2. Kongruenzsätze (SWS und SSS) ohne Parallelen. In diesem Kapitel beginnen wir mit der systematischen Aufstellung der Euklidischen Geometrie wie man sie in [Euklid, Elemente] findet. Als erstes Lehrstück dieser Systematik werden wir in diesem Kapitel sehen, wie Euklid die Kongruenzsätze aus der Axiomatik der Euklidischen Geometrie ableitet. Es gibt hier ein paar kleine Eigenheiten wie z.B. der Versuch, wirklich alles definieren zu wollen. Es wird z.B. auch versucht zu definieren was ein Punkt und was eine Gerade ist. Heute steht man (nach Hilbert) auf dem Standpunkt, daß Punkt und Gerade in der Euklidischen Geometrie undefinierbare Grundbegriffe sind. Aber davon abgesehen ist die Herleitung der Kongruenzsätze heute immer noch gültig. Was uns hier besonders interessiert ist die Tatsache, daß Euklid die Kongruenzsätze auf einem sehr fundamentalen Niveau herleitet. Natürlich wird in der Euklidischen Geometrie nicht mehr gemessen, nachdem ja von den Pythagoräern festgestellt worden ist, daß nicht alle geraden Strecken meßbar sind. Aber genauso bemerkenswert ist vielleicht die Tatsache, daß Euklid zur Herleitung der Kongruenzsätze auch nicht die Existenz und Eindeutigkeit von Parallelen voraussetzt. Es gibt also in diesem Teil noch keine Parallelverschiebung. Wir werden erst im nächsten Kapitel sehen, wie Euklid die Existenz von Parallelen herleitet. Die ”Kongruenz” stellt eine gewisse Äquivalenzrelation zwischen den geometrischen Objekten der Euklidischen Ebene dar. Eine andere, schwächere Äquivalenzrelation, an die man an dieser Stellle auch denken könnte, ist die ”Flächengleichheit”. Mit der beschäftigen wir uns im übernächsten Kapitel. Wir beginnen mit der Euklidischen Axiomatik auf der alle Argumente in der Euklidischen Geometrie letztlich beruhen. Für eine moderne, aber auch sehr viel abstraktere Fassung dieser Axiomatik siehe [Hilbert, Grundlagen der Geometrie] oder für eine erste Einführung meine Skripte [Johannson, Geometrie]. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 30 . Geometrie (L2) 1. Die Axiomatische Grundlegung der Euklidischen Geometrie. Wir wollen darauf achten, ob Euklid bei der Herleitung der Kongruenzsätze das Parallelenaxiom oder gar die Existenz von Paralellelen benutzt. Ansonsten wollen wir natürlich sehen wie die Kongruenzsätze bewiesen, d.h. streng logisch aus den Axiomen der Euklidischen Geometrie hergeleitet werden. An dieser Stelle bemerken wir noch, daß die Euklidischen Axiome (die wir hier kennenlernen und für das Folgende zugrunde legen wollen) eine bestimmte, uns zwar anschaulich sehr vertraute, aber doch nicht einzig mögliche Geometrie, beschreiben. Es gibt im Gegenteil noch sehr viel andere sinnvolle Geometrien. Als besonders wichtige Beispiele werden wir später noch die sphärische und die hyperbolische Geometrie behandeln. Die Euklidische Geometrie ist unter diesen Geometrien durch die Gültigkeit des Parallelenaxioms ausgezeichnet. Das Parallelenaxiom lautet im Originaltext (deutsche Version): 5. Gefordert soll sein daß, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind. Die anderen Axiome sind viel kürzer. Sie lauten: Gefordert soll sein: 1. dass man von jedem Punkte nach jedem Punkte die Strecke ziehen kann. 2. dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend verlängern kann. 3. dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis ziehen kann. 4. dass alle rechten Winkel einander gleich sind. Zu den obigen Axiomen gehören noch verschiedene Definitionen. Wie z.B. 5. Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade linie gestellt, einander gleiche Winkel bildet, dann ist jeder der beiden gleichen Winkel ein Rechter. 23. Parallel sind gerade Linien, die in derselben Ebene liegen und dabei, wenn man sie nach beiden Richtungen ins unendliche verlängert, auf keiner einander treffen. Hier ist die vollständige Liste aller Definition, Postulate und Axiome aus [Euklid]. Klaus Johannson, Geometrie (L2) §2 Kongruenzsätze 31 2. Die Aufstellung der Euklidischen Geometrie. Definitionen. 1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat, 2. Eine Linie breitenlose Länge. 3. Die Enden einer Linie sind Punkte. 4. Eine gerade Linie (Strecke) ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig liegt. 5. Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat. 6. Die Enden einer Fläche sind Linien. 7. Eine ebene Fläche ist eine solche, die zu den geraden Linien auf ihr gleichmässig liegt. 8. Ein ebener Winkel ist die Neigung zweier Linien in einer Ebene i gegeneinander, die einander treffen, ohne einander gerade fortzusetzen. 9. Wenn die den Winkel umfassenden Linien gerade sind, heißt der Winkel geradlinig. 10. Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade Linie gestellt, einander gleiche Nebenwinkel bildet, dann ist jeder der beiden Winkel ein Rechter. 11. Stumpf ist ein Winkel, wenn er größer als ein Rechter ist, 12. Spitz, wenn kleiner als ein Rechter. 13. Eine Grenze ist das, worin etwas endigt. 14. Eine Figur ist, was von einer oder mehreren Grenzen umfasst wird. 15. Ein Kreis ist eine ebene, von einer einzigen Linie [die Umfang (Bogen) heißt] umfasste Figur mit der Eigenschaft, dass alle von einem innerhalb der Figur gelegenen Punkte bis zur Linie [zum Umfang des Kreis] laufende Strecken einander gleich sind; 16. Und Mittelpunkt des Kreises heißt dieser Punkt. 17. Ein Durchmesser des Kreises ist jede durch den Mittelpunkt gezogene, auf beiden Seiten vom Kreisumfang begrenzte Strecke; eine solche hat auch die Eigenschaft den Kreis zu halbieren. 18. Ein Halbkreis ist die vom Durchmesser und dem durch ihn abgeschnittenen Bogen umfasste Figur. [und Mittelpunkt ist beim Halbkreis derselbe Punkte wie beim Kreis]. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 32 . Geometrie (L2) 19. Geradlinige Figuren sind solche, die von Srecken umfaßt werden, dreiseitige die von drei, vierseitige, die von vier, vielseitige, die von mehr als vier Strecken umfaßten. 20. Von den dreiseitigen Figuren ist ein gleichseitiges Dreieck jede mit drei gleichen Seiten, ein gleichschenkliges jede mit nur zwei gleichen Seiten, ein schiefes jede mit drei ungleichen Seiten. 21. Weiter ist von den dreiseitigen Figuren ein rechtwinkliges Dreieck jede mit einem rechten Winkel, ein stumpfwinkliges jede mit einem stumpfen Winkel, ein spitzwinkliges jede mit drei spitzen Winkeln. 22. Von den vierseitigen Figuren ist ein Quadrat jede, die gleichseitig und rechtwinklig ist, ein längliches Rechteck jede, die zwar rechtwinklig aber nicht gleichseitig ist, ein Rhombus jede, die zwar gleichseitig aber nicht rechtwinklig ist, ein Rhomboid jede, in der die gegenüberliegenden Seiten sowohl als Winkel einander gleich sind und die dabei weder gleichseitig noch rechtwinklig ist; die übrigen vierseitigen Figuren sollen Trapeze heißen, 23. Parallel sind gerade Linien, die in derselben Ebene liegen und dabei, wenn man sie nach beiden Seiten ins unendliche verlängert, auf keiner einander treffen. Postulate. Gefordert soll sein: 1. Dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann, 2. Dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend gerade verlängern kann, 3. Dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis zeichnen kann, 4. Dass alle rechten Winkel einander gleich sind, 5. Und dass man, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind. Klaus Johannson, Geometrie (L2) §2 Kongruenzsätze 33 Axiome. 1. Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich. 2. Wenn Gleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen gleich. 3. Wenn von Gleichem Gleiches weggenommen wird, sind die Reste gleich. 4. Wenn Ungleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen ungleich. 5. Die Doppelten von demselben sind einander gleich. 6. Die Halben von demselben sind einander gleich. 7. Was einander deckt, ist einander gleich. 8. Das Ganze ist größer als der Teil. 9. Zwei Strecken umfassen keinen Flächenraum. Bemerkung. Damit ist das System der Euklidischen Geometrie festgelegt. Es ist für das Folgende sehr wichtig von vornherein hervorzuheben, dass man in der griechischen Mathematik nicht gemessen (man hatte hierfür auch gar nicht die Möglichkeiten. Ein Zahlsystem wie heute gab es bei den Griechen nicht). • Also Strecken hatten keine Längen, da Längen nicht gemessen i werden konnten. • Ebene Figuren hatten keinen Flächeninhalt, da Flächeninhalte nicht gemessen werden konnten. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 34 . Geometrie (L2) 3. Zwei Grundkonstruktionen. Im Folgenden werden wir einige Beweise des Euklidischen Lehrbuchs vorstellen. Wir werden dabei alle benutzten Definitionen, Postulate und Axiome fettgedruckt herausheben. Dies soll es erleichtern, alle Voraussetzungen herauszufinden, die in einem Beweis benutzt wurden. Auf diese Weise sieht man z. B. leicht, dass in diesem Abschnitt das Parallelenaxiom (Post. 5) nirgends verwendet wurde. Alle Konstruktionen dieses Abschnitts sind also unabhängig vom Papallelenaxiom. Sie könnte man ganz ebenso in Geometrien durchführen in denen das Parallelaxiom nicht gilt, wie etwa in der sphärischen Geometrie und in der hyperbolischen Geometrie (siehe später). Insbesondere schließen wir, dass z. B. der Kongruenzsatz (SWS) auch in der sphärischen Geometrie gilt. Aufgabe. [Euklid I §1] Man konstruiere ein gleichseitiges Dreieck mit Grundseite AB. C D E A B Lösung. Man ziehe (Post. 3) einen Kreis um A und einen Kreis um B, jeweils mit AB als Radius. Sei C einer der Schnittpunkte der Kreise. Man ziehe (Post. 1) die Strecken AC und BC. Dann ist (Def. 15) AC = AB und AB = BC und somit (Ax. 1) AC = BC ♦ Für die nächste Aufgabe beachte man, dass man eine Strecke nicht einfach parallel verschieben kann, da bisher die Existenz von Parallelen noch nicht gezeigt ist. Klaus Johannson, Geometrie (L2) §2 Kongruenzsätze 35 Aufgabe. [Euklid I §2] Sei A ein Punkt und sei BC eine gegebene Strecke. Man konstruiere eine Strecke AL mit AL = BC. C D K H A L E B G F Lösung der Aufgabe. Man ziehe die Strecke AB (Post. 1). Man errichte das gleichseitige Dreieck ∆DAB [Euklid I §1]. Man verlängere DA, DB gerade um die Strecken AE, BF (Post. 2). Man zeichne den Kreis CGH, mit B als Mittelpunkt und BC als Abstand. (Post. 3) Sei G der Schnittpunkt dieses Kreises mit der geraden Linie DF . Man zeichne den Kreis GKL, mit D als Mittelpunkt und DG als Abstand (Post. 3). Sei L der Schnittpunkt dieses Kreises mit der geraden Linie DE. Dann ist (Def. 15) BG = BC und DL = DG, da B Mittelpunkt des