Die Veden – vorgeschichtliche Wissenschaften Die Veden (und die späteren Upanishaden) dienen sehr gut als Spiegelbild der indischen Mentalität (und vielleicht auch das neue indische Selbstbewusstsein). Während man im Westen alles feinsäuberlich trennt (die Bibel für die Religion; Wissenschaftsbücher, die je nach Fach auseinander gehalten werden; Bücher über Philosophie; usw.), ist in den Veden von einer solchen sauberen Trennung keine Spur! Getrennt werden die Veden lediglich ganz grob in vier: Rigveda, Samaveda, den Yajurveda („weiß“ und „schwarz“) und den Atharvaveda. Im Westen betrachtet man die Veden als heilige Bücher des Hinduismus. Teile der Veden sind in der Tat religiöser Natur. Beschäftigt man sich aber ein wenig tiefer mit ihnen, stellt man fest, dass sie eigentlich ein Sammelwerk der Erkenntnisse der „damaligen Zeit“ sind. Allgemein wird der Zeitraum der Entstehung der Veden von 1.500 v.Chr. bis ca. 500 v.Chr. angegeben. Die Betonung liegt hierbei aber auf „allgemein“, denn viele Wissenschaftler, die sich mit den in den Veden angegebenen astronomischen Daten befasst haben, kommen zu dem Schluss, dass die Veden zwischen 6.000 v.Chr. und 3.000 v.Chr. entstanden. Dieser Aufsatz befasst sich aber nicht so viel mit dem Alter der Veden als mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen – und die haben es in sich! Das Konzept von rationalen Zahlen war bekannt. Man kannte Geometrie, Trigonometrie sowie Differential- und Integralrechnung. Die „Bakhsali Manuskripte“ offenbaren, dass man schon Bruchrechnungen, quadratische Gleichungen, geometrische Progressionen sowie Gewinn- und Verlustrechnungen (sogar mit Zinsen) beherrschte. Man rechnete auch mit negativen Zahlen. Man konnte Quadratwurzeln ziehen mit einer Genauigkeit auf bis zu fünf Stellen hinter dem Komma. In den „Shulba Sutren“ (Seil Kodizes), die im Zeitraum zwischen 1.700 und 500 v.Chr. entstanden (auch hier ist die Wissenschaft uneins), werden konkrete Anweisungen zum Bau von Altären gegeben: ”die (Fläche aus der) Diagonale eines Rechtecks ergibt sich aus der Summe der Flächen aus der Länge und der Breite” (sog. Satz des Pythagoras). Dazu Voltaire (1694-1778): „Pythagoras ging zum Ganges, um Geometrie zu lernen“. Der Rigveda stellt fest, dass Gurutvakarshan (Gravitation) die Erde in ihre Bahn um die Sonne hält. Der Rigveda sagt auch, dass die Erde eine Sphäre ist und dass sie sich um ihre eigene Achse dreht. Der Samaveda stellt fest, dass die Sonne weder auf noch unter geht, sondern dass die Erde sich um die Sonne dreht. Jean-Sylvain Bailly, (1736-1793) Astronom und Mathematiker meinte: “Die Bewegungen der Sterne die die Hindus vor etwa 4.500 Jahren errechnet hatten, unterscheiden sich nicht bei einer einzigen Minute von den (modernen) Tabellen Cassinis und Meyers. Die indischen Tabellen ergeben die gleichen Variationen des Mondes, wie von Tycho Brahe [dänischer Astronom, 1546-1601] entdeckt – eine Variation, die den Schulen Alexandrias und Arabiens unbekannt waren.” Holen wir uns eine Stimme auch aus der Moderne. Carl Sagan (1934-1996): „Die vedische Kosmologie ist die einzige (…) deren Zeitskalen die der modernen wissenschaftlichen Kosmologie entsprechen.“ Die Veden erwähnen nicht nur die endliche Geschwindigkeit des Lichtes, sondern geben ihr einen konkreten Wert von umgerechnet ca. 300.000 km/Sek. Das Alter der Erde wird in den Veden auf 4,3 Milliarden Jahre festgelegt – nicht weit entfernt von dem heutigen Wert von 4,6 Milliarden Jahren. Seite 1 von 3 Begriffe wie Masse, Zeit, Raum, Energie, Kausalität finden alle ihren Platz in den Veden. Brahmaan wird als „universelle Weltenseele – unvergänglich, unsterblich, unendlich, ewig, rein, unberührt von äußeren Veränderungen, ohne Anfang, ohne Ende, unbegrenzt durch Zeit, Raum und Kausalität“ beschrieben. In den Veden wird die heilige Zahl 108 erwähnt. Diese Zahl ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen der Entfernung Erde-Sonne in Solar-Durchmesser (Radius der Erdumlaufbahn geteilt durch Sonnendurchmesser) zur Entfernung Erde-Mond in Lunar-Durchmesser (Radius der Erdumlaufbahn geteilt durch Monddurchmesser). Diese Berechnung bedeutet, dass totale Sonnenfinsternisse, Trigonometrie und Pi bekannt waren. Dass das kleine Einmaleins der Multiplikation und Division auch