„Bald kann ich Papa hören!“ Märchen und Motorenbrummen, Kinderlieder und Katzenjammer – all das konnte die kleine Sumita bisher nicht hören. Doch mit einem speziellen Implantat bauen Ärzte der Medizinischen Hochschule Hannover ihr und anderen Kindern eine Brücke in die Welt der Hörenden. Jörn Hons (Text) und Tristan Vankann (Fotos) waren dabei. S umita lacht. Sie schaut sich um. „Ade, ade?“, fragt sie und krabbelt vom Schoß ihres Vaters auf die Fensterbank. „Da ist der Hase“, nickt Erich Dräger, und sofort umklammern ihre kleinen braunen Hände das rosa Stofftier, sie drückt es fest an sich. Im nächsten Moment hüpft Sumita schon von der Fensterbank und läuft zu ihrem Krankenbett: „Aua, aua“, sagt die Zweijährige und zeigt bedauernd auf ihre kleine schwarze Puppe, die mit einem weißen Kopfverband auf den Kissen sitzt. Die Puppe ist 22 ebenso verbunden wie Sumita – auch ihr Verband beult sich hinter dem rechten Ohr aus. Szenenwechsel. Mit einem Sirren frisst sich der Bohrer in den Schädel. Die Diamantspitze trägt weiße Knochensubstanz ab, die sich blitzschnell rot färbt, wenn Dr. Karl F. Mack den Bohrer und Sauger absetzt, um das Knochenbett hinter dem Ohr aus einer anderen Position noch ein wenig runder zu fräsen. In dem Zweimarkstück großen Loch – Dr. Mack tippt mit einem Haken auf die jetzt fast freigelegte Ausgabe 7-8/01, 4. Jahrgang mungsgerät, während Dr. Mack konzentriert weiter fräst. Er hat den Schnitt direkt hinter der Ohrmuschel in einer Hautfalte angesetzt und dann die Haut vom Knochen gelöst. „Wenn man das hinterher näht, sieht man fast keine Narbe mehr“, erläutert er kurz. Das kunststoffummantelte Implantat passt inzwischen genau in das flache Loch – der 37-jährige Chirurg kann sich dem schwierigeren Teil der Operation zuwenden. Er befreit das Okulare des Operationsmikroskopes von den schützenden Plastikhüllen und schiebt das Gerät über den kleinen Kopf, der mit einem sterilen blauen Tuch fast völlig abgedeckt ist. „Jetzt wird es ein bisschen risky“, murmelt er in seinen grünen Mundschutz. S Nach der Operation: Die zweijährige Sumita und ihr Adoptivvater Erich Dräger. Hirnhaut darunter, die etwas nachgibt – soll ein so genanntes Cochlea-Implantat eingebettet werden. Dr. Macks kleiner Patient auf dem Operationstisch, der erst acht Monate alte Jonas, ist von Geburt an taub – er wird mit diesem elektronischen Gerät bald zum ersten Mal hören können: Es reizt mit Hilfe von Elektroden den Hörnerv. Zu sehen ist von dem Baby jetzt nur das nach vorne geklappte Ohr, grell beschienen von den Operationslampen. Mit einem leisen Klacken arbeitet das Narkose- und Beat- Ausgabe 7-8/01, 4. Jahrgang umita ist ein Adoptivkind. Ihre Eltern, Petra und Erich Dräger aus Illingen bei Saarbrücken, haben das kleine Mädchen mit sieben Monaten aus Nairobi abgeholt. Drei Jahre haben sie auf eine Adoption gewartet, den fast unendlichen Papierkrieg und viele Gespräche geführt, bis es endlich soweit war. Und dann „haben wir nach etwa drei Monaten gemerkt, das etwas nicht stimmt“, sagt Erich Dräger, der als selbständiger Dachdeckermeister arbeitet. Zuerst, ergänzt seine Frau, hätten sie noch gedacht, weil sie doch mit 80 anderen Kindern in dem Kinderheim in Nairobi lebte, „ihr ist der Lärm egal“. Denn auf den lauten Staubsauger reagierte Sumita nicht, aber sie drehte sich immer um, wenn die Zimmertür vorsichtig geöffnet wurde. „Sie hat ihre Augen eben überall“, weiß ihr Vater heute mit verhaltenem Stolz, „und sie kann Dinge aus ihren Augenwinkeln beobachten, die wir nie wahrnehmen würden“. So bemerkte er irgendwann, dass seine kleine Tochter im Wohnzimmer den