Literatur als moralfreier Raum?

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Sabine Buck
Literatur als
moralfreier Raum?
Zur zeitgenössischen Wertungspraxis
deutschsprachiger Literaturkritik
mentis
PADERBORN
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Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
ISBN: 978-3-89785-743-8
I. EINLEITUNG
»Ethics and aesthetics are not the same thing, but taken
in their proper breadth, they are symbiotic.«1
›Ethik darf in Bewertung von Literatur keine Rolle spielen. Literarische Texte
sollten allein auf Grundlage ästhetischer Kriterien bewertet werden.‹ Diese
oder ähnliche autonomie-ästhetische Dogmen werden im literaturwissenschaftlichen ebenso wie im publizistischen Diskurs über Literatur regelmäßig
formuliert. Wir kennen solche Argumente insbesondere aus skandalmodulierten Mediendebatten: In der Christa-Wolf-Debatte, der Walser-Bubis-Debatte oder auch jüngst in der Debatte über Günter Grass’ Waffen-SS-Mitgliedschaft wurde damit von Literaturkritikern auf die moralische Beurteilung
literarischer Werke und ihrer Autoren reagiert. Die Vehemenz, mit der in diesen Debatten gegen eine moralische Beurteilung literarischer Texte argumentiert wird, weist im Umkehrschluss bereits darauf hin, dass im Literaturbetrieb auch moralische Bewertungen Praxis sind.
In dieser Arbeit soll aufgezeigt werden, wie in der deutschen Literaturkritik der Gegenwart auf verschiedenen Ebenen moralisch gewertet wird.
Die Bandbreite moralischer Wertungen reicht hierbei von expliziten Vorwürfen der Amoralität eines Textes bis hin zu Hochwertungen der indirekten Darstellung moralischer Fragen in einem Text: Während z. B. die
Texte Endstufe2 und Die Wohlgesinnten3 für ihre moralisch verwerflichen
nationalsozialistischen Implikationen kritisiert werden, begründete die Jury
des deutschen Buchpreises 2006 die Vergabe des Preises an Katharina Hackers
Die Habenichtse4 damit, dass im Text ethisch relevante und lebensbedeutsame
Fragen aufgeworfen werden: »Ihre Fragen sind unsere Fragen: Wie willst du
leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln?«5
Diese Arbeit setzt sich daher zum Ziel, anhand einer Auswahl literaturkritischer Rezensionen der Gegenwart die zentralen Gegenstände und Argumentationsformen moralischer Literaturbewertung herauszuarbeiten. Im
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3
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Stephen L. Tanner: The Moral and the Aesthetical: Literary Study and the Social
Order. In: Stephen K. George (Hrsg.): Ethics, Literature, Theory. New York/Toronto/Oxford 2005, S. 115-127, hier S. 123.
Thor Kunkel: Endstufe. Roman. Frankfurt a.M. 2004.
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Übersetzt von Hainer Kober. Berlin
2008.
Katharina Hacker: Die Habenichtse. Roman. Frankfurt a.M. 2006.
http://www.deutscher-buchpreis.de/de/135020?valid=true&template_
id=2269&meldungs_id=135040, 10.08.2009.
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I. Einleitung
Zentrum der Analyse sollen dabei insbesondere folgende Fragen stehen: In
welcher Form fungiert Moral als Argument positiver oder negativer Bewertungshandlungen deutscher Kritiker? Auf welche Eigenschaften literarischer
Texte beziehen sich die moralischen Auf- oder Abwertungen?
Aufgrund der historischen Debatte über Ethik und Ästhetik und die in diesem Zusammenhang wiederholt behauptete Opposition von Ethik und Ästhetik richtet sich ein weiterer Untersuchungsfokus auf die Frage, in welchem
Verhältnis moralische Literaturbewertungen zu formal-ästhetischen Wertungen stehen. Im Verlauf der Studie soll in diesem Zusammenhang dafür argumentiert werden, dass das Verhältnis, in das moralische und formal-ästhetische Wertungen in der Literaturkritik wiederholt zueinander gestellt werden,
die gegenwärtige moralische literaturkritische Wertungspraxis inhaltlich und
strukturell immer noch auf elementare Weise bestimmt. Einerseits – so die
These dieser Arbeit – lässt sich aus der literaturkritischen Wertungspraxis wiederholt eine autonomie-ästhetisch geprägte Polarisierung von moralischen
und formal-ästhetischen Aspekten im Umgang mit Literatur beobachten.