Kreises CGH und D Mittelpunkt des Kreises GKL ist. Also ist (Ax. 3, Ax. 1) AL = BG = BC ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) 36 . Geometrie (L2) 4. Der Erste Kongruenzsatz (SWS). Erster Kongruenzsatz. (SWS) [Euklid I §4] Seien ∆ABC und ∆DEF Dreiecke mit AB = DE, AC = DF und 6 BAC = 6 EDF. zwei Dann ist BC = EF, und 6 ABC = 6 DEF, 6 ACB = 6 DF E. A B D C E F Beweis. Man lege ∆ABC auf ∆DEF und lege dabei den Punkt A auf D und die Strecke AB auf DE Dann muß auch der Punkt B den Punkt E decken, denn AB = DE. Dann (Ax. 9) deckt die Strecke AB die Strecke DE. Also liegt die Strecke AC auf der Strecke DF , denn 6 BAC = 6 EDF . Deshalb deckt der Punkt C den Punkt F , denn AC = DF . B deckt aber E. Folglich muss (Ax. 9) die Strecke BC die Strecke EF decken. Damit decken alle Seiten des einen Dreiecks die des anderen. Folglich muß das Dreieck ∆ABC das Dreieck ∆DEF decken und ihm gleich sein. Insbesondere müssen alle Winkel von ∆ABC die entsprechenden Winkel von ∆DEF decken und ihnen gleich sein. ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §2 Kongruenzsätze 37 5. Der Zweite Kongruenzsatz (SSS) Satz. [Euklid I §5] Sei ∆ABC ein gleichschenkliges Dreieck (Def. 20) mit AB = AC. Dann ist 6 ABC = 6 ACB. A C B G F E D Beweis. Es seien AB, AC um die geraden Linien BD, CE verlängert (Post. 2). Man wähle auf BD den Punkt F beliebig. Man konstruiere den Punkt G auf AE mit AG = AF. (1) (dies ist der Schnittpunkt von AE und dem Kreis um A mit Radius AF ). Schließlich ziehe man die Strecken F C, GB (Post. 1). Dann ist F A = GA, CA = BA und 6 F AC = 6 GAB. Dann sind [Euklid I §4] die Dreiecke ∆F AC und ∆GAB kongruent. Insbesondere F C = GB, 6 ACF = 6 ABG und 6 AF C = 6 AGB (2) Weiter ist (Ax. 3) BF = CG, da AF = AG (wegen (1)) und AB = AC (nach Vor.). Somit F C = GB, BF = CG und 6 BF C = 6 AF C = 6 AGB = 6 CGB Also sind [Euklid I §4] die Dreiecke ∆BF C und ∆CGB kongruent. Insbesondere 6 F BC = 6 GCB und 6 BCF = 6 CBG. (3) und so wegen (2) und (3) 6 ABC = 6 ABG − 6 CBG = 6 ACF − 6 BCF = 6 ACB. ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) 38 . Geometrie (L2) Satz. [Euklid I §7] Es ist nicht möglich, über derselben Strecke AB und auf derselben Seite, zwei Paare von Strecken AC, BC und AD, BD zu zeichnen mit AC = AD und BC = BD. C D A B Beweis. Angenommen dies ist möglich. Bemerkung. Mit dieser Annahme hätte man zwei verschiedene Dreiecke ∆ABC und ∆ABD, über derselben Grundlinie AB, deren Seiten paarweise längengleich sind. Aber Achtung: Man darf jetzt nicht einfach den Kongruenzsatz (SSS) verwenden, denn wir sind ja erst noch dabei, ihn zu beweisen! Man ziehe CD. Dann wäre [Euklid I §5] 6 ACD = 6 ADC und 6 BCD = 6 BDC (1) da AC = AD und BC = BD (nach Voraussetzung). Weiter ist 6 BCD < 6 ACD und 6 ADC < 6 BDC. Also wäre (Ax. 8) und (1) 6 BCD < 6 BDC. Dies ist ein Widerspruch zu (1). ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §2 Kongruenzsätze 39 Zweiter Kongruenzsatz. (SSS) [Euklid I §8] Seien ∆ABC und ∆DEF Dreiecke mit zwei AB = DE, AC = DF, BC = EF. Dann ist auch 6 BAC = 6 EDF, 6 ABC = 6 DEF, A B 6 G C BCA = 6 EF D. D E F Beweis. Man lege das Dreieck ∆ABC auf das Dreieck ∆DEF und lege dabei den Punkt B auf den Punkt E sowie die Strecke BC auf die Strecke EF . Dann muss der Punkt C den Punkt F decken, denn BC = EF . Dann gilt [Euklid, §7], dass alle Seiten von ∆ABC Seiten von ∆DEF decken. Somit ist 6 BAC = 6 EDF, 6 ABC = 6 DEF, 6 BCA = 6 EF D. ♦ Literatur. Euklid, Die Elemente Klaus Johannson, Geometrie (L2)