spiegelnden Fernseher benutzte oder den Schatten im Türschlitz registrierte, und deshalb immer genau wusste, was hinter ihr im Zimmer passierte. Bei den Vorsorgeuntersuchungen hatte der Kinderarzt noch gesagt, alles sei in Ordnung. Nach 15 Monaten gingen die Drägers mit ihr zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt – doch auch der bescheinigte dem kleinen Mädchen, einwandfrei zu hören. Erst der Landesarzt für Hörgeschädigte im Saarland – inzwischen waren wieder wertvolle Monate verstrichen – fand die richtige Diagnose: „fast 100 Prozent gehörlos.“Sumitas Eltern stellten das kleine Mädchen schließlich in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) vor. Hier entschieden die Ärzte, dass Sumita mit einem CochleaImplantat geholfen werden könnte. An der Klinik für HalsNasen-Ohren-Heilkunde werden weltweit die meisten Cochlea-Implantate eingesetzt – rund 200 im Jahr. An diesem frühen Nachmittag hat Sumita die dreistündige Operation genau 24 Stunden hinter sich – und ist im sechsten Stock der HNO-Station 46 fast so temperamentvoll wie immer auf den Beinen. Sie plappert mit ihren Eltern – allerdings immer nur in einer Art Babysprache, die gleichaltrige, normal hörende Kinder schon abgelegt haben –, lässt sich den Joghurt schmecken oder hüpft im Zimmer herum, als wenn nichts gewesen wäre. „Wenn sie erst hören 23 „Meiner Puppe tut’s auch am Kopf weh“. Einen Tag nach dem Eingriff kann Sumita schon wieder spielen. kann, wird sie explodieren“, lacht Petra Dräger erleichtert. In ein paar Wochen soll Sumita das hinter dem Ohr zu tragende Mikrofon und der Sprachprozessor angepasst werden. Und nach ein paar Tagen wird sie zum ersten Mal auf die Stimmen, nicht nur auf die Mimik ihrer Eltern achten. Dr. Macks Hand zittert kein bisschen. Er schleift mit dem Bohrer zunächst ein kleines Loch in die Knochenstruktur zum Mittelohr, hier sollen später die dünnen Elektrodenkabel durchführen. „Tisch höher bitte“, sagt Chirurg Dr. Mack – Anästhesist Frank Beger drückt auf die Fernbedienung und fährt den Operationstisch etwas nach oben. Dann macht sich der Oberarzt daran, eine Höhle in den knapp einen Zentimeter breiten Knochen zu bohren. der Schnecke wird dann erheblich größer sein. Deshalb muss das Kabel ausreichend lang im Knochen verstaut werden. Gerade bei Babys und Kleinkindern ist das aber ein Problem. Denn in der Knochenstruktur, die Oberarzt Dr. Mack gerade bearbeitet, liegen auch zwei wichtige Nervenbahnen: Der Nerv für die rechte Gesichtshälfte sowie der Geschmacksnerv für die Zunge, die nur vier bis fünf Millimeter voneinander entfernt verlaufen. Sirrend fräst der Chirurg etliche Minuten lang eine Art Kanal zwischen den beiden Nervenbahnen hindurch, zehntel Millimeter um zehntel Millimeter tastet sich Dr. Mack an die einzelnen Fasern heran, die im Mikroskop bläulich durch den jetzt fast transparenten Knochen schimmern. Schließlich kann er So groß wie ein Geldstück: das Cochlea-Implantat. Dr. Karl F. Mack braucht ein Spezial-Mikroskop, während er das Innenohr des kleinen Jonas für das Implantat freilegt. Millimeter für Millimeter arbeitet er sich mit dem Bohrer vor. Mit 30.000 Umdrehungen in der Minute arbeitet sich der Bohrer zum Innenohr vor, ständig von kühlendem Wasser umspült. Die Höhle muss groß genug werden, damit das fadendünne Elektrodenkabel, dessen Ende später in die Innenohrschnecke geschoben wird, in einer Schleife hineingelegt werden kann. Wenn Jonas größer wird, wird das Innenohr selbst zwar nicht mitwachsen – aber der Abstand vom Stimulator im Schädelknochen zur Elektrode in durch die Öffnung die Cochlea oder Schnecke (Teil des Innenohrs) sehen – der letzte Akt der Operation kann beginnen. Marina und Eugen Pulmann haben die letzten Stunden auf dem Krankenhausflur verbracht, seit ihr kleiner Jonas um acht Uhr in den Operationssaal geschoben wurde. Die Klinikroutine und das Warten kennen sie schon: Auch ihr ältester Sohn Daniel, inzwischen sieben Jahre alt, ist taub Hören mit Cochlea-Implantat Das Cochlea-Implantat funktioniert folgendermaßen: Ein Mikrofon empfängt den Schall und leitet ihn an den Sprachprozessor weiter. Ein Gerät in etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel, das der Hörgeschädigte am Rücken tragen kann – es gibt auch kleinere Geräte, die hinter das Ohr geklemmt werden können – wandelt nun den Schall mit Hilfe eines eingebauten Mikrochips in einen speziellen elektrischen Code um, der an die Sendespule am Kopf geleitet wird. Diese Spule wiederum schickt das codierte Signal durch die Haut an den im Knochen implantier- Ausgabe 7-8/01, 4. Jahrgang ten Stimulator. Das Cochlea-Implantat entschlüsselt nun das Signal und wandelt es in einen elektrischen Impuls um. Über ein dünnes Kabel wird dieser Impuls an die 22 Elektroden gesendet, die in der gewundenen Innenohrschnecke (Cochlea) am Hörnerv liegen. Je nachdem, ob und wieviele tiefe, mittlere oder hohe Töne im Schallsignal enthalten sind, stimulieren diese Elektroden den Hörnerv an unterschiedlichen Stellen. Diese elektrischen Impulse wiederum interpretiert das menschliche Gehirn als Höreindruck. 25 geboren. Auch er hat ein Cochlea-Implantat bekommen. „Es ist irgendwie genetisch“, sagt die 26-jährige Marina mit den blonden, schulterlangen Haaren und lächelt ein wenig unsicher. Ihr Mann Eugen, der wie seine Frau mit einem leichten Akzent spricht – beide sind vor zehn Jahren als Russlanddeutsche aus Kasachstan nach Lippstadt gezogen – fügt aber gleich hinzu, dass sie das erst später untersuchen lassen wollen. „Jetzt ist wichtig, dass unsere Kinder gesund sind und richtig sprechen lernen“. Bei Daniel wurde die Gehörlosigkeit erst spät entdeckt. So wie bei Sumita hatten die konsultierten Ärzte das Problem nicht erkannt und es zunächst mit Hörgeräten probiert. Die Chancen, dass Daniel so sprechen lernt wie sein jüngerer Bru- mann. Nach drei Wochen reagierte er auf „Dani“-Rufe, nach drei bis vier Monaten konnte er „Mama“ oder „Papa“ sagen. Anders als Sumita hat Daniel zudem bis zur Operation nicht gebrabbelt – jetzt aber geht er auf eine Schwerhörigenschule und kann Sätze mit bis zu vier Wörtern bilden. „Er will immer alles so schnell“, seufzt seine Mutter, deshalb übt sie jeden Tag mit ihm, langsam und deutlich zu sprechen. Eine Geduldsarbeit: „Es hat lange gedauert, bis er ein Wort wie Milchschnitte sagen konnte.“ „Den Tisch höher, bitte“. Oberarzt Dr. Mack lässt sich vom Assistenten den 1,5-Millimeter-Bohrer und einen kleinen Fixsauger reichen, doch bevor er wieder beginnt, ruft der Anästhesist dazwischen: „Darf ich noch einmal wackeln?“ Er Gleich ist es soweit. Gleich lässt sich mit Computer-Hilfe testen, ob das Implantat funktioniert. Doch vorher muss noch das hauchdünne Elektrodenkabel eingesetzt werden. Das Kabelende kommt in die Innenohrschnecke und stimuliert den Hörnerv. der, sind deshalb eher gering – die sensible Phase des Spracherwerbs ist bei den meisten Kindern mit drei Jahren praktisch vorbei. Immerhin: „Drei Tage nach der Erstanpassung des Cochlea-Implantats hat Daniel zum ersten Mal auf den Rettungshubschrauber reagiert“, der immer in der Nähe der Hals-Nasen-Ohren-Klinik landet, erinnert sich Marina Pul- möchte den kleinen Jonas unter den Tüchern etwas anders