4. Parallelität ohne Metrik In der Euklidischen Geometrie wird nicht gemessen. Das hat zwei Gründe. Erstens, gab es bei den Griechen noch kein entwickeltes Stellenwertsystem. Zweitens, haben sie ja schon früh zwingend bewiesen, dass nicht alle Strecken meßbar sind (z.B., wie wir wissen, nicht die Diagonale im Quadrat). Das Grundproblem der antiken griechischen Mathematik bestand deshalb darin, eine Geometrie zu entwickeln in der nicht gemessen wird (d.h. eine Geometrie ohne Metrik, wie wir heute sagen würde). Dies ist Geometrie auf einem theoretisch ganz fundamentalen Niveau. Die Griechen haben dann sehr früh erkannt, dass das entscheidende theoretische Problem in einer Geometrie ohne Metrik die Formulierung von Parallelität ist. Man wird erst dann in der Lage sein Gegenstände der Geometrie parallel zu verschieben, wenn man weiß was Parallelität ist. Und gibt es, so werden sich die Griechen gefragt haben, überhaupt Geometrie in einem sinnvollen Sinne, wenn man nicht weiß, wie man Gegenstände in ihr parallel verschiebt? Die Griechen haben daraus den Schluß gezogen, daß man erst theoretisch einwandfrei klären muß, was eine Parallele ist und dass man danach theoretisch einwandfrei beweisen muß, daß es Parallelen gibt. Das ist es, was wir in dieser 4. Vorlesung nachvollziehen wollen. Erst sehr viel später (gegen Endes 19. Jahrhunderts) haben Mathematiker und Physiker gelernt, daß der Begriff der Parallelität eigentlich noch viel fundamentaler ist als der der Existenz von Parallelen. Man kann Parallelität auch definieren, wenn man keine Parallelen im Sinne der Euklidischen Geometrie hat (man braucht stattdessen den Begriff des ”Zusammenhangs” von Levi-Civita). Diese Erkenntnisse hat dann zu neuartigen, ganz fundamentalen Einsichten in Raum und Zeit geführt - bis hin zu Relativitätstheorie, Quantentheorie und (heute) Stringtheorie. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 48 . Geometrie (L2) 1. Existenz und Eindeutigkeit von Parallelen. Wir kommen nun zur Existenz von Parallelen. Nach einigen Vorbereitungen wird dies in [Euklid I §31] unten bewiesen. Das Ganze was hier folgt ist ein Lehrstück in axiomatischer Mathematik, und man kann den systematischen und delikaten Aufbau der Euklidischen Mathematik auch hier nur bewundern. Die ganze Herleitung der Parallelen ist nicht nur wissenschaftlich einwandfrei, sondern hat auch ein ästhetisches Moment der Schönheit. Aufgabe. [Euklid, I §22] (Konstruktion eines Dreiecks) Seien drei Strecken a, b, c gegeben mit a + b > c, b + c > a, c + a > b. Konstruiere ein Dreieck mit Seiten, die den Strecken a, b, c gleich sind. K a D a F c b G c H Lösung. Man ziehe eine gerade Linie DE und trage [Euklid, I §3] DF = a, F G = b und GH = c ab. Man ziehe (Post. 3) einen Kreis mit Mittelpunkt F und Radius a und einen Kreis mit Mittelpunkt G und Radius c. Dann ist (Def. 15) F K = DF = a und KG = F G = b da KF Radius des Kreises um F und KG Radius des Kreises um G. Damit erfüllt das schraffierte Dreieck die Aufgabe. ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §4 Parallelität 49 Aufgabe. [Euklid, I §23] (Konstruktion eines Winkels) Es sei ein Winkel 6 DCE und eine Strecke AB gegeben. Man trage an AB im Punkt A einen Winkel F AB ab mit 6 DCE = 6 F AB. D F E A G B C Lösung. Man wähle auf den Schenkeln des gegebenen Winkels 6 DCE beliebig zwei Punkte D, E. Man trage Aufgabe [Euklid I §3] auf AB die Strecke AG ab mit AG = CE. Man konstruiere Aufgabe [Euklid I §22] ein Dreieck ∆AF G mit AF = CD und F G = DE. Dann ist insgesamt AG = CE, AF = CD, F G = DE. Also stimmen die Seiten der beiden Dreiecke ∆AF G und ∆CDE paarweise überein Somit ist (zweiter Kongruenzsatz) [Euklid I §8] ∆AF G = ∆CDE und insbesondere 6 F AG = 6 DCE. ♦ Bemerkung. Man sieht, dass bei Euklid der gesuchte Winkel nicht einfach durch Parallelverschiebung erhalten wird. Dies geht auch noch nicht, weil man dazu Parallelen braucht und man erst noch die Existenz von Parallelen beweisen muss! Klaus Johannson, Geometrie (L2) 50 . Geometrie (L2) Satz. [Euklid, I §27] Wenn eine gerade Linie EF beim Schnitt