ANTHROPOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN NATURWISSENSCHAFTEN SERIE: TEIL 11 / 12 NATURWISSENSCHAFTEN 1 EINFÜHRUNG Schon dem jungen Rudolf Steiner wurde seine spirituelle Veranlagung bewusst. Seine Lehrer rieten den Eltern, ihn studieren zu lassen. An der Technischen Hochschule in Wien studierte er Naturwissenschaften und Mathematik, um selbst Lehrer zu werden. Doch bald fesselten ihn ebenso die Philosophie bei Franz Brentano wie die deutsche Klassik bei Karl Julius Schröer. Ab 1890 gab er in Weimar Goethes naturwissenschaftliche Schriften »Zur Morphologie« aus dessen Nachlass erstmals vollständig heraus. Er schloss sich dem Anliegen Goethes an, die Naturwissenschaften nicht nur zur technischen Anwendung zu bringen, sondern sie zur gesellschaftlichen Bildungskultur beitragen zu lassen. Das ist noch heute keineswegs gelungen, weil die technische Verwendung im Vordergrund steht. Den Waldorfpädagogen und Evolutionsbiologen Prof. Dr. Wolfgang Schad an der Universität Witten / Herdecke regte Steiners Auffassung von Geist an, dass derselbe nicht in lebensfernen Theoremen, Systemen und Konstrukten besteht, sondern das Geistige dann seinen Namen verdient, wenn es umfänglich lebenstauglich, also praxisfähig ist. Darauf beruht die gewachsene Praxistauglichkeit der Anthroposophie. Sie versucht, durch die Selbsterkenntnis den immer besser kennenzulernen, der so massiv in die Welt eingreift: den Menschen. Die naturwissenschaftliche Methodik bietet dafür das erste Übungsfeld durch Erfahrung und Verstehen. So gab Steiner seinem frühen philosophischen Hauptwerk »Die Philosophie der Freiheit« den Untertitel »Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode«. Beide Seiten verbindet auch der folgende Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Schad. ››› Manon Haccius IMPRESSUM Anthroposophische Perspektiven / Zwölfteilige Serie Teil 11: Die Naturwissenschaften heute und in Zukunft – Gut für die Technik und schlecht für die Kultur? Autor: Wolfgang Schad Herausgegeben von: Manon Haccius, Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Darmstädter Straße 63, DE-64404 Bickenbach, www.alnatura.de Copyright © 2011 by Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bickenbach Gestaltung: usus.kommunikation, Berlin Abbildungen: Rudolf Steiner Archiv, Dornach; Bernhard Rüffert (8, Porträt); NASA / Smith / Generosa (5 Sonnensystem); NASA / CXC / M. Weiss (5 Spiralnebel); NASA/CXC/SAO (2); W. Schad (6) Verlag: mfk corporate publishing GmbH, Prinz-Christians-Weg 1, DE-64287 Darmstadt Druck: alpha print medien AG, Darmstadt Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil des Werks darf ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme oder Datenträger verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Herausgebers und des Autors unzulässig. 2 DIE NATURWISSENSCHAFTEN HEUTE UND IN ZUKUNFT – GUT FÜR DIE TECHNIK UND SCHLECHT FÜR DIE KULTUR? WOLFGANG SCHAD Sie sitzen im Zug. Wo haben Sie sich Ihren Platz gesucht? Natürlich dort, wo noch wenige sind. Am besten allein im Coupé. Warum eigentlich? Wir sind überfüttert vom Anblick unbekannter Menschen. Das ist recht anders im Afrika südlich der Sahara. Ob Bus oder Bahn, der Einheimische setzt sich möglichst dorthin, wo schon jemand sitzt. Dann hat man doch jemanden, mit dem man plaudern kann. Auch wir in Europa sitzen – besonders in Wochenendzügen – eng zusammen, aber wir schweigen uns an. Wir reden nur, wenn es sein muss, miteinander. Doch es gibt Ausnahmen. Es wird lauthals miteinander gesprochen: per Handy. Serien von Familienintimitäten bekommt man über einen halben Großraumwagen mit, die man von keinem Nebensitzer erzählt bekommen würde. Das ist eine der unseren Alltag handgreiflich bestimmenden Auswirkungen der Naturwissenschaften: Zwischen Mensch und Mensch schalten wir ein Maschinchen