hinlegen, damit er keine Druckstellen an den Oberarmen bekommt. Dann macht sich der Chirurg daran, ein winziges Loch in die Schnecke zu bohren. Wieder ist nur der Bohrer in der gespannten Stille des Operationssaales zu hören. Fräsen, spülen, absaugen, noch ein prüfender Blick durch das Mikro- Plädoyer für Hörscreening Rund 2.000 Cochlea-Implantate (CI) sind in der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) unter Leitung von Chefarzt Professor Thomas Lenarz bisher implantiert worden. Mit etwa 200 solcher Operationen pro Jahr gilt hannoversche Klinik als weltweit größtes Institut dieser Art. Zum Vergleich: Bundesweit werden insgesamt pro Jahr rund 600 Kinder und etwa 350 Erwachsene mit einem CI versorgt. In Deutschland leben etwa 13,3 Millionen Schwerhörige, die seit ihrer Geburt oder im Laufe ihres Lebens einen Teil ihres Gehörs verloren haben. Nach Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes benötigen etwa fünf Millionen Menschen ein Hörgerät, 26 aber nur etwa 2,5 Millionen haben eins. Daneben gibt es etwa 150.000 ertaubte Menschen, die ihr Gehör nach dem Spracherwerb verloren haben. Ungefähr 56.000 bis 80.000 Menschen sind gehörlos, sie haben ihr Gehör vor dem Spracherwerb verloren. Pro Jahr kommen in der Bundesrepublik vier von 1.000 Kindern mit Hörschäden zur Welt – doch bei vielen wird die Behinderung nicht rechtzeitig erkannt. Deshalb fordern Professor Lenarz und andere Experten seit langem ein Hörscreening bei Neugeborenen, das einfach, schmerzfrei und schnell Auskunft über die Hörfähigkeit der Säuglinge gibt. Ein entsprechender Modellversuch in Hannover soll künftig auf Niedersachsen ausgedehnt werden. Ausgabe 7-8/01, 4. Jahrgang skop – fertig. Jetzt fädelt Dr. Mack vorsichtig eine der beiden feinen Elektroden in die Cochlea und schiebt sie so in das schneckenartige Gebilde, dass sie direkt den Hörnerv im Innern reizen kann. Bei einem gesunden Ohr wird der Schall über das Trommelfell auf die drei Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel übertragen, die wiederum eine Flüssigkeit im Innenohr in Bewegung versetzen. In 20.000 winzigen Haarzellen im Innern löst diese Bewegung eine elektrische Stimulation aus, die über den Hörnerv zum Gehirn übertragen und dort als akustisches Signal interpretiert wird. Bei Jonas – und allen anderen Cochlea-Implantierten – sind diese Haarzellen aber geschädigt oder zerstört. Von Geburt an fehlt bei Jonas zum Beispiel die Muskel, sich reflexartig zusammenzuziehen, um das Gehör vor zu lauten Tönen zu schützen. Auch die anderen Tests ergeben, dass die Elektroden richtig am Hörnerv liegen. Jonas kann hören – er muss es „nur“ noch lernen. atsächlich ist das, was Cochlea-Implantierte hören, nicht mit dem natürlichen Hören gesunder Menschen zu vergleichen. „Es klingt metallisch, wie eine Computerstimme, nur etwas nuancierter“, sagt Professor Rolf-Dieter Battmer, der als Ingenieur für Elektrotechnik unter anderem für die technische T Das Implantat ist drin, die Elektroden sitzen, der Test beginnt. Medizintechniker Werner Kuchanny schickt immer stärkere akustische Signale via Computer ins Innenohr. Geschafft! Das Gehirn empfängt die Impulse. Flüssigkeit im Innenohr. Sein neues Implantat, auch CochleaStimulator genannt, übernimmt die Funktion der Haarzellen, indem er den Hörnerv direkt elektrisch reizt. Jonas braucht dazu aber auch eine Sendespule am Kopf hinter dem Ohr, die mit dem Implantat über einen eingebauten Magneten verbunden wird und die Signale durch die Haut überträgt. Die Spule, die je nach Hersteller wie ein münzgroßes Lenkrad oder ein Knopf aussieht, ist mit einem