5. Flächenlehre ohne Rechnen

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5. Flächenlehre ohne Rechnen
Die Zielsetzung. Was ist der Flächeninhalt eines Quadrats? Zunächst erscheint die Frage
als ganz leicht zu beantworten: man messe die Länge der Quadratseite und quadriere die
erhaltene Zahl. Wir wissen aber bereits, daß dies nicht die wissenschaftliche Antwort
sein kann, denn nicht alle Seiten sind meßbar (wie ja schon die Pythagoräer feststellen
mußten). Das Messen mit einem Millimertermaß und dgl. kann also nur eine Näherung
sein. Die Griechen waren aber nicht an Näherungen interessiert. Sie ware überhaupt nicht
an praktischen Anwendungen interessiert. Ihr Interesses (insb. das Interesse der platonischen Akademie) war philosophischer Art und für sie hatte deshalb der Flächeninhalt eines
Quadrats überhaupt nichts mit Messen (und mit Zahlen usw.) zu tun. Für die Griechen
war die Frage nach dem Flächeninhalt, die grundsätzliche Frage nach ”Flächengleicheit”.
Sie betrachteten also, modern ausgedrückt, eine neue Äquivalenzrelation (neben der Äquivalenzrealtion der Kongruenz, die wir schon kennen), nämlich die der Flächengleichheit
(oder Inhaltsgleicheit, wenn es um räumliche Figuren geht).
Die Grundidee. Die Griechen interessierte die Antwort auf die Frage, wann sind zwei
geradlinig begrenzte Figuren in der Ebene flächengleich. Die Antwort die sie gefunden
haben ist verblüffend und, im Nachhinein gesehen, ganz einfach. Sie hat wieder mit dem
ursprünglichen Problem der Verdopplung von Quadraten zu tun (d.h. mit der alten Konstruktion von Quadraten, die flächengleich sind einer Figur mit doppeltem Inhalt).
Die Griechen sahen den obigen Vorgang als einen Prozess des Zerschneidens. Die Figur auf
der linken und die Figur auf der rechten Seite konnte so (geradlinig) zerschnitten werden,
daß die enstehenden Teile paarweise gleich sind. Wir sagen, die die linke und rechte Figur
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sind zerschneidungsgleich (oder heute: scissor equivalent). Die Griechen definierten:
Definition. Zwei geradlinige Figuren in der Ebene sind flächengleich genau dann wenn
sie zerscheidnungsgleich sind.
Bemerkung. Das Studium dieser ”scissor equivalence” ist heute wieder sehr modern mit
Anwendungen bis hin zu solch modernen Theorien, wie die Algebraische K-Theorie.
Bemerkung. Mit der obigen Definition ist der für die Griechen so ungewollte Vorgang
des Messens aus der Geometrie der ebenen Figuren vertrieben. Wie sieht es mit Figuren
im Raum aus?
Im Jahre 1900 hat Hilbert auf dem Internationalen Kongress für Mathematik in Paris
seine Liste der mathematischen Probleme vorgestellt. Es war seine Überzeugung,
dass es diese Probleme sind, die die Mathematik des 20. Jahrhunderts prägen werden.
Diese Hilbert’schen Problemen stellten sich dann auch tatsächlich als sehr zentral heraus
und sind so bedeutend, dass sie von den Mathematikern allein an ihren Nummern erkannt
werden. So gibt es das 1. Hilbertsche Problem, das von der Kontinuumshypothese handelt,
dann das 10. Hilbertsche Problem von dem jeder Mathematiker weiss, dass es von der
Lösbarkeit von Diophantischen Gleichungen handelt usw. Jeder Mathematiker, der eines
der Hilbertschen Probleme lösen konnte, wurde damit schlagartig in der mathematischen
Welt (und manchmal auch darüberhinaus) berühmt. So Paul Cohen, für die Lösung des 1.
Hilbertschen Problems und Julia Robertson und Ju. Matijasevic, für die Lösung des 10.
Hilbertschen Problems.
Für uns ist auch ein besonderes Problem aus der Hilbertschen Liste wichtig, nämlich
Das 3. Hilbertsche Problem. Es sind zwei Tetraeder mit gleicher Grundfläche und von
gleicher Höhe anzugeben, die sich auf keine Weise in kongruente Tetraeder zerlegen lassen
und die sich auch durch Hinzufügung kongruenter Tetrahedra nicht zu solchen Polyedern
ergänzen lassen für die ihrerseits eine Zerlegung in kongruente Tetraeder möglich ist.
Hilbert’s Schüler, Max Dehn, der Professor hier in Frankfurt war, hat dieses Problem gelöst.
Er hat damit gezeigt, dass eine Inhaltslehre von Figuren im Raum von ganz anderer Natur
sein muß als für Figuren in der Ebene.
