL RAUM FÜR OPTIMIERUNG Intelligente, vernetzte Produkte tragen dazu bei, dass die Menschen Grundstoffe, Energie und Anlagen deutlich produktiver nutzen. Die Folgen für die Geschäftsprozesse werden sich in der gesamten Wirtschaft bemerkbar machen. Lean-Management steht für die Optimierung und Verschlankung von Prozessen. Die Daten von smarten Produkten werden eine völlig neue Art von „Lean“ ermöglichen, weil sie entlang der gesamten Wertschöpfungskette zahllose Optimierungsmöglichkeiten eröffnen. VERSCHWENDUNG VERSCHWINDET In die Produkte integrierte Sensoren erkennen Wartungs- oder Reparaturbedarf, bevor ein Bauteil ausfällt. Das reduziert die Stillstandszeiten. Oder sie signalisieren, dass eine eigentlich vorgesehene Wartung noch nicht erforderlich ist. Ein Ölwechsel Sie prägen nicht nur den Wettbewerb neu, wie wir in unserem ersten Beitrag zu diesem Thema erläutert haben, sie verändern auch das Wesen, die Arbeit und die Struktur von Fertigungsunternehmen. Bei der Organisationsstruktur von Industrieunternehmen schaffen smarte Produkte die erste echte Zäsur in der modernen Wirtschaftsgeschichte. Viele der organisatorischen Veränderungen und Herausforderungen werden sich auch auf andere Bereiche ausdehnen. Bei Unternehmen, die mit diesem Wandel zu kämpfen haben, stehen jetzt Probleme mit der Organisationsstruktur im Mittelpunkt – und es gibt noch keinen Königsweg. Wir fangen gerade erst an, die seit Jahrzehnten etablierten Organigramme aufzubrechen. Doch auch wenn der Wandel für viele Unternehmen beunruhigend und destabilisierend sein mag und die Veränderungen Wettbewerbsprobleme und Sicherheitsbedenken mit sich bringen, ist es wichtig, intelligente, vernetzte Produkte als Chance für die Wirtschaft und für die Gesellschaft zu betrachten. Dank dieser neuen Produkte werden wir große Fortschritte im Umweltschutz machen: Wir werden Land, Wasser und Grundstoffe deutlich effizienter nutzen, die Energieeffizienz steigern und die Produktivität der Agrarund Ernährungswirtschaft verbessern. Smarte Produkte machen das Leben leichter, sie ermöglichen 22 HARVARD BUSINESS MANAGER DEZEMBER 2015 erfolgt nur noch, wenn die Beeinträchtigung des Öls einen bestimmten Grenzwert überschreitet. Neue Datenanalysen führen zu Effizienzsteigerungen, die zuvor nicht möglich waren. KAPAZITÄTEN WERDEN BESSER GENUTZT Wenn Produkte ihren Standort und ihre Auslastung melden, können wir das Optimum aus ihnen herausholen. Intelligente, vernetzte Aufzüge können Nutzungsmuster prognostizieren und ihre Funktionsweise darauf abstimmen. Das verringert die Wartezeiten und senkt den Stromverbrauch. Ein Gebäude, das früher vielleicht sechs Aufzüge hatte, liefert jetzt mit nur vier Aufzügen einen besseren Service. Dank Product-as-a-ServiceModellen bezahlen die Kunden nur, was sie tatsächlich nutzen. Gebrauchsgegenstände wie Autos oder Fahrräder lassen sich durch Daten- und Vernetzungsmöglichkeiten viel leichter gemeinsam nutzen. große Fortschritte bei Gesundheit, Sicherheit, Mobilität und Ausbildung und vereinfachen auch kleine Herausforderungen wie die tägliche Parkplatzsuche (siehe Kasten oben). Außerdem können wir unseren Konsum verändern. Nach Jahrzehnten geprägt von „immer mehr, immer billiger und immer kurzlebiger“ brauchen Unternehmen und Verbraucher in Zukunft vielleicht wieder weniger Dinge. Intelligente, vernetzte Produkte geben uns die Möglichkeit, nur die Güter und Dienstleistungen zu kaufen, die wir brauchen. Produkte, die wir nur selten nutzen, können wir mit anderen teilen. Und die Produkte, die wir schon haben, lassen sich intensiver nutzen. Statt alte Geräte wegzuwerfen, weil eine Nachfolgergeneration auf den Markt kommt, behalten wir unsere alten Produkte und lassen sie kontinuierlich verbessern, aktualisieren und modernisieren. Und was