II. Geometrie. 3. Die pythagoräische Geometrie. Neben der Zahlenlehre haben sich die Pythagoräer auch mit Geometrie beschäftigt. Schließlich ist ja der bekannte Satz des Pythagoras eng mit ihrem Namen verbunden. Eine ganz besondere Bedeutung hatte für die Pythagoräer, wie schon erwähnt, das regelmäßige Fünfeck, das sog. Pentagon. Damit wollen wir uns jetzt beschäftigen. Man vermutet, dass das Studium des Pentagons die Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 2 I. Elementare Mathematik 1 Pythagoräer wahrscheinlich zur Entdeckung des Irrationalen gebracht hat. Eine Entdeckung die gleichzeitig eine ”Grundlagenkrise” ihrer eigenen Philosphie ausgelöst haben muss, die ja von dem Grundsatz ausgegangen ist, dass ”alles Zahl” d.h. alles ”rational” ist. Wechselwegnahme im Pentagon Die Pythagoräer haben nämlich entdeckt, dass (im rechten Pentagon) die beiden einmal gestrichenen Strecken gleich sind (Euklid, XIII,8). Also ist (im unteren Pentagon) BA = BD. Weiter sind alle vier eingezeichneten Winkel (im unteren Pentagon) gleich, denn (wie wir später sehen werden) teilen die Diagonalen jeden Winkel des Fünfecks in drei gleiche Teile. Demnach bildet ∆ACF ein gleichschenkliges Dreieck. Insbesondere ist AC = CF. Damit haben wir die folgende (geometrische) Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §3 Pythagoräische Geometrie 3 Wechselwegnahme im Pentagon: A B C D E F Wechselwegnahme im Pentagon (BE,BA) (BE − BA,BA) (BE − BD,BA) (DE,BD) (DE,BD − DE) (DE,BD − BC) (DE,CD) (DA,CD) (CA,CD) (CF,CD) Die Wechselwegnahme von (Diagonale,Seite) des großen Fünfecks führt so zur Wechselwegnahme von (Diagonale,Seite) des kleinen Fünfecks. Der Prozess wieKlaus Johannson, Elementare Mathematik 1 4 I. Elementare Mathematik 1 derholt sich und kommt niemals zum Halten. Er findet also kein gemeinsames Maß. Es folgt, dass Diagonale und Seite des Fünfecks kein gemeinsames Maß haben können; ihr Verhältnis ist irrational. Man glaubt, dass die Pythagoräer auf diese Weise das Irrationale entdeckt haben. Philosophische Konsequenz: Die Existenz der Irrationalen konnten die griechischen Philosophen nun heranziehen, um zu beweisen, dass eine Atomlehre, wie etwa die von Demokrit, nicht richtig sein kann, denn die Existenz von Irrationalen schließt die Existenz von kleinsten Ausdehnungen (Atome) aus. Um dies aber auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen, muss man die Existenz des Fünfecks beweisen. Wann existiert das Fünfeck. Antwort der Pythagoräer: Wenn es mit Zirkel und Lineal konstruiert werden kann. In diesem Kapitel wird die Konstruktion des regelmäßigen Fünfecks mit Hilfe von Zirkel und Lineal gezeigt. Diese Konstruktion geht zurück auf die Pythagoräer (die ja sogar die fünf platonischen Körper konstruiert haben). Sie findet sich, nach einer Reihe von vorbereitenden Sätzen, als Aussage §11 in [Euklid, Die Elemente]. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §3 Pythagoräische Geometrie 5 Einige Winkel-Sätze im Kreis. Satz. [ Euklid, III, §20 ] In der folgenden Figur ist 6 BEC = 26 BAC. A E B F C Der Mittelpunktswinkel ist das Doppelte aller Umfangswinkel Beweis. Wir haben 180o = 6 AEB + 6 BEF und 180o = (6 BAE + 6 ABE) + 6 AEB = 26 BAE + 6 AEB (da 6 BAE = 6 ABE) Also 180o = 26 BAE + (180o − 6 BEF ) und so 26 BAE = 6 BEF. ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 6 I. Elementare Mathematik 1 Satz. [ Euklid, III, §21 ] Umfangswinkel über derselben Sehne sind gleich. D C A B Alle Umfangswinkel sind gleich Beweis. Die Umfangswinkel 6 ADB und 6 ACB) sind beide halb so groß wie der Mittelpunktswinkel über derselben Sehne AB (nach Euklid, III, §20]. Damit sind die Umfangswinkel gleich, d.h. 6 ADB = 6 ACB. ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §3 Pythagoräische Geometrie 7 Satz. [Euklid, III, §22] Für jedes Viereck im Kreis ist die Summe von gegenüberliegenden Winkeln 180o . B C A D Winkelsummen gegenüberliegender Winkel sind gleich zwei Rechte Beweis. Wir haben 6 CAB + 6 ABC + 6 BCA = 180o Weiter gilt (nach Euklid, III, §21]) 6 6 ADB = 6 BCA BDC = 6 CAB und somit 6 ADC = 6 ADB + 6 BDC = 6 BCA + 6 CAB ⇒ 6 ADC + 6 ABC = 6 BCA + 6 CAB + 6 ABC = 180o ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 8 I. Elementare Mathematik 1 Satz. [Euklid, III, §29] Sehnen gegenüber gleichen Umfangswinkeln in gleichen Kreisen sind gleich, d.h. 6 BAC = 6 B ′ A′ C ′ ⇒ BC = B ′ C ′ . C C’ B A’ D’ D B’ A Gleiche Sehnen bei gleichen Winkeln Beweis. Sei 6 BAC = 6 B ′ A′ C ′ und seien D, D′ die Mittelpunkte der (gleichen) Kreise. Dann haben wir 6 BDC = 6 B ′ D′ C ′ und BD = B ′ D′ und CD = C ′ D′ und so ∆ABC = ∆A′ B ′ C ′ (nach dem Kongruenzsatz SWS). Also insbesondere BC = B ′ C ′ ♦. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 9 §3 Pythagoräische Geometrie Tangenten. Satz. [Euklid, III, 36a] Sei AD Strecke in einer Tangente und sei AB die Strecke durch den Mittelpunkt des Kreises. Dann gilt: AB · AC = AD2 . D A C P B Eine Tangenten Eigenschaft Beweis. AD2 = AP 2 − DP 2 = (AP + DP ) · (AP − DP ) = (AP + BP ) · (AP − CP ) = AB · AC. ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 10 I. Elementare Mathematik 1 Satz. [Euklid, III, 36b] AB · AC = AF 2 . P B K C A F Eine verallgemeinerte Tangenten Eigenschaft Beweis. AB · AC = (AK + KC) · (AK − KC) = AK 2 − KC 2 . ⇒ AB · AC + KC 2 = AK 2 AB · AC + (KC 2 + KP 2 ) = AK 2 + KP 2 AB · AC + P C 2 = AP 2 AB · AC + P F 2 = AP 2 AB · AC + P F 2 = AF 2 + P F 2 AB · AC = AF 2 . ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 11 §3 Pythagoräische Geometrie Satz. [Euklid, III, 36c] Seien B, C und B ′ , C ′ die Schnittpunkte zweier Geraden, die durch den Punkt A gehen, mit dem Kreis. Dann gilt AB · AC = AB ′ · AC ′ . B’ C’ B C A F Eine Invariante am Kreis Beweis. AB · AC = AF 2 = A′ B ′ · A′ C ′ . ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 12 I. Elementare Mathematik 1 Satz. [Tangenten Kriterium] [ Euklid, III, §37 ] In der unteren Figur gilt BA · BC = BD2 ⇒ BD ist tangential zum Kreis. D A C F B E Das Tangenten Kriterium Beweis. [ Euklid, III, §37 ] Wir ziehen, als Hilfslinie, die Tangente von B nach E. Dann ist BA · BC = BE 2 (Euklid, III, §36) BA · BC = BD2 (nach Voraussetzung) und so BE = BD Also △BF E = △BF D (nach Kongruenzsatz SSS). Insbesondere 6 BDF = 6 BEF = 90o . ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §3 Pythagoräische Geometrie Satz. [ Euklid, III, §32 ] 6 A 13 DBE = 6 BCD. D C E F B Tangentenwinkel Beweis. Wir haben 6 DBF = 6 BAD. (die Schenkel der Winkel stehen paarweise aufeinander senkrecht) und 6 6 DBF + 6 DBE = 180o , BAD + 6 BCD = 180o , (nach Euklid, III, §22) Also insgesamt 6 DBF + 6 DBE = 6 BAD + 6 BCD = 6 DBF + 6 BCD Demnach 6 DBE = 6 BCD. ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 14 I. Elementare Mathematik 1 Konstruktion des Pentagons. Den Griechen waren im Prinzip an der Konstruktion aller regulären Polygone interessiert. Die Konstruktion von 3-Eck, 4-Eck und 6-Eck ist natürlich einfach. Die erste wirklich schwierige Aufgabe ist die Konstruktion des 5-Ecks. Mit der Konstruktion des 7-Ecks sind die Griechen nicht zu Rande gekommen. Nicht ohne Grund. Man kann nämlich beweisen, dass das 7-Eck nicht mit Zirkel und Lineal konstruiert werden kann. Die Konstruktion des Pentagons (= 5-Eck) ist äquivalent zur Konstruktion eines ”Basisdreicks”, d.h. zur Konstruktion eines gleichschenkligen Dreiecks ∆(A, B, C) dessen Basiswinkel an den Ecken A, B doppelt so groß sind wie der Winkel an der Spitze C: C A B Das Basisdreieck für das Fünfeck denn dann ist 5 · 6 ACB = 5 · 72o = 360o . Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 15 §3 Pythagoräische Geometrie Konstruktion des Basisdreiecks. Aufgabe. Man teile eine Strecke AB mit einem Punkt C so dass AB · BC = AC 2 . B G H C D E A F Konstruktion. [ Euklid, II, §11 ] (1) Konstruiere das Quadrat, BD, über AB. (2) Halbiere die Seite AD durch den Punkt E. (3) Trage die Strecke EB als EF ab. Beh. F D · F A + AE 2 = EF 2 . Dies wird wie folgt mit Hilfe eines ”Gnomons” (schattiert) gezeigt: P Q R K L M N F A E D Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 16 I. Elementare Mathematik 1 AE = ED ⇒M D = LE = P L ⇒KD = M D + KE = F D · F A = Gnomon ⇒F D · F A + EA2 = Gnomon + EA2 = F E 2 . ♦ Beh. Die Strecke AC = AF ist die gesuchte Lösung. Betrachte das Diagramm der Aufgabe. Nach voriger Beh. gilt: F D · F A + AE 2 = EF 2 F D · F A + AE 2 = EB 2 F D · F A + AE 2 = BA2 + AE 2 F D · F A = BA2 F D · F G = BA2 Man nehme nun das Rechteck CD sowohl vom Rechteck HD als auch vom Quadrat BD weg und erhält: BC · BA = BC · CG = F A2 = AC 2 und damit ist C der gesuchte Punkt. ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 17 §3 Pythagoräische Geometrie Aufgabe. Konstruiere das Basisdreieck. Konstruktion. (1) Ziehe den Kreis mit Radius AB. (2) Konstruiere C auf AB mit AB · BC = AC 2 . (3) Konstruiere die Sehne BD mit BD = AC. B C A D Konstruktion des Basisdreiecks Beh. Das Dreieck ABD ist ein Basisdreieck. Beweis. [Euklid, IV, §10] Wir müssen zeigen, dass 26 BAD = 6 ABD. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 18 I. Elementare Mathematik 1 Wir beweisen diese Behauptung unter der folgenden Winkel Annahme 6 BDC = 6 CAD. B C A 6 Es gilt: D BCD + 6 ACD = 180o = 6 CAD + 6 ACD + 6 ADC 6 und so 6 BCD = 6 CAD + 6 ADC = 6 BDC + 6 ADC = 6 CBD BCD = 6 CBD. Aber dann ist CD = BD = AC (nach Konstruktion) und deshalb 6 CAD = 6 ADC und 6 CAD = 6 BDC. Also 26 CAD = 6 ADB Damit ist mit △ABD das gesuchte Basisdreieck konstruiert. ♦ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §3 Pythagoräische Geometrie 19 Wir müssen jetzt noch den Beweis der Winkel Annahme 6 BDC = 6 CAD nachtragen. Der Beweis der Winkel Annahme benutzt einen Trick. Der Trick besteht darin, die Winkel-Annahme als einen Satz über Winkel im Kreis zu formulieren, aber in einem Kreis der verschieden ist von dem bisher benutzten. Zum Beweis konstruieren wir also einen neuen Kreis und zwar den Kreis durch die drei Punkte A, C, D (wie konstruiert man dies mit Zirkel und Lineal? Übung) B C A D Zum Beweis der Winkel-Annahme Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 20 I. Elementare Mathematik 1 Die entscheidende Eigenschaft, die uns weiterbringt, ist die folgende Beh. BD ist Tangente zum Kreis ACD. Beweis der Beh. Wir haben AB · BC = AC 2 = BD2 Also folgt die Behauptung aus dem Tangenten Kriteriums [Euklid, III, §37]. Somit folgt die Winkelannahme aus [Euklid, III, §32]. Damit ist alles bewiesen, d.h. das Basisdreieck (und somit das Pentagon) ist mit Zirkel und Lineal konstruierbar. ♦ Literatur. Euklid, Elemente, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981 Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1