bekannt gewesen sein mussten, versteht sich von selbst. Das erstaunliche dabei ist aber, dass die damalige Berechnung gegenüber der heutigen eine Ungenauigkeit von lediglich 1% aufweist. Meine persönliche Lieblingspassage ist aus dem Chhandogya Upanishad, „ (…) aus dieser göttlichen Einheit heraus schossen Lichtstrahlen in allen Richtungen…Materie wurde erzeugt und Prakriti [die wurzellose Wurzel des Weltalls] dehnte sich in alle zehn Richtungen aus…auch das Göttliche dehnte sich in alle Richtungen aus – nach oben, nach unten, hierher und jenseits (…)“. Einheit, Materie, Ausdehnung, zehn Richtungen, jenseits – kommen Ihnen diese Begriffe bekannt vor? In ihrem sehr überzeugenden Buch „Endless Universe“ aus dem Jahr 2007, legen die beiden Astrophysiker Paul J. Steinhardt und Neil Turok ihre Theorie der zyklischen Existenz des Weltalls dar – etwas, übrigens, das auch in den Upanishaden erwähnt wird. Interessanterweise, forschten die Autoren auch in den Upanishaden und fanden heraus: 1 Kalpa (1 Tag und 1 Nacht im Leben des Brahmaan) entspricht ca. 8,64 Milliarden Jahre; der Zeitraum, in dem Materie dominiert und in dem sich Galaxien bilden sowie 360 Kalpas (1 Jahr im Leben des Brahmaan) entsprechen ca. 3,11 Billionen Jahre; 1 Zyklus des Universums. Der indische Astronom und Mathematiker Aryabhat (476–550 n.Chr.) errechnete nicht nur, dass ein Jahr aus 364,24675 Tagen besteht, er berechnete auch das Volumen und den Radius der Erde (0,2% kleiner gegenüber dem heutigen Wert). Er bestimmte den siderischen Tag (eine Erdumdrehung bezogen auf den Sternenhintergrund – was beweist, dass er die Relativität der Bewegung verstand) zu 23 Std. 56 Min. und 4,1 Sek., (heutiger Wert 23:56:4,091 Std.). Die Liste seiner Leistungen in Mathematik und Astronomie würde Seiten füllen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss die Zahl Null erfunden und das Dezimal-System beherrscht worden sein. Jedenfalls wird Aryabhat die Erfindung der Null zugeschrieben. Im 13. Jahrhundert wurde Aryabhats großes Werk „Aryabhattiya“ ins lateinische übersetzt und gelang so nach Europa. Seine Nachfolger wie Varamahira und Brahmagupta entwickelten die indische Astronomie und Mathematik weiter. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Veden beschränken sich aber nicht nur auf Astronomie und Mathematik. Sie behandeln auch Fächer wie Landwirtschaft, Wirtschaftswissenschaften und Heilkunde (Ayurveda). Seite 2 von 3 Der Atharvaveda beinhaltet Angaben über Chemie. Der amerikanische Historiker Will Durant (18851981) schreibt, dass die vedischen Inder „(…) Meister des Kalzinierens, der Destillation, des Sublimierens, des Dämpfens, der Fixation, der Herstellung von Licht ohne Wärme, (…) der Herstellung von metallischen Salzen, Verbindungen und Legierungen waren.“ Die Vaisesika Sutren vom 600 v.Chr. sprechen von unteilbaren Bausteinen. Die Upanishaden erwähnen Konzepte von swabhava (die inhärente Natur der Materie) sowie yadrchcha (die Zufälligkeit von Kausalität). Später wurden Konzepte von Elementarteilchen und deren Eigendrehung (Spin) sowie von gegensätzlichen elektrischen Kräften dargelegt. Die Liste könnte so weiter geführt werden – zum Beispiel, dass Maya dem Universum seine Masse verleiht (reden wir hier etwa vom Higgs-Feld?) oder dass es 750 chemische Elemente gibt (müssen wir noch auf kommende Sternen-Generationen warten?). Der indischer Mathematik-Genie Srinivasa Ramanujan sagte Anfang des 20. Jahrhunderts: „Eine Gleichung hat keine Bedeutung, wenn sie nicht einen Gedanken über Gott zum Ausdruck bringt.“ Die Erkenntnisse der Veden dienten in erster Linie der Spiritualität (OM wird als Wesen der Veden bezeichnet). Das Know-how diente dem Bau von Tempeln und nicht von Maschinen oder Waffen. Dieser „Schwachpunkt“ hat vielleicht dazu geführt, dass im 12. Jh. n.Chr. die 600 Jahre alte Nalanda Universität, die größte und bedeutendste Universität der Antike, samt ihrer über neun Millionen Büchern durch den Afghanen Bhaktijar Khilji niedergerbrannt wurde. Dieses Ereignis wird von Historikern als Anfang vom Ende der antiken indischen Wissenschaften bezeichnet. Jedenfalls wurde kurz darauf der indische Subkontinent für fast 900 Jahre fremd beherrscht und versank im geistigen Tiefschlaf. ©Michael Gandhi Rottweil, August 2012 Seite 3 von 3