Dies ist, im nachhinein gesehen, der Grund warum im Euklidischen Lehrbuch die Figuren
im Raum ganz anders behandelt werden als in der Ebene. Für Figuren im Raum wird im
Euklidischen Lehrbuch eine damals ganz revolutionäre Methode benutzt, nämlich die sog.
Exhaustionsmethode. Sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit heutiger Integrationstheorie
(muss aber davon unterschieden werden). Diese Methode wurde früher lange Zeit als zu
aufwendig angesehen. Aber, dank des Dehn’schen Resultats, wissen wir heute, dass sie
(oder ähnlich komplizierte Methoden) ganz unvermeidlich ist. Aber dies gehört in die
Analysis. Und das ist auch der Grund für uns, weshalb wir im Folgenden ganz bei Figuren
in der Ebene bleiben und keine räumlichen Figuren behandeln werden.
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. Geometrie (L2)
1. Flächeninhalte von Dreiecken und Parallelogrammen.
Satz. [Euklid I §35] Auf derselben Grundlinie BC zwischen denselben Parallelen BC
und AF gelegene Parallelogramme ♦ABCD und ♦BCEF sind einander flächengleich.
A
D
F
E
G
B
C
Beweis.
Es ist [Euklid I §34]
AD = BC = EF,
da ♦ABCD und ♦BCEF Parallelogramme sind, und so (Ax. 2)
AE = AD + DE = BC + DE = EF + DE = DF
Aber auch
AB = DC und EB = F C.
ALso [Euklid I §4]
∆ABE = ∆DCF.
Damit haben wir
♦ABGD = ∆ABE − ∆DGE = ∆DCF − ∆DGE = ♦EGCF
und so
♦ABCD = ♦ABGD + ∆BGC = ♦EGCF + ∆BGC
♦ABGD = ♦EBCF. ♦
Bemerkung. Im obigen Beweis wurden die arithmetischen Zeichen ”+” und ”-” immer
da verwendet wo bei Euklid ”man füge zu” oder ”man nehme weg” und dgl. steht. Damit
vereinfacht sich zwar für uns die Schreibweise des Beweises und er wird übersichtlicher aber nur deshalb weil wir heute an algebraischer Notation gewöhnt sind. Auf der anderen
Seite aber nähert man sich so schleichend einer algebraischen Denkweise, die es bei den
Griechen nicht gab. Die Griechen waren Geometer. Weiter haben wir - wie Euklid - das
Symbol ”=” auch für ”Flächengleichheit” benutzt, was zwar etwas ungenau ist, aber die
Notation vereinfacht.
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Satz. [Euklid I §37] Auf derselben Grundlinie BC zwischen denselben Parallelen
BC, AD gelegene Dreiecke ∆BCA und ∆BCD sind einander flächengleich.
E
A
B
D
F
C
Beweis.
Man ziehe die Strecke AD und verlängere sie geradlinig, nach beiden Seiten, nach E, F .
Man ziehe [Euklid I §31] die Strecke BE, parallel zu CA
Man ziehe die Strecke CF , parallel zu BD.
Dann ist ♦EBCA als auch ♦DBCF ein Parallelogramme und [Euklid I §35]
♦EBCA = ♦DBCF,
da die Parallelogramme auf derselben Grundlinie BC und zwischen denselben Parallelen
BC, EF liegen.
Damit ist [Euklid I §34]
∆ABC =
1
1
♦EBCA =
♦DBCF = ∆DBC. ♦
2
2
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. Geometrie (L2)
Satz. [Euklid I §41] Ein Parallelogramm ♦ABCD habe mit einem Dreieck ∆EBC
dieselbe Grundlinie BC und liege zwischen denselben Parallelen BC, AB. Dann ist das
Parallelogramm doppelt so groß wie das Dreieck, d.h. ♦ABCD = 2 ∆BCE.
A
B
D
E
C
Beweis.
Man ziehe AC.
Dann ist [Euklid I §37]
∆BCA = ∆BCE;
da die Dreiecke auf derselben Grundlinie BC und zwischen denselben Parallelen BC, AE
liegen.
Weiter ist [Euklid I §34]
♦ABCD = 2∆ABC
denn das Parallelogramm wird von der Diagonalen AC halbiert, und so
♦ABCD = 2∆EBC. ♦
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2. Der Satz von Pythagoras und seine Umkehrung.
Wir heben schon im 1. Kapitel über den Satz von Pythagoras gesprochen. Insbesondere
haben wir einen (intuitiven, aber nicht axiomatischen) Beweis gegeben.
Hier ein zweiter Beweis für den Satz von Pythagoras. Diesmal der originale Beweis aus
dem Euklidischen Lehrbuch.
Satz von Pythagoras. [Euklid, I §47] Sei ∆ABC ein Dreieck mit
Dann ist
BC 2 = BA2 + AC 2 ,
6
BAC = R.
d.h. am rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat über der dem rechten Winkel gegenüberliegenden Seiten den Quadraten über den den rechten Winkel umfassenden Seiten zusammen
gleich.
