7 Entropie und Unbestimmtheit 7.1 Zeitmittel und Scharmittel: Statistische Gesamtheiten Um die Funktion S(U, V, n) mikroskopisch zu berechnen, betrachten wir als Beispiel eine gewisse Stoffmenge n einer chemisch reinen Substanz, die in ein starres Volumen V eingeschlossen ist. Aus Sicht der Quantenmechanik handelt es sich um ein N-TeilchenProblem (N = nNA , NA = 6.02 × 1023 mol−1 ) mit dem Hamilton-Operator Ĥ(V, N) = N 2 X p̂ i i=1 2m + (V ) vext (r̂i ) + (i) ĥintr + N −1 X N X w(r̂i , r̂j ) (198) i=1 j=i+1 Dieser Operator hängt vom Volumen V ab über das äußere Potential 0 : r ∈ V, (V ) vext (r) = ∞ : r∈ / V. (199) (i) Der Term ĥintr beschreibt die intrinsische Energie des i-ten Atoms (elektronische Anregungen) oder Moleküls (elektronische, sowie Schwingungs- und Rotationsanregungen). Das Potential w(ri , rj ) beschreibt eine Zweiteilchen-Wechselwirkung zwischen den Molekülen, die für Verflüssigung eines Gases und Gefrieren einer Flüssigkeit verantwortlich ist. In Abwesenheit der Wechselwirkung w(ri , rj ) spricht man von einem idealen Gas. Die Eigenzustände |Ψσ (V, N) i ≡ |σi von Ĥ heißen die Mikrozustände des Systems, Ĥ(V, N) |σi = Eσ (V, N) |σi, σ = 1, 2, 3, ... (200) In der Ortsdarstellung wird aus |σi die N-Teilchen-Wellenfunktion Ψσ , Ĥ(V, N) Ψσ (r1 , r2 , ..., rN ) = Eσ (V, N) Ψσ (r1 , r2 , ..., rN ), σ = 1, 2, 3, ... (201) wobei ri die Ortskoordinate des i-ten Atoms ist. (Atome hier der Einfachheit halber als spinlose Massenpunkte ohne elektronische Struktur.) In der klassischen Statistik wäre ein Mikrozustand des Gases durch Angabe der momentanen Orte ri und Impulse pi aller einzelnen Teilchen gegeben, Klassischer Mikrozustand: (r1 , p1 ; r2 , p2 ; ...; rN , pN ). (202) Im thd. Gleichgewicht befindet sich das System in einem bestimmten Makrozustand, der durch die Werte von D unabhängigen thd. Variablen charakterisiert wird, etwa (U, V, n) oder (p, V, n) oder (T, V, n), etc. Es ist klar, daß es viel ”mehr“ Mikrozustände eines bestimmten Systems gibt als Makrozustände. In gewissem Sinne wird jeder Makrozustand durch (sehr) viele verschiedene Mikrozustände realisiert. 48 Wäre der Hamilton-Operator (198) exakt, so wären die Zustände |σi stationär. Angesichts der ungeheueren Größe des Systems ist jedoch eine Störung, etwa durch die Atome der Systemwand, unvermeidlich. Der tatsächliche Zustand |Ψ (t)i des Systems läßt sich zu jeder Zeit (zumindest näherungsweise) in der Basis {|σi} entwickeln, X |Ψ (t)i = aσ (t) |σi. (203) σ Entsprechend ist der Erwartungswert A einer Observable  des Systems zeitabhängig, X A(t) ≡ hΨ (t)|Â|Ψ(t)i = (204) a∗σ (t) aσ′ (t) hσ|Â|σ ′ i. σ,σ′ Speziell für die Energie  = Ĥ(V, N) ergibt sich wegen hσ|Ĥ|σ ′ i = Eσ (V, N)δσ,σ′ X |aσ (t)|2 Eσ (V, N). U(V, N; t) = (205) σ Die Koeffizienten aσ (t) sind Lösung einer komplizierten Schrödinger-Gleichung mit unbekanntem Hamilton-Operator. Im thd. Gleichgewicht erwarten wir jedoch, daß der Erwartungswert (204) schnell und nur geringfügig um einen konstanten Mittelwert fluktuiert. Wir simulieren diese Situation durch eine große Gesamtheit identischer Systeme (auch Ensemble genannt), die alle exakt durch den Hamilton-Operator (198) beschrieben werden und sich insbesondere jeweils in einem seiner stationären Zustände |σi befinden. Die relative Häufigkeit, mit der ein bestimmter Zustand |σi in diesem Ensemble vertreten ist, bezeichnen wir mit pσ . Sie soll den