Sabine Buck Literatur als moralfreier Raum? Zur zeitgenössischen Wertungspraxis deutschsprachiger Literaturkritik mentis PADERBORN Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort und der VolkswagenStiftung. Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Str. 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN: 978-3-89785-743-8 I. EINLEITUNG »Ethics and aesthetics are not the same thing, but taken in their proper breadth, they are symbiotic.«1 ›Ethik darf in Bewertung von Literatur keine Rolle spielen. Literarische Texte sollten allein auf Grundlage ästhetischer Kriterien bewertet werden.‹ Diese oder ähnliche autonomie-ästhetische Dogmen werden im literaturwissenschaftlichen ebenso wie im publizistischen Diskurs über Literatur regelmäßig formuliert. Wir kennen solche Argumente insbesondere aus skandalmodulierten Mediendebatten: In der Christa-Wolf-Debatte, der Walser-Bubis-Debatte oder auch jüngst in der Debatte über Günter Grass’ Waffen-SS-Mitgliedschaft wurde damit von Literaturkritikern auf die moralische Beurteilung literarischer Werke und ihrer Autoren reagiert. Die Vehemenz, mit der in diesen Debatten gegen eine moralische Beurteilung literarischer Texte argumentiert wird, weist im Umkehrschluss bereits darauf hin, dass im Literaturbetrieb auch moralische Bewertungen Praxis sind. In dieser Arbeit soll aufgezeigt werden, wie in der deutschen Literaturkritik der Gegenwart auf verschiedenen Ebenen moralisch gewertet wird. Die Bandbreite moralischer Wertungen reicht hierbei von expliziten Vorwürfen der Amoralität eines Textes bis hin zu Hochwertungen der indirekten Darstellung moralischer Fragen in einem Text: Während z. B. die Texte Endstufe2 und Die Wohlgesinnten3 für ihre moralisch verwerflichen nationalsozialistischen Implikationen kritisiert werden, begründete die Jury des deutschen Buchpreises 2006 die Vergabe des Preises an Katharina Hackers Die Habenichtse4 damit, dass im Text ethisch relevante und lebensbedeutsame Fragen aufgeworfen werden: »Ihre Fragen sind unsere Fragen: Wie willst du leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln?«5 Diese Arbeit setzt sich daher zum Ziel, anhand einer Auswahl literaturkritischer Rezensionen der Gegenwart die zentralen Gegenstände und Argumentationsformen moralischer Literaturbewertung herauszuarbeiten. Im 1 2 3 4 5 Stephen L. Tanner: The Moral and the Aesthetical: Literary Study and the Social Order. In: Stephen K. George (Hrsg.): Ethics, Literature, Theory. New York/Toronto/Oxford 2005, S. 115-127, hier S. 123. Thor Kunkel: Endstufe. Roman. Frankfurt a.M. 2004. Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Übersetzt von Hainer Kober. Berlin 2008. Katharina Hacker: Die Habenichtse. Roman. Frankfurt a.M. 2006. http://www.deutscher-buchpreis.de/de/135020?valid=true&template_ id=2269&meldungs_id=135040, 10.08.2009. 10 I. Einleitung Zentrum der Analyse sollen dabei insbesondere folgende Fragen stehen: In welcher Form fungiert Moral als Argument positiver oder negativer Bewertungshandlungen deutscher Kritiker? Auf welche Eigenschaften literarischer Texte beziehen sich die moralischen Auf- oder Abwertungen? Aufgrund der historischen Debatte über Ethik und Ästhetik und die in diesem Zusammenhang wiederholt behauptete Opposition von Ethik und Ästhetik richtet sich ein weiterer Untersuchungsfokus auf die Frage, in welchem Verhältnis moralische Literaturbewertungen zu formal-ästhetischen Wertungen stehen. Im Verlauf der Studie soll in diesem Zusammenhang dafür argumentiert werden, dass das Verhältnis, in das moralische und formal-ästhetische Wertungen in der Literaturkritik wiederholt zueinander gestellt werden, die gegenwärtige moralische literaturkritische Wertungspraxis inhaltlich und