Andererseits spielen moralische und formal-ästhetische Argumente in literaturkritischen Wertungen wiederholt zusammen. Wie diese Ambivalenz von
Zusammenspiel und Polarisierung formal-ästhetischer und moralischer Wertungsargumente im sozialen Handeln der Literaturkritiker erklärt werden
kann, bildet daher eine der zentralen Fragen der folgenden Untersuchung.
I.1 MORALISCHE LITERATURBEWERTUNG AUS DESKRIPTIVER PERSPEKTIVE
Die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Literatur, die also den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildet, hat eine lange Tradition: Seit der
Antike wird der Zusammenhang von Kunst und moralischer Reflexion bzw.
der Disziplinen Ethik und Ästhetik intensiv diskutiert. Im 20. und 21. Jahrhundert wird in der Literatur- und Kunsttheorie sowie in der Philosophie
unter dem Etikett ›Ethik und Ästhetik‹ bzw. ›Ethik und Literatur‹ ebenfalls
eine große Bandbreite normativer Positionen verhandelt. Die theoretische
Debatte wurde vorrangig durch zwei verschiedene Herangehensweisen geprägt: Erstens wurde in Forschungsbeiträgen über einen möglichen ethischen Nutzen der Literatur für moralische Fragen debattiert. Einen zweiten
Schwerpunkt der Diskussion bildeten normative Auseinandersetzungen mit
der Frage nach der Relevanz der Moral für die Künste im Allgemeinen oder
für die Literatur im Besonderen. Innerhalb dieser zuletzt genannten Spezialdebatte wird im Wesentlichen verhandelt, wie Literatur sein sollte, wie
sie gelesen und wie Texte bewertet werden sollten. Adornos populäre Position des ›Ethischen des Ästhetischen‹ kann als Beispiel für eine prominente
normative Theorie über die richtige Bewertung und/oder Rezeption von Literatur interpretiert werden, da Adorno in Bezug auf Literatur postuliert:
I.1 Moralische Literaturbewertung aus deskriptiver Perspektive
11
»Wird sie strikt ästhetisch wahrgenommen, so wird sie ästhetisch nicht recht
wahrgenommen.«6
Die Debatte über ethische bzw. moralische Literaturbewertung wird folglich im Wesentlichen auf zwei Schauplätzen geführt, erstens in der philologischen und zweitens in der philosophischen Theorie. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass in beiden Disziplinen die Anzahl der normativ
ausgerichteten Ansätze überwiegt. Selbst dem Anspruch nach systematische
Auseinandersetzungen mit dem Thema ›Ethik und Ästhetik‹ greifen in der
Regel auf starke normative Grundannahmen zurück. Außerdem ist den Beiträgen zum Themenkomplex ›Ethik und Ästhetik‹ gemeinsam, dass Theorie
und Praxis hier oftmals unabhängig voneinander stehen. In der Theorie wird
normativ oder konditional über Formen ethischer Literaturbewertung reflektiert, ohne dabei zu berücksichtigen, wie Literatur in der Praxis faktisch gewertet wird.7
Die beiden eben genannten Charakteristika hat die theoretische und praktische Diskussion um ›Ethik und Literatur‹ bzw. ›Ethik und Ästhetik‹ im Allgemeinen mit großen Teilen der Wertungs- und Kanonforschung gemein.8
Die Kanondiskussion beschäftigt sich in großen Teilen mit den normativen
Fragen, welche Texte kanonisiert werden sollten bzw. nach welchen Prinzipien der Kanon umzustrukturieren sei. Selbst prominente Kanontheoretiker wie beispielsweise Harold Bloom9, der auf den ersten Blick die amerikanische Kanonisierungspraxis zu beschreiben scheint, berufen sich letztlich
doch auf normative Prämissen, um zu begründen, aufgrund welcher Merkmale Texte kanonisiert werden. Ähnlich wie in der Debatte über ›Ethik und
Ästhetik‹ besteht dabei eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Auseinandersetzung mit Kanonphänomenen und der Kanonisierungspraxis. Nur selten werden Kanontheorien und -modelle direkt aus der deskriptiven Analyse faktischer Kanonisierungsprozesse abgeleitet. Neuere Beiträge
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1970, S. 17.
