Schädel-Hirn-Trauma: Gehirnerschütterung nach Sportunfall wird unterschätzt Dtsch Arztebl 2016; 113(15): [13]; DOI: 10.3238/PersNeuro.2016.04.15.03 Obwohl das leichte Schädel-Hirn-Trauma eine vergleichsweise häufige Sportverletzung darstellt, wird es in vielen Fällen übersehen, da eine Beurteilung neuro-kognitiver Folgen bei diesen Patienten noch regelhaft unterbleibt. Mehr als 44 000 leichte Schädel-Hirn-Verletzungen durch Sportunfälle werden jährlich in Deutschland diagnostiziert. Nicht immer sind die Symptome eindeutig, so dass die Betroffenen häufig darüber hinweggehen. Foto: iStockphoto Mehr als 44 000 leichte Schädel-Hirn-Verletzungen durch Sportunfälle werden jährlich in Deutschland diagnostiziert. Nicht immer sind die Symptome eindeutig, so dass die Betroffenen häufig darüber hinweggehen. Das leichte Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ist eine häufige Ursache für einen Krankenhausaufenthalt und kann in manchen Fällen sogar zum Tod führen. Die Häufigkeit des leichten SHT und insbesondere einer Gehirnerschütterung wird immer noch zu häufig als eine zu leichte Verletzung eingeschätzt und in ihren Konsequenzen unterschätzt. Derzeit muss davon ausgegangen werden, dass etwa 40–50 Prozent der Gehirnerschütterungen übersehen werden. Die Gehirnerschütterung ist definiert als (neurologische) Funktionsstörung des Gehirns infolge einer direkten oder indirekten Gewalteinwirkung gegen den Kopf mit oder ohne Verletzung des Gehirns. Sie führt typischerweise zu einer raschen, kurzen Beeinträchtigung der neurologischen Funktion, die sich spontan wieder bessert; sie kann jedoch auch zu neuropathologischen Veränderungen führen. Die akuten Symptome weisen eher auf eine funktionelle Störung als auf eine strukturelle Schädigung hin; entsprechend zeigt die Standard-Bildgebung meist keine strukturellen Pathologien. Eine einheitliche und geeignete Klassifikation für die Gehirnerschütterung liegt nicht vor. Die häufig angewendeten Symptome und Zeichen wie Bewusstlosigkeit, Amnesie und/oder Verwirrtheitszustand werden bei Kontaktsportarten nur in etwa 20 Prozent und im Breitensport in maximal zehn Prozent der Fälle beobachtet. Der häufige Akzelerations-Dezelerations-Mechanismus und zusätzliche Rotationskräfte bewirken ein axonales und vaskuläres „stretching“. Dieser Mechanismus kann subtil und nicht offensichtlich sein; entsprechend muss das Gewaltausmaß nicht mit den klinischen Symptomen korrelieren. Systemisch kann durch Entkoppelung von autonomem und Herz-Kreislauf-System eine Herzfrequenz-Variabilität auftreten. Schwereabhängig resultiert zusätzlich eine (mindestens lokale) Abnahme des zerebralen Blutflusses (CBF) und eine Störung der zerebralen Autoregulation. Die „neurometabolische Kaskade“ auf zellulärer Ebene kann zu Zell-Membran-Schäden führen und zu einer erhöhten Blut-Hirn-Schranken-Permeabilität, was in Verbindung mit der Reduktion des CBF eine zelluläre „Energiekrise“ bedingt. Entsprechende Veränderungen sind für sieben bis zehn Tage regelhaft nachweisbar. Ein vielfältiger Symptom-Komplex ist kennzeichnend. Dieser beinhaltet klinische und neuro-kognitive Symptome sowie Verhaltens- und Schlafveränderungen. Die häufigsten primären Symptome sind: Kopfschmerzen (70–80 Prozent), Schwindel (34–70 Prozent), Übelkeit/Erbrechen (20–40 Prozent), Nackenschmerzen (circa 20 Prozent), Schwäche/Müdigkeit (20–50 Prozent), visuelle Störungen (circa 20 Prozent) und Empfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm (10–60 Prozent). Evaluation am Spielort Es wird die Verwendung des Pocket Recognition