kleinen Sprachprozessor in der Größe eines kleinen Walkmans und einem Mikrofon verbunden, das später wie ein Hörgerät hinter dem rechten Ohr klemmt. Obwohl Jonas noch tief in der Narkose schläft, leitet sein „neues Ohr“ die Signale schon ans Gehirn weiter. Der Chirurg hat auf das Implantat eine schwarze Spule gesetzt und über Kabel mit einem Laptop verbunden, mit dem der Medizintechniker Werner Kuchanny jetzt unterschiedlich starke Signale in das Innenohr schickt. Der Operateur beobachtet gleichzeitig durch das Mikroskop, ob sich eine kleine Sehne vor der Schnecke (Stapediussehne) bewegt. Kuchanny sagt die Signalstärke an: „190?“ Mack: „Nein“. „200?“ – „Nein“. „210?“ – „Ja, schwach“. Immer, wenn das Signal eine bestimmte Stärke überschreite, erläutert der Chirurg, veranlasst das Gehirn den Ausgabe 7-8/01, 4. Jahrgang Weiterentwicklung der Geräte verantwortlich ist. Allerdings empfinden die Patienten dies nach einiger Zeit nicht mehr so: Das Gehirn gewöhnt sich daran und interpretiert Geräusche und Stimmen schließlich als „normal“. Wie bei jener erwachsenen Patientin, die ihr Gehör durch einen Unfall verloren hatte und ein Implantat bekam. Im ersten Spanienurlaub danach habe sie das Meeresrauschen als furchtbar empfunden, erzählt Battmer und lacht: „Nach dem zweiten Urlaub, sagte sie, klang das wie immer“. Kinder und Erwachsene reagieren dabei sehr individuell auf das Implantat, je nachdem, ob sie von Geburt an taub waren, ob sie vorher Gebärdensprache trainiert oder die Grundzüge ihrer Muttersprache bis zum dritten Lebensjahr gelernt haben. Ist letzteres der Fall, können viele mit Hilfe des Cochlea-Implantats ihre Erinnerung an Sprache reaktivieren. Einfacher ist es auch bei kleinen Babys, die vor dem Spracherwerb schon mit sechs bis acht Monaten operiert werden – „sie sprechen später oft auch einen Dialekt, so dass man die Unterschiede zu gesunden Kindern kaum merkt“, sagt die Medizinpädagogin Dr. Angelika Illg. 27 Im CI-Centrum (Cochlea-Implantations-Centrum), im zweiten Stock der Hals-Nasen-Ohren-Klinik, kümmert sich Dr. Angelika Illg mit anderen Mitarbeitern darum, Tests mit gehörlosen oder fast gehörlosen Kindern vorzunehmen oder die Hör- und Sprachschulung der Patienten zu optimieren. Drei Tage dauert allein die stationäre Voruntersuchung der CI-Patienten – unter anderem wird bei Kleinkindern im Schlaf oder in der Narkose gemessen, ob das Innenohr aktiv auf Schallreize reagiert (otoakustische Emissionen) oder ob die Signale im Stammhirn ankommen (Bera-Test). Ein überraschendes Händeklatschen, ein kleines Glöckchen neben dem Ohr, was Eltern, aber auch Ärzte häufig anwenden, um das Gehör zu testen, sind dagegen nach Ansicht von Angeli- Welche Fortschritte die Kinder dabei machen, welches Sprachvermögen sie entwickeln, ist von vielen Faktoren abhängig. Nur: Haben die Kinder sich bisher mit Gebärdensprache verständigt, wirkt ihre Sprache auch nach der CIAnpassung oft unnatürlich monoton, sagt Dr. Illg. Die Sprachmelodie ist eintönig, Zischlaute und Nasalität sind nicht vorhanden oder ganz anders. Die Kinder hätten oft auch große Probleme mit der Grammatik und dem Wortschatz. Der kleine Jonas weiß von alledem noch nichts. Sein Kopf mit den verschwitzten schwarzen Haaren wird um 11.15 Uhr aus den Tüchern geschält, nachdem der Chirurg die Wunde vernäht und das Ohr zurückgeklappt hat. Über den Verband Noch schläft der kleine Jonas tief und fest nach der geglückten Operation. Mutter Marina ist an seiner Seite, wenn der Kleine aufwacht. Was wird er wohl für Augen machen, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben Mamas Stimme