ist mit dem Arbeitsmarkt? Jede technische Zäsur wirft die Frage nach den Auswirkungen für die Beschäftigung auf, vor allem in der heutigen Zeit. Wir glauben, dass das enorme Innovationspotenzial intelligenter, vernetzter Produkte und die extreme Zunahme an Daten, die diese Geräte generieren, unter dem Strich das Wirtschaftswachstum steigern. Diese neue Art von Produkten wird weder unsere Bedürfnisse noch die Zahl der zur Deckung dieser Bedürfnisse nötigen Menschen verringern. Im Gegenteil: Es werden neue Branchen, Dienstleistungen und Rollen entstehen, die mehr Menschen ermöglichen, ihre Ziele zu erreichen. Was ist mit den Menschen, denen für die erste Welle neuer Stellen die nötige Ausbildung und Kompetenz fehlt? Das ist ein wichtiger Punkt, aber insgesamt dürften die Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung positiv sein. Es wird mehr Innovationen und mehr neue Unternehmen geben. Intelligente, vernetzte Produkte können auch nivellierend wirken, weil sie es mehr Menschen ermöglichen, produktiver und weniger monoton zu arbeiten. Eine Smartphone-App mit erweiterter Realität versetzt auch einen weniger gut ausgebildeten Kundendienstmitarbeiter in die Lage, komplizierte Reparaturen durchzuführen. Und Experten können schlechter qualifizierte Mitarbeiter deutlich besser coachen und anleiten. Stellen Sie sich vor, wie sich die Arbeit eines Landschaftsgärtners verändern würde, wenn Höfe und Gärten mit Sensoren ausgestattet wären, die Informationen über die Bodenbeschaffenheit, den Gießverlauf, die Gesundheit der Pflanzen und Problembereiche bereithalten. Die Fertigungsindustrie weist uns den Weg in die Zukunft. Die Veränderungen bei Produkten und Organisationsstrukturen sind schwierig und bergen Unwägbarkeiten. Aber Unternehmen, denen diese Umstellung gelingt, werden aufblühen und einen tief greifenden gesellschaftlichen Beitrag leisten. SERVICE LITERATUR THOMAS BAUERNHANSL, MICHAEL TEN HOMPEL: Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik: Anwendung, Technologien, Migration, Springer Vieweg 2014. HBM ONLINE MICHAEL E. PORTER, JAMES E. HEPPELMANN: Wie smarte Produkte den Wettbewerb verändern, in: Harvard Business Manager, Dezember 2014, Seite 34, Nachdrucknummer 201412034. MICHAEL E. PORTER, MARK KRAMER: Die Neuerfindung des Kapitalismus, in: Harvard Business Manager, Februar 2011, Seite 58, Nachdrucknummer 201102058. INTERNET Das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung: www.bmbf.de/de/ zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html Die Plattform Industrie 4.0 des Wirtschaftsministeriums: www.plattform-i40.de/ Das Institute for Strategy and Competitiveness an der Harvard Business School: www.isc.hbs.edu/Pages/default.aspx MICHAEL E. PORTER ist Professor an der Harvard Business School. Er zählt zu den wichtigsten Managementdenkern weltweit und wurde bekannt durch seine Arbeiten zu den fünf Wettbewerbskräften. JAMES E. HEPPELMANN ist President und CEO von PTC, einem Softwareunternehmen aus Massachusetts, das Fertigungsunternehmen hilft, Produkte zu entwickeln, zu betreiben und zu warten. Die Autoren möchten sich bedanken für die umfangreiche und wichtige Unterstützung von Kathleen Mitford, Eric Snow, Alexandra Houghtalin und Danny Bressler bei der Vorbereitung dieses Artikels. Hinweis: PTC unterhält Geschäftsbeziehungen mit mehr als 28 000 Unternehmen weltweit, und einige davon werden in diesem Beitrag erwähnt. Michael Porter erklärt im Video sein Konzept der fünf Wettbewerbskräfte: www.youtube.com/watch?v=mYF2_FBCvXw Alle HBM-Beiträge von Michael Porter auf einen Blick: bit.ly/hbm-porter KONTAKT Twitter: @MichaelEPorter NACHDRUCK Nummer 201512052, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing DEZEMBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER 23