dazwischen und natürlich die Medien. Medium heißt Mitte. Medien sollen vermitteln. Sie tun es nur im Informationsgehalt. Ihr Erlebnisgehalt aber ist reine Täuschung. Vom Erlebnisreiz lebt die Unterhaltungsindustrie. In den USA gibt es in jedem größeren Laden eine Kassette zu kaufen: »Mother’s heartbeat – baby feels well, while mother ist shopping«. Wie praktisch. Sie möchte einkaufen gehen, und derweil bekommt der Kleine im Bettchen Mutters Herzschlag vorgespielt, so als ob er bei ihr schlafen dürfte – und wird belogen. Da die Nachwachsenden immer weniger auf ihnen vertraute Realmenschen treffen, kennen sie kein lohnendes Urvertrauen ins Leben mehr. Wir sind zur »lonely crowd« geworden, zur Masse der Vereinsamten. Das ist eine gar nicht so ferne Fernwirkung der Naturwissenschaften. Wir leben aber nicht nur in der Menschenentfremdung, sondern auch in der Weltentfremdung. Wir sehen die natürliche Umwelt nicht mehr so, wie sie sich darbietet, sondern so, wie das naturwissenschaftliche Denkkonzept sie uns anbietet: als Industriepalast. Pflanzen, Tiere und Menschen sind Eiweißmaschinen, von der Software ihrer DNA gesteuert. Also nutzt diese Welt nur noch als Rohstoffressource für die Cyberwelt. Ökokatastrophen sind die logischen Folgen. Hier regt sich längst Widerstand: politisch in der grünen Bewegung und in der Vernunft des Einzelnen sowieso. Immer mehr Leute merken sich die Halbwertzeit des Plutoniums: 24 200 Jahre wird es dauern, bis die Hälfte dieses im 20. Jahrhundert künstlich erzeugten radioaktiven Elementes zerfallen sein wird. Nach 200 000 Jahren ist noch etwa ein Prozent vorhanden – das ist ist immer noch zuviel. Haben alle an den politischen und wirtschaftlichen Hebeln der Macht Sitzenden die Zahl von 24 200 Jahren Halbwertzeit des Plutoniums aus ihrer Schulzeit noch im Kopf? Rechnen wir auf 100 Jahre 3 Generationen, so müssen unabdingbar dreimal 2 000 (= 6 000) Generationen unserer Nachfahren die Quittung für diese Technik einlösen. Ist also, als der geistige Verursacher dieser Sachlage, die Naturwissenschaft des Teufels? Keineswegs. Der Begründer einer modernen gründlichen Menschenkunde, der Anthroposophie, sah einen anderen Umgang mit dem Anliegen der Naturwissenschaft als Möglichkeit. Rudolf Steiner: »An der Naturwissenschaft liegt es wirklich nicht, die bietet tatsächlich Gediegenes.« Steiners Kritik lag vielmehr darin, dass nicht immer die Naturwissenschaftler, wohl aber die Naturwissenschaft voll des guten Geistes ist. ABBAU DER DOPPELHEIT IN DER WELT Die europäische Aufklärung stand an der Wiege der modernen Naturwissenschaften. Der französische Denker René Descartes (1596 – 1650) teilte alle Erfahrungen in zwei Hälften ein: alle räumlichen, also messbaren Dinge einerseits und die eigenen Bewusstseinsinhalte andererseits. Keines könne vom anderen abgeleitet werden und das jeweils andere erklären. Descartes begründete die Sicht von der Doppelheit der Welt: den Dualismus. Doch alle Menschen werden trotzdem den Verdacht nicht los, dass wir letztlich mit der Welt in einer Einheit leben. Ganzheitssuche, Ganzheitsmedizin, ein ganzheitli- NATURWISSENSCHAFTEN 3 ches Weltverständnis werden überall proklamiert, um uns aus dem kartesischen Dualismus, diesem öffentlichen Spaltungsbewusstsein, zu erlösen. Drei Einheitsanschauungen (Monismen) bieten sich dafür an: • Es gibt nur das räumlich Mess-, Wäg- und Abzählbare (Materialismus). • Es gibt nur das sicher, was ich von der Welt in meinem Bewusstsein vorfinde. Die Welt ist mein Konstrukt (Konstruktivismus). • Materie und Bewusstsein, Leib und Seele, Geist und Stoff sind alles ein und dasselbe (Holismus). Jeder dieser drei Monismen bleibt ideologieverdächtig, auch wenn man mit allen dreien ungeniert Naturwissenschaft machen kann. Gibt es nicht auch eine Teilberechtigung des Dualismus? Als kleine, staunende Kinder nennen