204 Mu s i k im 2 0. Ja h r h u n d e rt Di e 20er Jah r e 1927 Die 20er Jahre Für die Musikentwicklung ist das Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg eine außerordentlich wichtige Zeit: Experimentierfreude, die Suche nach neuen Klängen und musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten und eine immer radikaler werdende Abgrenzung von der Musik des 19. Jahrhunderts auf der einen Seite, andererseits die Konfrontation mit den Einflüssen der afroamerikanischen Musik und den neuen massenmedialen Verbreitungsmöglichkeiten. Nach dem Krieg, der als Erster „Welt“-Krieg in die Geschichte eingeht, bricht in Deutschland das Kaiserreich zusammen. Nach Tausend Jahren Monarchie entsteht die erste deutsche Republik. Die Folgen des schrecklichen Krieges werden durch hektische Aktivitäten auf allen Gebieten überdeckt. Es entwickelt sich eine Unterhaltungsindustrie von bisher nicht gekannten Ausmaßen. Modetänze und Tanzmoden prägen die 20er Jahre. 1918/19 Wilhelm II. dankt ab Wahl zur Nationalversammlung Reichsverfassung Ebert Reichspräsident Unterzeichnung Vertrag von Versailles 1920 Anzeige in „Der Artist“ (1923) 1921 Kapp-Putsch scheitert an Generalstreik Arbeitslosigkeit und Massenelend Foxfieber Strawinsky: Ballett Pulcinella Ragtime wird von Shimmy und Foxtrott als Modetanz abgelöst Erste Berliner Dada-Messe Piscator gründet „Proletarisches Theater“ Expressionistische Filme Aufstände im Mansfelder Revier und in Hamburg niedergeschlagen Reparationen auf 132 Milliarden Mark festgelegt Fräulein, bitte woll’n Sie Shimmy tanzen? Musiktage in Donaueschingen als Forum für zeitgenössische Musik Umwandlung mehrerer Musikverlage in Aktiengesellschaften 1922 205 Die Einflüsse des Jazz, der von amerikanischen Musikern nach Europa gebracht wird, sind nicht zu überhören. 1923 wird die erste öffentliche Rundfunkübertragung aus dem Vox-Haus in Berlin ausgestrahlt. Der Rundfunk entwickelt sich in wenigen Jahren zum ersten Massenmedium. Auch die Schallplattenindustrie profitiert davon. Vor allem der Verkauf von Schlagern erreicht Rekordmarken. Es entsteht ein gigantischer Amüsierbetrieb mit Tanzdielen und Tingeltangel, Operettenhäusern und Revuepalästen, Kabaretts, Varietés und Kinos. Viele einzelne Nummern aus den großen Berliner Revuen werden zu Schlagern. Glanz und Elend liegen eng beieinander. Während einige Künstler zu Stars aufsteigen, verschlechtert sich die soziale Lage anderer rapide. Der aufkommende Tonfilm stürzt am Ende der Weimarer Republik Tausende von Kinomusikern in die Arbeitslosigkeit. (�� S. 152) Vertrag von Rapallo (wirtschaftliche Zusammenarbeit Deutschland–Sowjetunion) Rechtsradikale ermorden Außenminister Rathenau Electric-Girl Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen Kurt Schwitters: Arbeit an Ursonate Paul Hindemith: Kammermusik op. 24 (Fox, Shimmy, Rag) Erste Jazzplatte in Deutschland mit der Original Dixieland Jazzband „Schauburg“ in Köln eröffnet, größtes Kino mit 2 000 Plätzen 1925 Hindenburg Reichspräsident Besatzungstruppen verlassen das Ruhrgebiet Die schöne Adrienne hat eine Hochantenne Valencia (mehr als 20 Millionen Schallplatten in folgenden Jahren verkauft) Alban Berg: Uraufführung der Oper Wozzeck Revue Negre mit Josephine Baker in Europa „Elecrola“ als Tochter der „Grammophone“ in Berlin gegründet Über eine halbe Million Rundfunkteilnehmer 1924 Dawes-Plan regelt Reparationszahlungen neu Hitler schreibt in