mit zwei geraden Linien AB, CD einander gleiche (innere) Wechselwinkel bildet, d.h. 6 AEF = 6 EF D, dann müssen diese geraden Linien einander parallel sein. A E B G C F D Beweis. Angenommen AB und CD sind nicht parallel. Dann müssen sie sich nach einer Seite hin treffen, etwa im Punkt G (Def 23). Dann wäre ∆EF G ein Dreieck mit 6 AEF = 6 EF G. Dies aber widerspricht [Euklid I §16]. ♦ Aufgabe. [Euklid §31] Sei ein Punkt A und eine Strecke BC gegeben. Man ziehe durch A eine gerade Linie die zu BC parallel ist. E B A D F C Lösung. Man wähle einen Punkt D auf der geraden Linie BC beliebig. Man ziehe AD. Man trage an die gerade Linie DA im Punkte A auf ihr §23]. Man verlängere EA gerade um die gerade Linie AF . 6 DAE = 6 ADC an [Euklid Dann ist EAF parallel zu BC [Euklid I §27] (denn die gerade Linie AD bildet beim Schnitt mit den zwei geraden Linien BC, EF einander gleiche Wechselwinkel, nämlich 6 EAD = 6 ADC). ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §4 Parallelität 51 2. Konstruktion des Quadrats. Wir haben schon gesehen, dass die Griechen das 5-Eck konstruieren konnten. Sie haben sicher nach einer systematischen Methode gesucht alle n-Ecke zu konstruieren. Sie konnten aber nur noch das 3-Eck, 4-Eck, 6-Eck und das 15-Eck konstruieren. Wir behandeln hier noch die Konstruktion des Quadrats = gleichseitiges und rechtwinkliges 4-Eck (Def. 22). Satz. [Euklid I §29] Sei EF eine geraden Linie die zwei parallele Strecken AB, CD schneidet. Dann gilt 6 AGH = 6 GHD, 6 EGB = 6 GHD, 6 BGH + 6 GHD = 2R. E A G B H C D F Beweis. ad (1) Angenommen 6 AGH 6= 6 GHD. Dann müsste einer der Winkel größer sein. Sei 6 AGH > 6 GHD. Dann wäre 6 AGH + 6 BGH > 6 BGH + 6 GHD Aber 6 AGH + 6 BGH = 2R [Euklid I §13]. Also wären 6 BGH + 6 GHD < 2R. Von Winkeln aus, die zusammen < 2R sind, ins unendliche verlängerte gerade Linien treffen sich aber (Post. 5). Also müßten sich AB, CD, bei Verlängerung ins Unendliche, treffen. Sie treffen sich aber nicht, da sie nach Voraussetzung parallel sind (Def. 23). Also ist AGH = 6 GHD. 6 ad (2) Weiter ist 6 AGH = 6 EGB [Euklid I §15]; also auch 6 EGB = 6 GHD. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 52 . Geometrie (L2) ad (3) Es ist EGB + 6 BGH = 6 BGH + 6 GHD 6 Aber 6 EGB + 6 BGH = 2R [Euklid I §13]. Also sind auch 6 BGH + 6 GHD = 2R Dies war zu zeigen. ♦ Satz. [Euklid I §34] Im Parallelogramm ♦ACDB ist AB = CD, BD = AC und 6 BDC = 6 BAC, 6 DBA = 6 DCA, und die Diagonalen BC und DA halbieren es. B A D C Beweis. Es ist [Euklid I §29] 6 ABC = 6 BCD, da AB und CD parallel sind und sie von der geraden Linie BC geschnitten werden. Ebenso ist 6 ACB = 6 CBD, da AC und BD parallel sind und von BC gschnitten werden. Demnach sind ∆ABC, ∆BCD zwei Dreiecke mit gemeinsamer Seite und 6 ABC = 6 BCD, 6 BCA = 6 CBD Also müssen (Kongruenzsatz) [Euklid I §26] ∆ABC und ∆BCD kongruent sein. Insbesondere halbiert die Diagonale BC das Parallelogramm. Weiter sind alle Seiten und Winkel der Dreiecke paarweise gleich. Insbesondere ist AB = CD, AC = BD und 6 BAC = 6 CDB. Und so (Ax. 2) 6 da 6 ABC = 6 BCD, 6 ABD = 6 ACD, CBD = 6 ACB. ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §4 Parallelität 53 Aufgabe. [Euklid I §46] Man zeichne über einer gegebenen Strecke AB das Quadrat. C D E A B Beweis. ad (1) Man ziehe AC, rechtwinklig zur Strecke AB [Euklid I §11] und trage AD = AB ab [Euklid I §3]. Man ziehe durch D die Parallele DE zu AB und durch B die Parallele BE zu AD [Euklid I §31]. Dann ist [Euklid I §34] AB = DE und AD = BE, d.h. ♦ADEB ist ein Parallelogramm. Aber AB = AD Also sind (Ax. 1) BA = AD = DE = EB. Das Parallelogramm ♦ADEB ist somit gleichseitig. ad (2) Weiter ist [Euklid I §29] 6 BAD + 6 ADE = 2R da BA, DE Parallelen sind, die von der geraden Linie AD geschnitten werden. Weiter ist BAD = R. 6 Also ist auch (Ax. 3) 6 ADE = R. Dann sind weiter 6 ABE = R und 6 BED = R, da im Parallelogramm die gegenüberliegenden Seiten und Winkel einander gleich sind [Euklid I §34]. Das Parallelogramm ♦ADEB ist somit rechtwinklig. ♦ Literatur: Euklid, Die Elemente Klaus Johannson, Geometrie (L2)