sich Karl und Liese mit ihrem Namen, denn so werden sie von allen genannt. Sie erleben sich als Weltinhalt. Das kleine Kind ist Monist. Dann tritt das Bewusstsein der eigenen Einmaligkeit ein. Karlchen und Lieschen bezeichnen sich selbst mit dem gleichen Wort, wie die Erwachsenen längst: »Ich«. Ich und Welt haben sich getrennt. Die Kinder werden Dualisten. Die Ganzheit mit der Welt spaltet sich in Subjekte und Objekte – aber nur für das menschliche Bewusstsein. Im Alltagsbewusstsein des Menschen trennen sich beide Hälften. Der Weltgehalt ist zwar ganzheitlich einschließlich des Menschen. Er zerfällt aber im menschlichen Bewusstsein ab dem dritten Lebensjahr in den Dualismus von Innenwelt und Außenwelt. So beginnt aus dem Dualismus heraus die Suche nach der verlorenen Einheit, nach der Zusammengehörigkeit von allem. Dieser dritte Schritt bringt einen erneuerten Monismus hervor, der nicht mehr der alte ist. Das macht alle Kultur aus. Diese Suche ist nun der lebenslange Beweggrund für echte Wissenschaft, alle Künste und Religionen. Also letztlich auch der Naturwissenschaften. Naturwissenschaft als Kulturtherapie? Die Natur hält sich dafür bereit. Der Naturwissenschaftler Goethe mit den an ihn anschließenden goetheanistischen Naturforschern und auch die Väter der Quantenphysik seien als Beispiele angeführt. Jedes Mal wurde die Subjekt- / Objektspaltung neu überbrückt. Der Weg vom frühen Monismus über den Dualismus zu einem neuwertigen Monismus geschieht bei näherem Zusehen bei jedem Menschen. Die ersten beiden Schritte treten wie von selbst ein, der dritte hingegen geschieht nur aus eigenem Antrieb auf der eigenen, rein individuellen Suche. Kultur tritt nie automatisch von selbst auf, sondern bedarf des Engagements. Aber nicht nur in jedem Menschenleben spielt sich die gekennzeichnete Entwicklung mehr oder weniger ab, sondern auch im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Beim Eintreten der Selbst- und Weltentfremdung halfen die Naturwissenschaften kräftig mit. Das antike 4 und mittelalterliche Weltbild zerbrach unter den Entdeckungen der Astronomen, Physiker, Biologen und Psychologen. Viele fühlten sich dadurch verunsichert und angegriffen. So sprach 1917 Sigmund Freud von drei narzistischen Kränkungen des menschlichen Seelenlebens, welche die Neuzeit dem menschlichen Selbstverständnis zugefügt habe: • Die Entdeckung, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems stehe, durch Nikolaus Kopernikus 1543. • Die Entdeckung, dass der Mensch aus dem Tierreich abstamme, durch Charles Darwin 1859. • Die Entdeckung, dass im Menschen das bewusste Ich nicht Herr im eigenen Seelenhaushalt ist, durch Sigmund Freud 1917. DIE ERDE IM WELTRAUM Nun muss der Autor ein Geständnis machen: Ich fühle mich überhaupt nicht durch Kopernikus gekränkt. Die Feststellung, nicht die Erde, sondern die Sonne stehe inmitten aller Planeten, hat sich seit dem 16. Jahrhundert allgemein durchgesetzt, nachdem schon Plato 2 000 Jahre vorher diese Idee erwähnt hatte. Die kopernikanische, heliozentrische Auffassung des Planetensystems ist eine wundervolle Entdeckung: Wäre die Erde die Sonne oder stünde sie nahe an der Sonne, so würde die Hitze so groß sein, dass alles Leben verkochen müsste. Stünde sie weiter weg, als es der Fall ist, so wäre es viel zu kalt für alles Leben. Auch die Größe des Erdballs ist optimal. Wäre sie kleiner, so könnte die geringere Schwerkraft nicht das Wasser und die Atmosphäre – Grundlage des Lebens – auf ihr festhalten. Beides fehlt dem Mond. Wäre sie größer, so wäre die Gewichtszunahme auf ihr erdrückend. Durch ihre ausgewogene Stellung, Größe und Mondbegleitung ist sie der alleinige Planet des Lebens im gesamten Sonnensystem. Leben ist nicht unter extremen Bedingungen möglich, sondern in der gemäßigten Mitte. »Mitte« ist hier nicht die räumliche, sondern die funktionelle Mitte. 