Festungshaft Mein Kampf Haller-Revue Noch und noch Radiofunken (Potpourri) Mein Vetter Nick Mach Dir doch ’nen Bubikopf George Gershwin: Musical Lady Be Good George Gershwin: Rhapsody in Blue George Antheil: Ballet mécanique für 16 mechanische Klaviere Im Januar 1580 Gebühren zahlende Rundfunkhörer, im März bereits 16 557 André Bretons erstes Manifest des Surrealismus Thomas Mann: Der Zauberberg „Neue Sachlichkeit“ als Stilbegriff Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag vollführt Kapriolen, Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, Filmstars und Prostituierte – alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie. Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen. Es geht hoch her – oder vielmehr, es geht drunter und drüber. Klaus Mann 1928 1923 Französische Truppen besetzen Ruhrgebiet Hitler-Putsch niedergeschlagen Inflation erreicht Höhepunkt (1 Dollar = 4,2 Billionen Papiermark) Rentenmark – Stabilisierung der Währung Tempelhofer Feld in Berlin wird Flugplatz Haller-Revue Drunter und drüber Proletarische Revue Roter Rummel (Piscator) Tutankhamen-Shimmy Ausgerechnet Bananen Arnold Schönberg: Fünf Klavierstücke op. 23 Arthur Honegger: Pacific 231 Igor Strawinsky: deutsche UA Geschichte vom Soldaten Tiller-Girls (Revue-Tanztruppe) Erste öffentliche Rundfunksendung Erste Mammut-Revue An alle! (Erik Charell) Erste Bauhauswoche, Aufführung Triadisches Ballett von Oskar Schlemmer Do The Black Bottom with Me Mein Herz ist eine Jazzband Fred Raymond: Singspiel Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren Ernst Krenek: Oper Jonny spielt auf (Mischung aus Jazz und Spätromantik) Dimitri Schostakowitsch: 1. Sinfonie gedruckt Alois Hába: Neue Harmonielehre des diatonischen chromatischen Viertel-, Drittel, Sechstel- und Zwölfteltonsystems Erste Versuche mit elektronischem Musikinstrument Theremin Ruttmann-Film Berlin. Sinfonie einer Großstadt Erster Tonfilm The Jazzsinger mit Al Jolson Lindbergh überfliegt als Erster den Atlantik Ich bin die Marie aus der Haller-Revue Dreigroschenoper (Brecht/Weill) uraufgeführt Arnold Schönberg: Variationen für Orchester op. 31 Maurice Ravel: Bolero Erster Auftritt der Comedian Harmonists Otto Dix: Großstadt-Triptychon 12 Millionen Schallplatten von Sonny Boy verkauft 1926 Charell-Revue Von Mund zu Mund Wer hat bloß den Käse zum Bahnhof gerollt Ich tanz Charleston, du tanzt Charleston Giacomo Puccini: Oper Turandot Einweihung Bauhaus Dessau Auftritt „Jazzkönig“ Paul Whiteman in Berlin Elektronisches Aufnahmeverfahren revolutioniert Schallplattentechnik Zahl der Rundfunkteilnehmer überschreitet Millionengrenze 1929 „Schwarzer Freitag“ an New Yorker Börse führt zur Weltwirtschaftskrise Arbeitslosigkeit wächst Franz Lehár: Operette Das Land des Lächelns Schöner Gigolo Hanns Eisler: Lieder auf Tucholsky-Texte; Agitprop-Songs Alfred Döblin: Roman Berlin Alexanderplatz Schallplattenindustrie erzielt Rekordabsatz von 30 Millionen Platten Abbildungen: S. 204: links Notentitel (1926); Mitte Ivan Puni: „Synthetischer Musiker“ (1921) S. 205: links Bernhards Ettés „Jazzsymphonians“ (Berlin 1926), Black Bottom (1926), Tiller-Girls; Mitte Berlinerinnen beim „Negern“ (1929); rechts Lotte B. Prechner: „Jazz“ (1929) A Verschaffen Sie sich einen Über- blick über den Kulturbetrieb der 20er Jahre anhand der Materialien (Abb., Texte und Hörbeispiele � S. 204–207). Beziehen Sie auch Ihre Kenntnisse über die Zeit mit ein.