zeitlichen Mittelwert der Wahrscheinlichkeit |aσ (t)|2 simulieren, mit der der Eigenzustand |σi in der Wellenfunktion (203) enthalten ist. Wir ersetzen also das Zeitmittel von Gl. (204), Z 1 T dt A(t), (206) AZeit := lim T →∞ T 0 durch das Scharmittel ASchar = X pσ hσ|Â|σi. (207) σ (Dabei wird im Grunde vorausgesetzt, daß die gemischten Terme σ ′ 6= σ aus Gl. (204) zum Zeitmittel nicht beitragen.) Diese Mittelung ist doppelt, da der quantenmechanische Erwartungswert hσ|Â|σi seinerseits über das Ensemble mit den Wahrscheinlichkeiten pσ gemittelt wird. Die optimale Wahl für jedes pσ wäre vermutlich der zeitliche Mittelwert Z 1 T pσ = lim dt |aσ (t)|2 . (208) T →∞ T 0 Da wir jedoch die aσ (t) nicht kennen, müssen wir eine einfachere Definition finden. 49 7.2 Mikroskopische Definition der Entropie Wir können uns von der Vorstellung leiten lassen, daß das System im thd. Gleichgewicht im Lauf der Zeit unterschiedliche Zustände |σi annimmt, und zwar jeweils mit der Wahrscheinlichkeit pσ . Da der makroskopische Zustand dabei so außergewöhnlich stabil ist, muß diese Wahrscheinlichkeitsverteilung in hohem Maße ausgewogen sein. Die Menge der verfügbaren Mikrozustände |σi sollte durch das System bei seiner Zufallswanderung so gründlich wie möglich abgetastet werden. Mit anderen Worten: Der aktuelle Mikrozustand wird so effizient wie möglich vor dem makroskopischen Beobachter verborgen. Wir verlangen daher, daß die Wahrscheinlichkeitsverteilung P = {pσ } so unbestimmt wie möglich sein soll. Unbestimmtheit kann präzise definiert werden: Definition: Die Unbestimmtheit I(P ) einer Wahrscheinlichkeitsverteilung P = {pσ } ist die mittlere Anzahl fairer ja/nein-Fragen, die erforderlich sind, um den Ausgang σ eines Zufallsexperiments zu ermitteln. (Eine ja/nein-Frage heißt fair, wenn jede ihrer beiden Antworten exakt mit der Wahrscheinlichkeit 50% zutrifft.) Ist z.B. ein Ergebnis σ eingetreten, dessen Wahrscheinlichkeit eine ganzzahlige 2erPotenz war, pσ = 1/2n , so muß eine Person, die dieses Ergebnis nicht beobachtet hat, offenbar genau n = − log2 pσ ≡ fσ Fragen der genannten ArtPstellen, um es Pzu erfahren. Sind alle pσ solche 2er-Potenzen, so gilt entsprechend I(P ) = σ pσ fσ ≡ − σ pσ log2 pσ . So ist etwa beim Münzwurf I(P ) = 1, während beim sicheren Zufallsexperiment, das nur einen möglichen Ausgang mit p = 1 hat, sinnvollerweise I(P ) = 0 folgt. Wir übernehmen diese Formel allgemein als quantitative Definition von I(P ), auch wenn die pσ nicht ausschließlich ganzzahlige 2er-Potenzen sind [demnach sind beim Würfeln im Mittel I(P ) = log2 6 = 2.58 faire Fragen erforderlich], ersetzen aber den binären Logarithmus durch den natürlichen (wodurch lediglich ein Faktor ln 2 auftritt), X I(P ) ≡ − pσ ln pσ ≥ 0. (209) σ Entsprechend der zuletzt festgestellten Ausgewogenheit der statistischen Verteilung der Mikrozustände |σi legen wir deren Wahrscheinlichkeiten pσ folgendermaßen fest: Mikroskopische Definition der Entropie: Die Wahrscheinlichkeiten P = {pσ } der bei gegebenem Makrozustand U, V, N möglichen Mikrozustände |σi sind so verteilt, daß die Unbestimmtheit (209) im Rahmen der durch die Werte von U, V und N auferlegten Nebenbedingungen maximal wird. Dieser maximale Wert ist proportional zur Entropie S(U, V, N) des Makrozustands, ) ( X S(U, V, N) ≡ max pσ ln pσ . (210) −kB P →{U,V,N } kB ≡ R/NA = 1.3807 × 10 −23 J/K = 8.617 × 10 50 σ −5 eV/K ist