1718 stellte der englische Astronom Edmund Halley fest, dass die Fixsterne nicht starr zueinander stehen, sondern sich bewegen. Daraufhin kartierte Wilhelm Herschel ihre Bewegungsrichtungen über den gesamten Sternenhimmel hin und entdeckte 1783, dass sie im und um das Sternbild des Herkules vorwiegend auseinanderweichen, beim gegenüberliegenden Sternbild der Taube im Südhimmel sich scheinbar aufeinander zubewegen. Hier zeigt sich der perspektivische Eindruck davon, dass sich unser gesamtes Sonnensystem im Sternenraum in Richtung des Herkules selbst auch bewegt (Apexbewegung). Der Herkules und seine Nachbarbilder sind für uns blasse Sterne am Sommerhimmel, im Gegensatz zu den hell leuchtenden Wintersternbildern um den Orion oberhalb der Taube. Es ist, als ob die Sonne als hell leuchtender Fixstern selbst am Ausgleich durch ihre Wanderrichtung beteiligt ist. Unser Sonnensystem, nicht maßstabgerecht, und seine Lage im Milchstraßensystem. Bild links: Sonnensystem von innen nach außen: Sonne; innere Planeten: Merkur, Venus, Erde (siehe Pfeil), Mars; Asteroidengürtel; äußere Planeten: Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun (© Nasa/Smith, Generosa). Bild oben: Die Rekonstruktion unseres Milchstraßensystems (Lage unseres Sonnensystems darin, siehe Pfeil) von außen ergab einen Balkenspiralnebel (© Science Library, London). Die Stellung der Sonne mit ihren Begleitern ist eine beachtenswerte. Wir können die mit bloßem Auge gut sichtbaren Fixsterne der Sternbilder deshalb als die hervorstechenden Sterne sehen, weil sie uns noch relativ nahe stehen. Sehr viel weiter umgibt uns das Milchstraßenband. Der holländische Astronom C. Easten hatte um 1900 die Vermutung, dass dieses Band einen Spiralnebel von innen gesehen darstellt. Das konnte im Laufe des 20. Jahrhunderts gesichert werden. Es wurde inzwischen ermittelt, dass die Milchstraße ein Balkenspiralnebel mit vier Spiralarmen ist, worin die Sonne mit ihren sie beglei- tenden Planeten und näheren Fixsternen steht. Ihre und damit auch der Erde Stellung ist nun nicht im Kern dieses Spiralnebels und nicht in seiner Peripherie, sondern in einer Zwischenlage. Dabei liegt sie mit ihren nahen Himmelsgeschwistern nicht auf einem der Spiralnebelarme, auch nicht zwischen zweien, sondern in der Nähe eines solchen, wiederum die möglichen Extreme vermeidend. Sind das nicht alles dankbar zu bewundernde Ergebnisse der Naturwissenschaft von der Lage unserer Erde im näheren und weiteren Gesamt des astronomischen Kosmos? Es besteht heute kein Anlass mehr zur Kränkung durch die kopernikanische Astronomie. NATURWISSENSCHAFTEN 5 GEMEINSAME VORFAHREN Der früheste bekannte Vertreter der Menschheit ist heute ein versteinerter Schädel mit einem Alter von sieben Millionen Jahren, 2001 gefunden in der Sahelzone der südlichen Sahara Afrikas, daher genannt »Sahelanthropus«. Schon vor Darwin war den meisten Naturwissenschaftlern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts klar, dass alle Organismen einer gemeinsamen Entwicklung (Evolution) entsprungen sind. Durch Darwin wurde diese Entdeckung seit 1859 in weiten Bevölkerungskreisen bekannt. Was soll daran kränkend sein? Alle Organismen sind danach miteinander und untereinander Brüder und Schwestern. Diese geschwisterliche Auffassung ist doch etwas tief Befriedigendes. Und indem wir Menschen als einzige uns dessen bewusst werden, übernehmen wir damit solidarisch die Verantwortung für den Erhalt aller Arten. Nur die reine Kampftheorie Darwins ist sehr zeitgebunden ausgefallen und keinesfalls naturwissenschaftlich. Kränkt uns aber nicht doch die damit behauptete Abstammung des Menschen von den nächststehenden Affen, den Menschenaffen? Charles Darwin und seinem deutschen Kollegen Ernst Haeckel war selbst klar, dass 6 keiner der heutigen Menschenaffen der natürliche Vorfahre