hört? ka Illg völlig zwecklos: „Die fühlen mir alles – jeden Windzug, jede Vibration“. Eben weil der Gehörsinn fehlt, sind andere Sinne, vor allem der Tastsinn, um so schärfer ausgeprägt. Deshalb achtet Dr. Angelika Illg bei allen Gesprächen darauf, dass ihre Patienten zum Beispiel weder Arme noch Beine an den Tisch lehnen – denn die Tischplatte schwingt, unmerklich für Hörende, immer mit. „Selbst Babys tricksen einen da oft aus“, lächelt sie. ngefähr zwei bis sechs Wochen nach der Operation beginnt dann die Rehabilitation, die insgesamt zwölf Wochen in zwei Jahren umfasst. Zunächst wird das Gerät mit dem Sprachprozessor angepasst, dann die Lautstärke allmählich erhöht und auf einen normalen Level eingestellt. Immer wieder wird im Laufe der Zeit geprüft, verbessert, justiert. Parallel dazu läuft die Hör- und Sprachschulung, spielerisch mit kleinen Kindern, wie in der Schule mit größeren. U 28 ziehen Dr. Mack und sein Operationsassistent einen weißen Strumpf, eine Art Rennfahrermütze, die das Gesicht freilässt und Jonas später keine Chance zum Kratzen geben soll. Dann zieht Anästhesist Frank Beger den Tubus aus der Luftröhre und beatmet den Kleinen noch ein bisschen mit der Sauerstoffmaske. Das Schmerzmittel, die Narkose und das Zäpfchen, das er ihm ein paar Minuten vorher gegeben hat, lässt das Baby später den ganzen Tag und die folgende Nacht ruhig schlummern. Jonas blinzelt nicht mal, als seine Eltern einige Minuten später um das Bett ihres Sohnes im Krankenzimmer stehen, schräg gegenüber von Sumitas Bett, und vorsichtig seine kleinen Arme und Beine streicheln. „Aua, aua“, sagt Sumita und lugt kurz durch die Gitterstäbe. Jonas, das hat das kleine Mädchen sofort erkannt, hat auch so einen großen weißen Kopfverband wie sie und ihre Puppe. ∆ Jörn Hons ist freier Journalist in Bremen und spezialisiert auf gesundheits- und sozialpolitische Themen. Tristan Vankann ist freier Fotograf in Bremen. Ausgabe 7-8/01, 4. Jahrgang verstand er immer schlechter, beendete Schule und Studium mit großer Mühe. Jahrzehntelang lebte er mit einem Hörgerät, bevor ihm vor viereinhalb Jahren ein Cochlea-Implantat eingesetzt wurde – auf Leben ohne hören zu können, leben ohne Gehör zu finden – dem linken, 51 Jahre lang tauben Ohr. Erdmann hört seither mit diesem künstlichen in Niedersachsen setzen sich Hörgeschädigte dafür ein, mit der Ohr deutlich besser als mit dem Hörgerät. Schwerhörigkeit – das ist laut Erdmann Krankheit Schwerhörigkeit offen umzugehen. Von Jörn Hons bei vielen Menschen eine stark unterschätzte Behinderung, die in der Öffent„Jaha“ – Rolf Erdmann nickt, wenn er die Schwerhörigen eben, dass sie sich zurück- lichkeit kaum wahrgenommen, gleichzeitig Frage verstanden hat, dann fixieren seine ziehen“, sagt die 44-jährige Braunschwei- aber bewusst verborgen wird. Denn je Augen wieder die Lippen seines Gegenü- gerin. Viele würden ihre Behinderung „als mehr sich die Krankheit verschlimmert, ber. Nicht, dass der 56-Jährige überhaupt noch nicht so schlimm“ abtun – gleichzei- desto mehr ziehen sich die Betroffenen nicht hören könnte. Aber in der lauten tig lebten sie aber mit dem Stigma in der zurück. „Nur wenn ich lesen und Bilder Fußgängerzone in Hannover ist das Verste- Gesellschaft, nicht hören und damit nichts angucken kann, fühle ich mich wohl“, behen für den fast tauben Schwerhörigen, der verstehen zu können. schreibt Müller-Schwarz dieses Gefühl. In rechts ein Hörgerät und links ein CochleaJutta Müller-Schwarz hat vor 22 Jahren der Gemeinschaft mit Hörenden seien Implantat trägt, dann doch etwas proble- die erste Selbsthilfegruppe überhaupt in Hörgeschädigte dagegen „fast ständig bematisch. An diesem Samstag ist Selbsthilfe- Hannover gegründet. „Ich war fast 30 Jahre leidigt“. Denn beim Absehen vom Mund tag in der Landeshauptstadt und Rolf Erd- lang taub“, erzählt die agile 74-Jährige, die gehen die sonst so wichtige Betonung und mann, Vorsitzender emotionale Färbung der des niedersächsischen Sprache verloren. „Wir denLandesverbandes der ken immer: Was redet der Schwerhörigen und wieder schlecht über mich?