Tools empfohlen, das ausschließlich die Symptomatik und die Maddocks-Fragen beinhaltet. Der Zeitaufwand beträgt maximal eine Minute. Eine orientierende Einschätzung kann auch durch Laien erfolgen. Eine sofortige ärztliche Evaluation eines Patienten ist notwendig bei Vorliegen der nachfolgenden „red-flag“-Symptome: jugendliches Alter, Verwirrtheit > 30 min, Bewusstseins-Verlust > 5 min, fokal-neurologisches Defizit, Pupillendifferenz und Verschlechterung einer Symptomatik oder der Bewusstseinslage. Der Sportler sollte nicht allein gelassen werden, eine regelmäßige Überwachung innerhalb der nächsten Stunden muss gewährleistet sein. Im Zweifel gilt: „Auswechseln“! Vorgehen in Krankenhaus/Praxis Die klinische und neurologische Einschätzung dieser Patienten ist unzureichend, da eine Beurteilung neurokognitiver Folgen noch regelhaft unterbleibt. Die primäre ärztliche Beurteilung erfolgt anhand standardisierter Notfall-Management-Protokolle. Die sofortige Beurteilung auch der kognitiven Funktionen wird als wesentlicher Bestandteil bei der initialen Beurteilung einer Gehirnerschütterung angesehen – zum Beispiel mittels des SCAT-3, der modifiziert auch für Kinder zur Verfügung steht. Das SCAT-3-Screening umfasst die Analyse von klinischen Symptomen, den Glasgow Coma Scale, die Durchführung kurzer Tests zur Beurteilung der Orientierung zur Zeit (Maddocks-Fragen), die Analyse von Konzentration, Erinnerungsvermögen und Koordination sowie eine standardisierte Testung des Gleichgewichts. Der Gleichgewichtstestung kommt ein hoher Stellenwert primär und auch in der Verlaufsbeurteilung zu. Daneben ist eine ausführliche Anamnese nötig, eine klinische Untersuchung mit neurologischem Befund sowie eine neuropsychologische Evaluation (zum Beispiel Gleichgewichts-Testung, kognitive Testung und Gangbildanalyse). Aufgrund der prognostischen Relevanz sollte die Anzahl vorbestehender Gehirnerschütterungen und die Dauer der Symptomatik insbesondere anamnestisch abgefragt werden, falls es sich um eine erneute Gehirnerschütterung handelt, ob ein geringeres Trauma zur erneuten Gehirnerschütterung führte. Zusätzlich sollte eine Bewusstlosigkeit oder eine Amnesie (retrograd und/oder antegrad) erfragt werden. Laborchemische Untersuchungen (zum Beispiel S100ß oder genetische Parameter) sind im Einzelfall sinnvoll, haben sich bisher aber noch nicht durchsetzen können. Bei Vorliegen von Risikofaktoren oder der „red-flag“-Symptome ist eine radiologische Diagnostik zwingend. Sie dient dem Ausschluss oder der Bestätigung struktureller Gehirnerschütterungsfolgen. Die Röntgennativaufnahme des Schädels ist nicht hilfreich und deshalb zu unterlassen. Mit den „New Orleans Criteria“ und der „Canadian CT Head Rule“ liegen validierte Kriterien zur Durchführung einer Schädel-CT-Untersuchung (CCT) nach einem leichten SHT vor. Der funktionellen MRT wird in der Zukunft die wichtigste Relevanz eingeräumt. Neuropsychologische Testung: Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass nach Gehirnerschütterung mit relevanten neurokognitiven Störungen zu rechnen ist. Mittels computerbasierten neuropsychologischen Testungen kann die Sensitivität und Spezifität der Erholung im Vergleich zur alleinigen Symptombeurteilung verbessert werden. Therapie und Symptomerholung Eine richtungsweisende Therapie ist nicht bekannt. Es ist lediglich bekannt, dass geistige und körperliche Ruhe die Heilung unterstützt – auch, wenn sie erst sekundär umgesetzt wird. Eine leichte körperliche Belastung und Physiotherapie kann aber gerade bei Sportlern vorteilhaft sein, die