des Menschen gewesen sein konnte. Der Sahelanthropus zeigt im Bau des Gesichtsschädels viele menschliche Züge, zum Beispiel eine vertikale Antlitzfront. Der Bau des kleinen, flachen Gehirnschädels ist jedoch mehr schimpansenartig gebaut. Dieser Sahelanthropus muss dem etwas älteren gemeinsamen Vorfahren noch recht ähnlich gewesen sein. Er ist eine Mischform, die die Merkmale zur Entmischung in beide Richtungen enthielt. Der heute führende Urmenschenforscher, Prof. Dr. Friedemann Schrenk an der Universität Frankfurt, hat es im Darwin-Gedenkjahr 2009 formuliert: Der Mensch stammt nicht vom Affen ab, sondern von einer gemeinsamen Mischform, die die Merkmale und Entwicklungspotenzen zu beiden Richtungen in sich trug. Der Zusammenhang ist also evolutiv ein noch engerer, als man vorher meist angenommen hatte. Was soll daran kränkend sein? Schädel eines Jetztmenschen Homo sapiens aus dem Mittelalter, des Sahelanthropus tschadensis, der vor sieben Millionen Jahren lebte, und eines heutigen Schimpansen (von links nach rechts). Die Gesichtsfront des Sahelanthropus ähnelt dem Jetztmenschen, der Gehirnschädel dem des Schimpansen (Foto: W. Schad). DAS »ICH« IM UNBEWUSSTEN Wie aber steht es mit der dritten narzistischen Kränkung Freuds, mit seiner eigenen Entdeckung der unbewussten Regionen der Seele, der Tiefenpsyche? Sie war schon im Blick der naturwissenschaftlich interessierten Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts, wie Novalis, Carl Gustav Carus und Gotthilf Heinrich Schubert. Ende des 19. Jahrhunderts waren es dann die Ärzte Breuer, Adler, Freud und Jung, die sich besonders der seelisch bedingten Leiden ihrer Patienten annahmen und bei ihnen und Freud sah weitgehend die dunkle Seite im Unbewussten, Jung ahnte die helle Seite davon, Steiner beschrieb sie gezielt: Wir können nie mit uns gänzlich zufrieden sein. Gerade das macht uns entwicklungsfähig. sich selbst auf die Tiefenpsyche stießen. Freuds Resultat war: »Das Ich ist nicht Herr im Hause«, und beschrieb dies als dritte narzistische Kränkung der Menschheit. Hier geht es um eine Frage, die über die Naturwissenschaft hinausreicht, auch wenn Freud versuchte, sie auf dem Weg der naturwissenschaftlichen Analyse, eben der Psychoanalyse, anzugehen. Schon Goethe wusste um seine Untiefen und gestand: »Wenn der Mensch über sein Physisches oder Moralisches nachdenkt, findet er sich gewöhnlich krank.« Darum lobte er sein Heilmittel, sich nicht so sehr mit sich selbst, sondern mit der Natur zu beschäftigen. Der Introvertierte braucht den Blick in die Natur, der Extrovertierte bedarf der Besonnenheit auf sich selbst. Schiller dichtete so im Blick auf Goethe und sich: Wahrheit suchen wir beide, Du außen im Leben, ich innen In dem Herzen, und so findet sie jeder gewiss. Ist das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer, ist es das Herz, dann gewiss spiegelt es innen die Welt. NATURWISSENSCHAFTEN 7 Aber welche Rolle spielt dabei das Freud’sche Ich? Dieses Alltags-Ich bemerkt bei einiger Bestandsaufnahme, dass es von vielen Antrieben mitbestimmt wird, die es oft nicht wahrhaben will und zum Selbstschutz lieber verdrängt. Doch das bekommt auf die Dauer nicht. Der Umgang mit sich selbst ist eine Lebenskunst, um sich und andere einschätzen und schätzen zu lernen. Das trifft zum Beispiel auf jeden erzieherischen Beruf zu. So machte Rudolf Steiner als Begründer der Waldorfschulpädagogik bald die von ihm zusammengerufenen Lehrer darauf aufmerksam, dass in jedem Menschen ein zweiter »sitzt«, von dem man als moderner Mensch wissen müsse. Anhand einer Krankengeschichte aus der Feder von C. G. Jung machte er auf die Raffinesse und Intriganz dieser Tiefen und Untiefen aufmerksam: »Und dieses Unterbewusstsein des zweiten Menschen, der im Menschen sitzt, ist oftmals viel raffinierter als der Mensch in seinem Oberstübchen … In jedem Menschen sitzt unten, gleichsam unterirdisch, der andere Mensch. In diesem anderen Menschen lebt auch der bessere Mensch, der sich immer vornimmt, bei einer Handlung, die er begangen hat, in einem ähnlichen Falle die Sache das nächste Mal besser zu machen« (GA 293, Seite 67 ff.). Das ist eine weittragende Entdeckung: In unserem Wachbewusstsein kennen wir einigermaßen den Unterschied von Gut und Böse, von Besser und Schlechter. Im Unterbewussten ist aber die Spannung zwischen beiden weitaus größer. Das Fragwürdige und das Bessere in uns sind dort noch viel prägnanter vorhanden und setzen sich noch viel dramatischer auseinander. Die Heftigkeit der Kriegsführung miteinander ist hier noch sehr viel größer und würde uns gewaltig den täglichen Seelenfrieden stören, wenn wir das Unbewusste jederzeit im Bewusstsein haben könnten. Deshalb sind wir erst einmal davor geschützt, indem diese Gefilde gewöhnlich unbewusst bleiben. Doch das eben macht die Moderne aus, einiges, was unbewusst da ist, bewusst zu bekommen. Freud sah weitgehend nur die dunkle Seite darin, Jung ahnte die helle Seite davon, Steiner beschrieb sie gezielt: Wir können nie mit uns gänzlich zufrieden sein. Gerade das macht uns entwicklungsfähig. Ist das nicht eine wertvolle, dankbar begrüßenswerte Entdeckung in der Tiefenpsyche? Sie kränkt durchaus nicht, sondern bringt uns weiter. Wir tragen nicht nur unser Tages-Ich mit seinen eingefahrenen Rollen mit uns herum, sondern jeder in sich noch einen versteckten Menschen, der das unverbrüchliche Recht auf Menschenwürde gewährleistet: Unser wahres Selbst. Wir besitzen ein öffentlich gespieltes und ein unauffälliges wahres Ich. Freuds Vorstoß in die Tiefenpsyche ist also gar kein Anlass, über sich selbst persönlich gekränkt zu sein, sondern ganz im Gegenteil: Eine erweiterte Selbsterfassung gehört zur schönsten, weil sozialsten Entdeckung der 8 Moderne. Sozialverhalten wird dann nicht mehr von außen vorgeschrieben oder durch Konditionierung eingeschliffen. Erst die in den eigenen Tiefenschichten selbst entdeckte freimotivierte Selbstlosigkeit hilft tatsächlich. Wer fühlt sich heute noch gekränkt? Der Autor jedenfalls durch alle drei neuzeitlichen Entdeckungen nicht. Früher bestand die Schulung des Denkens in der Auflösung langer Satzperioden griechischer und lateinischer Schriftsteller. Zu viel selbstständigerem Denken führt jede gute methodische Bildung an den Naturwissenschaften. Das muss auch von den Naturwissenschaftlern selbst erst wieder entdeckt werden, dass sie von hohem Bildungswert sind. Sie stärken – recht betrieben – Wahrnehmungsfreude, Wahrheitsstreben, Selbstkontrolle und umsichtiges, welttaugliches Denken. DER AUTOR Prof. Dr. Wolfgang Schad, geboren 1935 in Biberach, Studium der Biologie, Chemie und Physik in Marburg und München, der Pädagogik in Göttingen. Lehrer an der Waldorfschule Pforzheim von 1962 – 75, Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik sowie am Freien Hochschulkolleg in Stuttgart von 1975 – 91, 1992 Berufung auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Evolutionsbiologie und Morphologie der Universität Witten / Herdecke, heute emeritiert. Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderem »Säugetiere und Mensch« 1971 und vier Sammelbände »Goetheanistische Naturwissenschaft« von 1982 – 85. LESE-TIPPS: Schad, Wolfgang: »Goethes Weltkultur«, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2007. Ders. (Hrsg.): »Naturwissenschaft heute im Ansatz Goethes«, Verlag Johannes Mayer, Stuttgart/Berlin 2008. Ders. (Hrsg.): »Evolution als Verständnisprinzip in Kosmos, Mensch und Natur«, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2009. Ders.: »Säugetiere und Mensch. Studien zur Gestaltbiologie«, 2 Bände, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart (voraussichtlich 2012). Eine Publikation von