“ Ertaubten, ist unerGanz andere Probleme bemüdlich dabei, am Inwegt Eltern hörgeschädigter fostand mit Passanten Kinder, weiß Susanne Hariri: zu sprechen und Bro„Die meisten haben große schüren zu verteilen. Angst, weil sie nicht wissen, Der Diplom-Ingeob ihr Kind ein normales Lenieur ist seit fast 20 Jah- Jutta Müller-Schwarz (li.) und Rolf Erdmann setzen sich für die Belange von ben wird führen können.“ ren in der Selbsthilfe Hörgeschädigten ein und werben in der Öffentlichkeit für mehr Verständnis. Die Eltern möglichst früh und Vereinsarbeit aktiv mit der Frage der Hörgeräte – eine nicht ganz einfache Aufgabe. Denn seit 13 Jahren mit einem Cochlea-Implantat oder eines Cochlea-Implantats vertraut zu in Niedersachsen gibt es neben dem Dach- lebt und jetzt ebenfalls am Infostand hilft. machen, um bei kleinen Kindern die Entverband derzeit nur zwei örtliche Vereine „Ich wollte mich einfach mal mit Betroffe- wicklung der Hörbahnen nicht zu verpasfür Schwerhörige und Ertaubte mit zusam- nen über die Probleme unterhalten: soziale sen, ist nur eine Seite der Beratung. Die anmen 300 Mitgliedern. „Ein trauriges Kapi- Isolation, Schwierigkeiten mit dem Part- dere: „Man muss den Eltern klar machen, tel“, sagt Erdmann. Zwar arbeiten daneben ner, mit den Kindern und mit den Hör- dass diese Behinderung jeden Tag intensiauch neun regionale Selbsthilfegruppen, geräten.“ Nur: Schwerhörige oder Taube in ves Training und damit viel Arbeit bedeudie wie in Hannover meist wöchentliche einer Gruppe – das ist nicht so einfach. tet.“ Hariri hat mit ihrer 15-jährigen TochTreffen für Betroffene anbieten – doch bei Denn es darf jeweils nur einer sprechen, ter von klein auf an sprechen geübt, ihr insgesamt etwa 1,5 Millionen Schwerhöri- damit die anderen von den Lippen ablesen Hören und Verstehen trainiert. Immer gen in Niedersachsen ist der Organisati- können. Außerdem gab es oft Konkurrenz- müsse man das Kind dabei anschauen, um onsgrad und das Engagement erschreckend kämpfe: „Schwerhörige wollen immer über ihm über die Lippen und Mimik die Begering. Übrigens nicht anders als bundes- ihre Themen sprechen, denn dann brau- deutung zu vermitteln: „Nebenbei spreweit: Obwohl der Deutsche Schwerhöri- chen sie nicht das zu tun, was sie schlecht chen geht einfach nicht.“ ∆ genbund (DSB) in diesem Jahr sein 100- können – zuhören.“ jähriges Bestehen feiert, gibt es derzeit nur Dabei hat jeder seine eigene Geschichte, Service etwa 90 Vereine und ein paar mehr Selbst- wie er schwerhörig wurde und wie er damit Informationen beim Deutschen Schwerhörihilfegruppen in Deutschland. zurecht kommt. Rolf Erdmann beispielsFür Susanne Hariri, Mutter einer weise verlor das Gehör auf dem linken Ohr genbund e.V., Breite Staße. 3, 13187 Berlin, schwerhörigen Tochter und zweite Vorsit- schon als Baby, durch einen Unfall. Bis Tel.: 030/47541114, Fax: 030/47541116, zende des DSB in Niedersachsen, liegen zum zwölften Lebensjahr konnte er mit www.schwerhoerigen-netz.de/DSB die Gründe auf der Hand: „Typisch ist bei dem rechten Ohr gut hören, doch dann Hörgeschädigte Fotos: Jörn Hons Offenheit statt Rückzug Ausgabe 7-8/01, 4. Jahrgang 29