Wie in Kapitel III noch aufgezeigt werden wird, ist die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis insofern künstlich, als auch der theoretischen Diskussion letztlich eine Wertungspraxis zugrunde liegt.
Ich behandle die beiden Forschungsrichtungen hier gemeinsam, da ich Kanonisierung als Wertungsphänomen begreife. Dass Kanones nicht nur Ergebnisse von
kanonrelevanten Wertungshandlungen, sondern daneben z. B. auch Bedingungen von Wertungen sein können, verdeutlicht Friederike Worthmann (Friederike
Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum
Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung). In: Renate von Heydebrand (Hrsg.):
Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. DFG-Symposium 1996. Weimar 1996, S. 9-29).
Bloom behauptet z. B., Originalität führe zur Aufnahme literarischer Werke in
den Kanon (vgl. Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the
Ages. London 1996, S. 26).
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I. Einleitung
der Kanon- und Wertungsforschung von Renate von Heydebrand, Simone
Winko, Friederike Worthmann u. a. beginnen seit einigen Jahren diese Forschungslücke zu schließen, indem sie Begriffe, Instrumentarien und Modelle
der Wertungsanalyse entwickeln, die auch eine wichtige methodische Grundlage dieser Arbeit bilden. Diese wertungstheoretische Grundlagenarbeit soll
in meiner Arbeit fruchtbar gemacht werden, indem sie auf eine konkrete Fragestellung angewandt wird, den Komplex ethischer bzw. moralischer Literaturbewertung.
In Abgrenzung vom Großteil der theoretischen Arbeiten im Feld ›Ethik
und Literatur‹ sowie der Kanonforschung möchte ich in meiner Arbeit literaturkritische Wertungen aus einer deskriptiven Perspektive10 daraufhin untersuchen, ob sie in irgendeiner Form auf Moral Bezug nehmen, um damit
u. a. gegen die praktische Relevanz autonomie-ästhetischer Dogmen zu argumentieren. Ausgehend von einer Beschreibung literaturkritischer Wertungen
versuche ich so, Formen moralischer Literaturbewertung herauszuarbeiten
und diese zu typologisieren. Die Methodik der deskriptiven Wertungsanalyse macht diese Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ›Moral und
Literatur‹ zu einer Pilotstudie innerhalb der Forschungsdiskussion um Ethik
und Ästhetik. Durch den Fokus der Wertungsanalyse auf moralische Wertungen soll gleichzeitig innerhalb der Wertungsforschung ein neues Feld bearbeitet werden, da ethische und moralische Literaturbewertung in den Monographien und Aufsätzen zur deskriptiven Wertungsforschung bisher nur am
Rande thematisiert wurden. Die Relevanz moralischer Wertung in der Rezeption von Literatur wurde bisher nur anhand ausgewählter historischer Stichproben exemplarisch beschrieben. 11
10
11
Damit soll in erster Linie markiert werden, dass Wertungen von Literatur hier beschrieben/nachgezeichnet werden sollen und kein Beitrag zur normativen Frage,
wie Literatur bewertet werden soll, geleistet wird. Dass eine systematische Abgrenzung von deskriptiven Aussagen und Wertungen theoretisch problematisch ist,
verdeutlicht z. B. Zdzisław Najder (Zdzisław Najder: Values and Evaluations. Oxford 1975, S. 15-41); vgl. auch Hilary Putnam: The Entanglement of Fact and Value.
In: Ders.: The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays. Cambridge
2002, S. 28-45.