G
A
F
B
D
H
L
C
E
Beweis.
Man zeichne über BC das Quadrat BDEC [Euklid I §46] und über BA die Quadrate
F A.
Man ziehe die Strecke AL, parallel zu BD.
Es ist genügt zu zeigen
Behauptung. ♦F A und ♦BL sind flächengleich.
Zum Beweis der Behauptung ziehe man die Hilfslinien F C und DA.
Dann ist [Euklid I §41]
♦BL = 2 ∆BDA und 2 ∆F BC = ♦F A
(1)
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. Geometrie (L2)
da ∆BDA und ♦BL auf der gleichen Grundlinie und zwischen den gleichen Parallelen
BD, AL liegen. Ebenso für das andere Quadrat.
Weiter ist nach Voraussetzung
6
BAC = R.
Also bilden an der geraden Linie BA, im Punkte A, die zwei, nicht auf derselben Seite
liegenden Strecken AC, AG, Nebenwinkel, die zusammen = 2R sind.
Also setzt CA die gerade Linie AG gerade fort [Euklid I §14].
Ferner ist (Post. 4
6
DBC = R = 6 F BA.
Daher ist (Ax. 2)
6
DBA = 6 DBC + 6 ABC = 6 F BA + 6 ABC = 6 F BC
sowie (Def. 22)
DB = BC und F B = BA
Also ist (Erster Kongruenzsatz) [Euklid I §4)
∆ABD = ∆F BC
Zusammen mit (1) folgt hieraus
♦BL = 2 ∆BDA = 2 ∆F BC = ♦F A
Dies war zu zeigen. ♦
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Umkehrung vom Satz des Pythagors. Sei ∆ABC ein Dreieck. Dann gilt:
AB 2 + AC 2 = BC 2 ⇒
6
BAC = R := rechter Winkel
Beweis. Angenommen 6 BAC < R.
Dann betrachte das folgende Bild.
H
E
A
D
B
C
F
G
Beobachte ∆DBC = ∆ABF (wegen Kongruenzssatz SWS).
Zum Beweis des Satzes beobachte weiter, dass die gerade Linie AE die gerade Linie CA
nicht geradlinig fortsetzt, da 6 BAC 6= R und 6 EAB = R. Deshalb ist
♦BG = ∆ABF = ∆DBC < ♦DA
Im nächsten Bild ist der hierfür relevante Teil des obigen Bildes herausgestellt:
A
E
K
D
L
C
B
Wir sehen, dass ∆DBC = ♦DBLK < ♦DBAE, wenn der Winkel
6 EAB = R.
6
BAC < R und
Ebenso zeigt man
♦GC < ♦CH
Also ist
BC 2 = ♦F C = ♦BG + ♦GC < ♦DA + ♦CH = AB 2 + AC 2
und somit BC 2 < AB 2 + AC 2 . Widerspruch.
Ebenso erhält man einen Widerspruch zur Annahme
6
BAC > R. ♦
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. Geometrie (L2)
3. Das Grundproblem der Euklidischen Flächenlehre.
Das Grundproblem der Euklidischen Flächenlehre ist die folgende Aufgabe.
Grundaufgabe. [Euklid, II §14] Gegeben sei ein beliebiges Rechteck. Man konstruiere,
das dazu flächengleiche Quadrat.
H
A
E
B
G
C
F
D
Lösung.
Gegeben sei das Rechteck ♦BD.
Wenn BE = ED dann wäre die Aufgabe schon ausgeführt.
Andernfalls ist etwa BE größer als ED.
Man verlängere BE nach F so dass EF = ED.
Man halbiere BF in G,
Man zeichne den Halbkreis BHF , mit G als Mittelpunkt und einer der Strecken GB, GF
als Abstand.
Man verlängere DE nach H und ziehe GH.
Dann ist
BE · EF + EG2 = GF 2
Dies wird in [Euklid, II §5] geometrisch bewiesen. Wir machen es uns hier aber einfacher
und überzeugen uns algebraisch (mit Hilfe des binomischen Lehrsatzes) wie folgt:
GF 2 − EG2 = (GF + EG) · (GF − EG) = (BG + EG) · EF = BE · EF.
Da GF = GH (Def. 15) ist
BE · EF + GE 2 = GH 2
Aber nach [Euklid, I §47] (= Pythagoräischer Lehrsatz) ist
GH 2 = HE 2 + EG2 .
Also sind
BE · EF + GE 2 = HE 2 + EG2
Klaus Johannson, Geometrie (L2)
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Somit
BE · EF = EH 2
BE · EF ist aber ♦BD; denn EF = ED; also ist
♦BD = ♦HE 2 .
♦BD ist aber dem am Anfang gegeben Rechteck gleich. ♦
Literatur.
Euklid, Geometrie
Klaus Johannson, Geometrie (L2)
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