strukturell immer noch auf elementare Weise bestimmt. Einerseits – so die These dieser Arbeit – lässt sich aus der literaturkritischen Wertungspraxis wiederholt eine autonomie-ästhetisch geprägte Polarisierung von moralischen und formal-ästhetischen Aspekten im Umgang mit Literatur beobachten. Andererseits spielen moralische und formal-ästhetische Argumente in literaturkritischen Wertungen wiederholt zusammen. Wie diese Ambivalenz von Zusammenspiel und Polarisierung formal-ästhetischer und moralischer Wertungsargumente im sozialen Handeln der Literaturkritiker erklärt werden kann, bildet daher eine der zentralen Fragen der folgenden Untersuchung. I.1 MORALISCHE LITERATURBEWERTUNG AUS DESKRIPTIVER PERSPEKTIVE Die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Literatur, die also den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildet, hat eine lange Tradition: Seit der Antike wird der Zusammenhang von Kunst und moralischer Reflexion bzw. der Disziplinen Ethik und Ästhetik intensiv diskutiert. Im 20. und 21. Jahrhundert wird in der Literatur- und Kunsttheorie sowie in der Philosophie unter dem Etikett ›Ethik und Ästhetik‹ bzw. ›Ethik und Literatur‹ ebenfalls eine große Bandbreite normativer Positionen verhandelt. Die theoretische Debatte wurde vorrangig durch zwei verschiedene Herangehensweisen geprägt: Erstens wurde in Forschungsbeiträgen über einen möglichen ethischen Nutzen der Literatur für moralische Fragen debattiert. Einen zweiten Schwerpunkt der Diskussion bildeten normative Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Relevanz der Moral für die Künste im Allgemeinen oder für die Literatur im Besonderen. Innerhalb dieser zuletzt genannten Spezialdebatte wird im Wesentlichen verhandelt, wie Literatur sein sollte, wie sie gelesen und wie Texte bewertet werden sollten. Adornos populäre Position des ›Ethischen des Ästhetischen‹ kann als Beispiel für eine prominente normative Theorie über die richtige Bewertung und/oder Rezeption von Literatur interpretiert werden, da Adorno in Bezug auf Literatur postuliert: I.1 Moralische Literaturbewertung aus deskriptiver Perspektive 11 »Wird sie strikt ästhetisch wahrgenommen, so wird sie ästhetisch nicht recht wahrgenommen.«6 Die Debatte über ethische bzw. moralische Literaturbewertung wird folglich im Wesentlichen auf zwei Schauplätzen geführt, erstens in der philologischen und zweitens in der philosophischen Theorie. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass in beiden Disziplinen die Anzahl der normativ ausgerichteten Ansätze überwiegt. Selbst dem Anspruch nach systematische Auseinandersetzungen mit dem Thema ›Ethik und Ästhetik‹ greifen in der Regel auf starke normative Grundannahmen zurück. Außerdem ist den Beiträgen zum Themenkomplex ›Ethik und Ästhetik‹ gemeinsam, dass Theorie und Praxis hier oftmals unabhängig voneinander stehen. In der Theorie wird normativ oder konditional über Formen ethischer Literaturbewertung reflektiert, ohne dabei zu berücksichtigen, wie Literatur in der Praxis faktisch gewertet wird.7 Die beiden eben genannten Charakteristika hat die theoretische und praktische Diskussion um ›Ethik und Literatur‹ bzw. ›Ethik und Ästhetik‹ im Allgemeinen mit großen Teilen der Wertungs- und Kanonforschung gemein.8 Die Kanondiskussion beschäftigt sich in großen Teilen mit den normativen Fragen, welche Texte kanonisiert werden sollten bzw. nach welchen Prinzipien der Kanon umzustrukturieren sei. Selbst prominente Kanontheoretiker wie beispielsweise Harold Bloom9, der auf den ersten Blick die amerikanische Kanonisierungspraxis zu beschreiben scheint, berufen sich letztlich doch auf normative Prämissen, um zu begründen, aufgrund welcher Merkmale Texte kanonisiert werden. Ähnlich