die Boltzmann-Konstante. Wir wollen zunächst diese Entropiedefinition plausibel machen. Ein System Σ , das durch eine isolierende Wand in zwei Subsysteme Σ1 und Σ2 aufgeteilt ist, besitzt den Hamilton-Operator Ĥ(V, N) = Ĥ1 (V1 , N1 ) + Ĥ2 (V2 , N2 ). (211) Seine Eigenzustände sind direkte Produkte aus Eigenzuständen von Ĥ1 und Ĥ2 , |σi = |σ1 i(1) ⊗ |σ2 i(2) ≡ |σ1 , σ2 i (212) Wegen der gegenseitigen Isolation sind die beiden Subsysteme statistisch unabhängig und die Wahrscheinlichkeit für den Produktzustand |σi ≡ |σ1 , σ2 i beträgt ! ! X X X (2) = 1. (213) · p(2) pσ = p(1) pσ = p(1) σ2 σ1 pσ2 , σ1 σ σ1 σ2 Dann folgt für die Unbestimmtheit (209) der Mikrozustände des Gesamtsystems: i h X (1) (2) (2) ln p + ln p p(1) p I(P ) = − σ1 σ2 σ1 σ2 σ1 ,σ2 = − X σ1 (1) p(1) σ1 ln pσ1 − X (2) p(2) = I(P1 ) + I(P2 ). σ2 ln pσ2 (214) σ2 I(P ) ist also eine extensive Zustandsgröße. Herausziehen der Trennwand ergibt ein neues System Σ ′ , in dem zu den vorher möglichen Mikrozuständen |σ1 , σ2 i viele weitere hinzu kommen. Dadurch kann sich der maximale Grad der Unbestimmtheit sicherlich nicht verringern, I(P ′) ≥ I(P ). (215) (Wir schließen hier das Gleichheitszeichen nicht aus, da die Subsysteme Σ1 und Σ2 dieselbe Zusammensetzung haben können, wobei sich wegen der quantenmechanischen Ununterscheidbarkeit gleichartiger Teilchen beim Herausziehen der Wand nichts ändern würde.) Gl. (215) erinnert an den Teil 2 des Entropieprinzips, wonach S bei einem Prozeß in einem isolierten System nicht abnehmen kann. 7.3 Die kanonische Gesamtheit Für ein thd. System, das in thermischem Kontakt mit einem Wärmebad gegebener Temperatur T ist, müssen die pσ folgende Nebenbedingungen erfüllen: X X pσ = 1, pσ Eσ (V, N) = U. (216) σ σ 51 Es werden also P Mikrozustände |σi verschiedener Energien Eσ (V, N) zugelassen; nur deren Mittelwert σ pσ Eσ muß gleich U sein. Die Energien Eσ (V, N) sind also keiner Mikro-, sobdern nur einer (schwächeren) Makro-Nebenbedingung unterworfen. Nach Gl. (210) wählen wir die pσ so, daß die Größe (209) unter diesen Bedingungen (die wir durch zwei Lagrange-Multiplikatoren α und β berücksichtigen) maximal wird, ( ) X X X ∂ − pτ ln pτ − α pτ − β pτ Eτ (V, N) = 0. (217) ∂pσ τ τ τ Differentiation führt auf die Gleichung −(ln pσ + 1) − α − β Eσ (V, N) = 0, mit der Lösung pσ = e−(1+α) e−β Eσ (V,N ) . (218) Wir eliminieren α durch die erste Nebenbedingung (216) und schreiben pσ = e−β Eσ (V,N ) , Z(β, V, N) Z(β, V, N) ≡ X e−β Eσ (V,N ) . (219) σ Dieses Ensemble heißt kanonische Gesamtheit, der Normierungsfaktor Z(β, V, N) ist die kanonische Zustandssumme. Sie besitzt die bemerkenswerte Eigenschaft P −β Eσ (V,N ) ∂ σ Eσ (V, N) e − ln Z(β, V, N) = ≡ U(β, V, N). (220) ∂β Z(β, V, N) Dies ist die (vorgegebene) Energie U als Funktion der unabhängigen Variablen β, V, N. Diese ist bezüglich β umkehrbar, β = β(U, V, N), denn die Ableitung P P −β Eσ 2 Z σ Eσ2 e−β Eσ − ∂ σ Eσ e − U(β, V, N) = ≡ ∆E 2 (β, V, N), (221) ∂β Z2 mit dem Schwankungsquadrat ∆E 2 ≡ h(Eσ − U)2 i, ist immer positiv. Mit den Wahrscheinlichkeiten (219) folgt nach Definition (210) für die Entropie, X S(β, V, N) ≡ −kB pσ ln pσ = kB βU(β, V, N) + kB ln Z(β, V, N). (222) σ Bilden wir unter Ausnutzung von Gl. (220) das Differential dieser Größe, # " h i ∂ ln Z ∂ ln Z dV + dN , (223) dS = kB βdU + Udβ + kB −Udβ + ∂V ∂N β,V β,N wobei die Udβ-Terme herausfallen, so können wir identifizieren: 