Eine der wenigen Ausnahmen ist der Aufsatz Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur von Renate von Heydebrand, der die Relevanz ethischer Literaturbewertung aus historischer Perspektive betrachtet (Renate von Heydebrand:
Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. In: Walter Haug/Wilfried Barner [Hrsg.]: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. Traditionalismus
und Moderne. Kontroversen um den Avantgardismus. Kontroversen, alte und neue.
Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 8. Tübingen 1986, S. 3-11). Daneben gibt es bereits vereinzelt Fallstudien zur Relevanz
der Moral in der Rezeption ausgewählter Werke oder in literarischen Debatten.
Ralph Müller behandelt z. B. den Einfluss des Wertes Sittlichkeit auf die Rezeption des Buchs Jou Pu Tuan (Ralph Müller: Unsittlichkeit und Unzüchtigkeit. Zwei
I.2 Erkenntnisinteresse und argumentativer Aufbau
13
I.2 ERKENNTNISINTERESSE UND ARGUMENTATIVER AUFBAU
Ziel dieser Untersuchung ist es nicht, individuelle Wertungsprofile herauszuarbeiten. Aus literatursoziologischer Perspektive wird stattdessen nach gemeinsamen Wertmustern deutscher Literaturkritiker gefragt. Durch eine
empirische Untersuchung ausgewählter Kritiken von 1990 bis 2008 sollen kollektiv geteilte Wertmuster der Institution Literaturkritik herausgearbeitet werden. Wie ich bereits skizziert habe, wurde von Renate von Heydebrand, Simone Winko und Friederike Worthmann im Bereich der Wertungsforschung
im letzten Jahrzehnt wichtige systematische und methodologische Grundlagenarbeit geleistet. An diese systematischen Grundlagen haben sich bisher jedoch nur wenige literatursoziologische Studien angeschlossen, sodass in Kapitel II dieser Untersuchung zunächst die systematischen Voraussetzungen
einer literatursoziologischen Wertungsanalyse erörtert werden sollen, um zu
verdeutlichen, welche Grundannahmen zur Festlegung des Untersuchungsgegenstandes vorausgesetzt werden müssen.
Darüber hinaus soll hier aus handlungs-, kultur- und systemtheoretischer
Perspektive verdeutlicht werden, welche Kontextfaktoren zur Erklärung von
Wertungshandlungen herangezogen werden müssen. Anhand dieser systematischen Untersuchung des sozialen Phänomens der Wertung wird ein
Vorab-Modell der literatursoziologischen Wertungsanalyse erarbeitet, das die
methodische Grundlage der praktischen Untersuchung in den Kapiteln V
und VI bilden wird. Im Anschluss an diese theoretischen Vorüberlegungen
sollen in Kapitel II operationalisierbare Termini und Modelle als Grundlage
der praktischen Analyse erarbeitet werden. Die kontrovers diskutierten Begriffe ›Ethik‹ und ›Moral‹ sowie der komplexe Begriff der Wertung werden
in diesem Zusammenhang expliziert. Ausgehend von diesen Begriffsreflexionen entwickle ich am Ende des Kapitels II einen Arbeitsbegriff des Ausdrucks ›moralische Literaturbewertung‹.
Im Rahmen des dritten und vierten Kapitels der Untersuchung soll die
literatursoziologische Fragestellung zunächst im akademischen und literaturkritischen Diskurs kontextualisiert werden. Kapitel III rekonstruiert die
in der Debatte relevanten theoretischen Diskussionen zum Zusammenhang
von Ethik und Ästhetik als Grundlage der späteren Kategorienbildung, um
anschließend die theoretische Argumentation mit der literaturkritischen
Wertungspraxis zu vergleichen und ggf. kontrastieren zu können. Das Kapitel widmet sich der Rekonstruktion sowohl traditioneller als auch zeitgenössischer Positionen zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik, womit jedoch
nicht vorausgesetzt wird, dass die theoretischen Positionen die Praxis der Literaturvermittlung beeinflusst haben. Die Rekonstruktion der Argumente
fungiert im praktischen Teil der Arbeit als Analyseraster, insofern untersucht
literarische Wertungsbegriffe. In: Stefan Neuhaus/Johann Holzner [Hrsg]: Literatur
als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 100-109).
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