wie in der Debatte über ›Ethik und Ästhetik‹ besteht dabei eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Auseinandersetzung mit Kanonphänomenen und der Kanonisierungspraxis. Nur selten werden Kanontheorien und -modelle direkt aus der deskriptiven Analyse faktischer Kanonisierungsprozesse abgeleitet. Neuere Beiträge 6 7 8 9 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1970, S. 17. Wie in Kapitel III noch aufgezeigt werden wird, ist die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis insofern künstlich, als auch der theoretischen Diskussion letztlich eine Wertungspraxis zugrunde liegt. Ich behandle die beiden Forschungsrichtungen hier gemeinsam, da ich Kanonisierung als Wertungsphänomen begreife. Dass Kanones nicht nur Ergebnisse von kanonrelevanten Wertungshandlungen, sondern daneben z. B. auch Bedingungen von Wertungen sein können, verdeutlicht Friederike Worthmann (Friederike Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung). In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. DFG-Symposium 1996. Weimar 1996, S. 9-29). Bloom behauptet z. B., Originalität führe zur Aufnahme literarischer Werke in den Kanon (vgl. Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Ages. London 1996, S. 26). 12 I. Einleitung der Kanon- und Wertungsforschung von Renate von Heydebrand, Simone Winko, Friederike Worthmann u. a. beginnen seit einigen Jahren diese Forschungslücke zu schließen, indem sie Begriffe, Instrumentarien und Modelle der Wertungsanalyse entwickeln, die auch eine wichtige methodische Grundlage dieser Arbeit bilden. Diese wertungstheoretische Grundlagenarbeit soll in meiner Arbeit fruchtbar gemacht werden, indem sie auf eine konkrete Fragestellung angewandt wird, den Komplex ethischer bzw. moralischer Literaturbewertung. In Abgrenzung vom Großteil der theoretischen Arbeiten im Feld ›Ethik und Literatur‹ sowie der Kanonforschung möchte ich in meiner Arbeit literaturkritische Wertungen aus einer deskriptiven Perspektive10 daraufhin untersuchen, ob sie in irgendeiner Form auf Moral Bezug nehmen, um damit u. a. gegen die praktische Relevanz autonomie-ästhetischer Dogmen zu argumentieren. Ausgehend von einer Beschreibung literaturkritischer Wertungen versuche ich so, Formen moralischer Literaturbewertung herauszuarbeiten und diese zu typologisieren. Die Methodik der deskriptiven Wertungsanalyse macht diese Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ›Moral und Literatur‹ zu einer Pilotstudie innerhalb der Forschungsdiskussion um Ethik und Ästhetik. Durch den Fokus der Wertungsanalyse auf moralische Wertungen soll gleichzeitig innerhalb der Wertungsforschung ein neues Feld bearbeitet werden, da ethische und moralische Literaturbewertung in den Monographien und Aufsätzen zur deskriptiven Wertungsforschung bisher nur am Rande thematisiert wurden. Die Relevanz moralischer Wertung in der Rezeption von Literatur wurde bisher nur anhand ausgewählter historischer Stichproben exemplarisch beschrieben. 11 10 11 Damit soll in erster Linie markiert werden, dass Wertungen von Literatur hier beschrieben/nachgezeichnet werden sollen und kein Beitrag zur normativen Frage, wie Literatur bewertet werden soll, geleistet wird. Dass eine systematische Abgrenzung von deskriptiven Aussagen und Wertungen theoretisch problematisch ist, verdeutlicht z. B. Zdzisław Najder (Zdzisław Najder: Values and Evaluations. Oxford 1975, S. 15-41); vgl. auch Hilary Putnam: The Entanglement of Fact and Value. In: Ders.: The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays. Cambridge 2002, S. 28-45. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Aufsatz Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur von Renate von Heydebrand, der die Relevanz ethischer Literaturbewertung aus historischer Perspektive betrachtet (Renate von Heydebrand: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. In: Walter Haug/Wilfried Barner [Hrsg.]: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. Traditionalismus und Moderne. Kontroversen um den Avantgardismus. Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 8. Tübingen 1986, S. 3-11). Daneben gibt es bereits vereinzelt Fallstudien zur Relevanz der Moral in der Rezeption ausgewählter Werke oder in literarischen Debatten. Ralph Müller behandelt z. B. den Einfluss des Wertes Sittlichkeit auf die Rezeption des Buchs Jou Pu Tuan (Ralph Müller: Unsittlichkeit und Unzüchtigkeit. Zwei I.2 Erkenntnisinteresse und argumentativer Aufbau 13 I.2 ERKENNTNISINTERESSE UND ARGUMENTATIVER AUFBAU Ziel dieser Untersuchung ist es nicht, individuelle Wertungsprofile herauszuarbeiten. Aus literatursoziologischer Perspektive wird stattdessen nach gemeinsamen Wertmustern deutscher Literaturkritiker gefragt. Durch eine empirische Untersuchung ausgewählter Kritiken von 1990 bis 2008 sollen kollektiv geteilte Wertmuster der Institution Literaturkritik herausgearbeitet werden. Wie ich bereits skizziert habe, wurde von Renate von Heydebrand, Simone Winko und Friederike Worthmann im Bereich der Wertungsforschung im letzten Jahrzehnt wichtige systematische und methodologische Grundlagenarbeit geleistet. An diese systematischen Grundlagen haben sich bisher jedoch nur wenige literatursoziologische Studien angeschlossen, sodass in Kapitel II dieser Untersuchung zunächst die systematischen Voraussetzungen einer literatursoziologischen Wertungsanalyse erörtert werden sollen, um zu verdeutlichen, welche Grundannahmen zur Festlegung des Untersuchungsgegenstandes vorausgesetzt werden müssen. Darüber hinaus soll hier aus handlungs-, kultur- und systemtheoretischer Perspektive verdeutlicht werden, welche Kontextfaktoren zur Erklärung von Wertungshandlungen herangezogen werden müssen. Anhand dieser systematischen Untersuchung des sozialen Phänomens der Wertung wird ein Vorab-Modell der literatursoziologischen Wertungsanalyse erarbeitet, das die methodische Grundlage der praktischen Untersuchung in den Kapiteln V und VI bilden wird. Im Anschluss an diese theoretischen Vorüberlegungen sollen in Kapitel II operationalisierbare Termini und Modelle als Grundlage der praktischen Analyse erarbeitet werden. Die kontrovers diskutierten Begriffe ›Ethik‹ und ›Moral‹ sowie der komplexe Begriff der Wertung werden in diesem Zusammenhang expliziert. Ausgehend von diesen Begriffsreflexionen entwickle ich am Ende des Kapitels II einen Arbeitsbegriff des Ausdrucks ›moralische Literaturbewertung‹. Im Rahmen des dritten und vierten Kapitels der Untersuchung soll die literatursoziologische Fragestellung zunächst im akademischen und literaturkritischen Diskurs kontextualisiert werden. Kapitel III rekonstruiert die in der Debatte relevanten theoretischen Diskussionen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik als Grundlage der späteren Kategorienbildung, um anschließend die theoretische Argumentation mit der literaturkritischen Wertungspraxis zu vergleichen und ggf. kontrastieren zu können. Das Kapitel widmet sich der Rekonstruktion sowohl traditioneller als auch zeitgenössischer Positionen zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik, womit jedoch nicht vorausgesetzt wird, dass die theoretischen Positionen die Praxis der Literaturvermittlung beeinflusst haben. Die Rekonstruktion der Argumente fungiert im praktischen Teil der Arbeit als Analyseraster, insofern untersucht literarische Wertungsbegriffe. In: Stefan Neuhaus/Johann Holzner [Hrsg]: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 100-109).