1 ∂S 1 1 ∂U −1 β = ≡ = . kB ∂U V,N kB ∂S V,N kB T 52 (224) Damit folgt schließlich aus Gl. (222) das bemerkenswerte Resultat: X F (T, V, N) = −kB T ln Z(T, V, N), Z(T, V, N) ≡ e−Eσ (V,N )/kB T . (225) σ Die Berechnung der kanonischen Zustandssumme liefert also gerade die freie Energie des Systems, und zwar genau als Funktion ihrer natürlichen Variablen T, V und N. Mit dieser Fundamentalform sind bereits alle thd. Eigenschaften des Systems bestimmt. Bemerkung: Zur Illustration empfiehlt es sich, an dieser Stelle Kapitel 8 vorzuziehen, bevor mit Abschnitt 7.4 fortgefahren wird. 7.4 Andere Gesamtheiten Da die thd. Eigenschaften eines Systems, etwa seine Fundamentalform S = S(U, V, N), nicht davon abhängen können, ob es bei gegebenen Werten von U, V und N in thermischem Kontakt mit einem Wärmebad und/oder in diffusivem Kontakt mit einem Teilchenreservoir oder von seiner Umgebung isoliert ist, muß eine statistische Beschreibung in allen Fällen zu denselben Ergebnissen führen. 7.4.1 Die großkanonische Gesamtheit Besteht neben thermischem Kontakt mit einem Wärmebad der Temperatur T zusätzlich chemischer Kontakt mit einem Teilchenreservoir mit chemischem Potential µ, so ist neben der Energie U auch die Teilchenzahl N nur im Mittel vorgegeben. Es werden also Mikrozustände |σi mit verschiedenen Energien Eσ (V ) und verschiedenen Teilchenzahlen Nσ zugelassen. Die Wahrscheinloichkeiten pσ sind dann den Nebenbedingungen X X X pσ = 1, pσ Eσ (V ) = U, pσ Nσ = N. (226) σ σ σ zu unterwerfen. Infolge P der dritten (neuen) dieser Bedingungen erscheint in Gl. (217) der zusätzliche Term −γ τ pτ Nτ , mit einem dritten Lagrange-Multiplikator γ, und wir erhalten anstelle von Gl. (219) die großkanonischen Wahrscheinlichkeiten pσ = e−β Eσ (V )−γ Nσ , Ξ (β, V, γ) Ξ (β, V, γ) ≡ X e−β Eσ (V )−γ Nσ . (227) σ Schreiben wir die großkanonische Zustandssumme Ξ (β, V, γ) in der Form Ξ (β, V, γ) = ∞ X N =0 −γN e X σNσ (V )=N −β Eσ (V ) e ≡ ∞ X N =0 53 e−γN Z(β, V, N), (228) wobei die zweite Summe jeweils nur über Mikrozustände fester Teilchenzahl Nσ = N läuft, so wird offensichtlich, daß die großkanonische Gesamtheit nichts weiteres ist als ein Ensemble aus kanonischen Gesamtheiten mit unterschiedlichen Teilchenzahlen aber einheitlicher Temperatur T = 1/kB β. (Damit haben wir bereits den Parameter β bestimmt.) In völliger Analogie zu Gln. (220) und (221) gelten ∂ ln Ξ (β, V, γ) = U(β, V, γ), ∂β ∂ ln Ξ (β, V, γ) = N(β, V, γ), − ∂γ − ∂ U(β, V, γ) ≡ ∆U 2 (β, V, γ); ∂β ∂ − N(β, V, γ) ≡ ∆N 2 (β, V, γ), ∂γ − Es existieren also die Umkehrungen β = β(U, V, γ) und γ = γ(β, P V, N). Mit obigen W’keiten pσ folgt jetzt für die Entropie S = −kB σ pσ ln pσ h i S(β, V, γ) = kB β U(β, V, γ) + γ N(β, V, γ) + ln Ξ (β, V, γ) . (229) (230) Mit den Beziehungen (229) folgt für ihr Differential h ∂ ln Ξ i dS = kB βdU + Udβ + γdN + Ndγ − Udβ + dV − Ndγ . ∂V β,γ (231) Nach Wegfall der Udβ- und der Ndγ-Terme identifizieren wir jetzt kB β = ∂S ∂U V,N = 1 , T kB γ = µ =− , T ∂S ∂N U,V mit dem chemischen Potential µ = µ(U, V, N). Entsprechend schreiben wir jetzt X Ξ (T, V, µ) = e−(Eσ −µNσ )/kB T , Eσ = Eσ (V ). (232) (233) σ Insbesondere folgt damit aus Gl. (230) −kB T ln Ξ (T, V, µ) = Ω (T, V, µ), (234) mit dem großen thd. Potential Ω (T, V, µ) := U − T S − µN ≡ −P V. (235) Dessen partielle Ableitungen sind ∂Ω ∂T = −S(T, V, µ), V,µ ∂Ω ∂V = −P (T, V, µ), T,µ 54 ∂Ω ∂µ = −N(T, V, µ). (236) T,V