sich nur langsam erholen. Regelhaft kommt es innerhalb kurzer Zeit zur vollständigen Symptomerholung. In 85 Prozent der Fälle dauert die Symptomatik maximal eine Woche und in 97 Prozent besteht vollständige Symptomfreiheit nach einem Monat. Eine komplette Symptomerholung erfolgt typischerweise spätestens innerhalb von drei bis zwölf Monaten. Dabei kommt es häufiger zu einer schnelleren Erholung der klinischen Symptome, während neuro-kognitive Störungen etwas länger persistieren. Trotzdem können nach einem Jahr noch in > 15 Prozent relevante Symptome, überwiegend Kopfschmerzen und Bewegungsstörungen, bestehen. Faktoren für prolongierte Erholung Primär vorhandene erhebliche Kopfschmerzen, Schwäche/Müdigkeit und das Vorliegen einer Amnesie sowie eine pathologische neurologische Untersuchung verlängern die Erholung. Weitere Faktoren sind das weibliche Geschlecht, das initiale Vorliegen einer retrograden oder antegraden Amnesie, vorbestehende hirnfunktionelle Störungen, Angstzustände, Depressionen, Lernstörungen und/oder Migräne. Daneben kann eine zu frühe postkontusionelle Belastung die Rekonvaleszenz und die neurokognitive Erholung verzögern. Kinder und Jugendliche weisen statistisch eine verlängerte Rehabilitationsphase auf. Wiederaufnahme des Sports Der Berücksichtigung der Pathophysiologie und des natürlichen Erholungsverlaufes kommt entscheidende Bedeutung in der Entscheidung des „return-to-play“ zu. Ein Sportler sollte in Ruhe und nach Belastung klinisch und kognitiv symptomfrei sein, bevor wieder eine Wettkampf-Fähigkeit besteht! Voraussetzung ist die vollständige Erholung und Belastung im schulischen oder beruflichen Bereich. Eine Wiederaufnahme des Sports noch am Tag des Traumas ist die absolute Ausnahme. Entsprechend wird ein gestaffeltes Konzept zur Wiedererlangung der Arbeits- und Sportfähigkeit favorisiert. Es vergehen also vom Tag des Unfalles immer mindestens sechs bis zehn Tage bis zur Matchfähigkeit, entsprechend der Mindestzeit für die Erholung der Nervenzellen. Langzeitprobleme In der unmittelbaren posttraumatischen Phase nach der Gehirnerschütterung ist das Gehirn besonders vulnerabel aufgrund der noch andauernden pathophysiologischen Veränderungen. Es besteht ein deutlich erhöhtes Risiko nach einer Gehirnerschütterung, eine weitere Gehirnerschütterung zu erleiden. Kommt es zu einer zweiten oder weiteren Gehirnerschütterung, steigt das Risiko für einen noch protrahierteren Verlauf beziehungsweise für Komplikationen bis zur (teilweise malignen) Hirnschwellung (Second Impact Syndrome). Diese seltenen Fälle sind mit einer Letalität von bis zu 50 Prozent und einer Morbidität bis zu 100 Prozent assoziiert. Bei einigen Patienten verbleiben über längere Zeit unspezifische Symptome (Post Concussion Syndrom). Diese Symptomatik wird als unspezifisch angesehen, da viele dieser Symptome bei anderen Verletzungen oder Erkrankungen auch bestehen können. Dr. med. Axel Gänsslen, Dr. med. Wolfgang Klein Klinikum Wolfsburg, Wolfsburg Dr. med. Ingo Schmehl Unfallkrankenhaus Berlin, Klinik für Neurologie, Berlin Prof. Dr. med. Eckhard Rickels Allgemeines Krankenhaus Celle, Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Neurotraumatologie Interessenkonflikt: Der Autor Gänsslen erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt. Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit1516 Mit der Kampagne „Schütz Deinen Kopf“ (www.schuetzdeinenkopf.de) wird ein Ausbildungs- und Lehrkonzept zur Gehirnerschütterung im Breiten- und Leistungssport mit Integration der Schulen und Sportvereine etabliert.