Filmproduktion Übung Dozent: Tutorin: BTU Cottbus Prof. Dr. Christer Petersen Beatrix Altmeyer [email protected] LG 3A Raum 249 [email protected] LG 3A Raum 263 Storyboard und Filmanalyse I. Storyboard ▪ Grundbegriffe ▪ Definition ▪ Muster eines Storyboards II. Filmanalyse ▪ Kamera Einstellungsgröße Perspektive Point of View ▪ Mise-en-Scene Komposition Bewegung III. Editing ▪ Schnitt und Montage ▪ Musik Anhang Handout 2 I. Storyboard ▪ Grundbegriffe Einstellung Æ Szene Æ Sequenz (shot) (scene) (sequence) von Schnitt bis Schnitt Sinn- oder Handlungseinheit aus Einstellungen Sinn- oder Handlungseinheit aus Szenen Einstellung (1) Einstellung meint den kontinuierlichen Abschnitt zwischen zwei Schnitten. Diese wird definiert durch die Einstellungsgröße, d.h. den gezeigten Bildausschnitt, der seinerseits aus dem Abstand der Kamera zum gezeigten Objekt und den verwendeten Objektiven (siehe auch Brennweite) resultiert, sowie durch die Einstellungslänge. Innerhalb einer Einstellung sind Veränderungen der Einstellungsgröße sowie des Kamerastandpunktes möglich. (2) Im strukturellen Sinne ist die Einstellung nach Lotman (a) minimale Montageeinheit, (b) grundlegende Kompositionseinheit der filmischen Erzählung, (c) Einheit der Elemente innerhalb der Einstellung, (d) kleinste unteilbare Menge kinematographischer Bedeutung. (3) In einigen Filmtheorien gilt die Einstellung als Grundgestaltungsmittel des Films, wobei ihre elementare Stellung etwa der des Wortes in der Literatur entspricht. Wie jenes hat sie sowohl stoffliche als auch strukturelle Bedeutung, d.h. sie ist neben anderen Konstituierungselementen ästhetisch indifferentes Rohmaterial. Sequenz und Szene Im frühen Film bezeichnete Szene eine Handlungsszene in einer Einstellung; erst mit der Entwicklung der Montage differenzierte sich - vor allem im Englischen - der Sprachgebrauch, wenngleich es zu keiner Vereinheitlichung gekommen ist. Im Reden über narrativen Film ist eine dreigliedrige Hierarchie der Größen Einstellung (shot), Szene (scene) und Sequenz (sequence) üblich: Die Szene enthält eine Reihe von Handlungen, die zeitlich und/oder räumlich kontinuierlich zusammenhängen und meist als Folge von Einstellungen realisiert sind; die Sequenz ist dagegen eine Folge von Szenen, die eine einzelne Phase in der Entwicklung der Erzählung dokumentieren. ▪ Definition Ein Storyboard soll die Produktion im Detail vorbereiten und visualisieren, indem die einzelnen Einstellungen hinsichtlich der Einstellungsgröße, Kameraposition und -bewegung sowie Bild und Ton beschrieben und skizzenhaft ausgearbeitet werden. 2 3 II. Filmanalyse ▪ Kamera (Kamerahandlung) [nach Wullf 2002; Filmlexikon des Bender Verlages] 1. Einstellungsgrößen Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Einstellungsgrößen. Die menschliche Figur ist der Maßstab, an dem die Einstellungsgrößen festgemacht werden. Eine Übertragung auf Objekte oder auf andere Lebewesen ist immer problematisch. Weite bzw. Fern (Extrem Long Shot) Æ Landschaft, Menschen verschwindend klein Totale (Long Shot) Æ Handlungsraum der Menschen Halbtotale (Medium Long Shot, Full Length) Æ Mensch immer noch Teil der Umgebung, aber von Kopf bis Fuß zu sehen Amerikanische [keine Abbildung] (Medium Long Shot, Knee Shot) Æ Mensch ab den Knien aufwärts Halbnahe [keine Abbildung] (Full Shot, Medium Shot, Waist Shot) Æ ab der Hüfte aufwärts Nahe bzw. Nahaufnahme (Medium CloseUp, Medium Close Shot) Æ ab der Brust aufwärts Großaufnahme (CloseUp) Æ ab den Schultern aufwärts oder nur Kopf Detailaufnahme (Extreme CloseUp, Tight Head Shot) Æ nur noch ein Ausschnitt des Gesichts 4 2. Perspektive Die Kameraperspektive ist die Blickorientierung der Kamera auf ein Objekt oder Geschehen. Es gilt, die verschiedenen Positionen bezogen auf das vorfilmische Objekt oder Ereignis festzulegen: Kamerahöhe Man unterscheidet gemeinhin die Normalstellung der Kamera – sie steht dann auf der Augenhöhe der beteiligten Akteure – von den Bereichen der Aufsicht und der Untersicht. Die Aufsichten gehen bis zum Top Shot, der die Szene aus 90-GradAufsicht registriert. Die Untersichten enden mit der Froschperspektive, bei der die Kamera in Höhe der Füße steht. Sehr selten sind Untersichten, die die Akteure durch gläserne Fußböden photographieren: Froschperspektive (extreme low angle shot, below shot) Æ aus starker Untersicht Untersicht (low angle shot) Æ Kamera unterhalb der Augenhöhe der Akteure Normalsicht (eye level) Æ Kamerahöhe ist die Augenhöhe der Akteure Aufsicht, auch: Obersicht (overhead shot, high angle shot) Æ Kamera oberhalb der Augenhöhe der Akteure Vogelperspektive (extreme high angle shot, overhead) Æ aus starker Aufsicht Top Shot (God's eye view) Æ aus 90-Grad-Aufsicht Kamerabewegungen Kamerabewegung ist ein Sammelbegriff für alle Bewegungen der Kamera. Es gibt vier Grundformen: Fahrt (tracking shot, dolly shot) Kranaufnahme (crane shot, boom shot) horizontaler Schwenk (pan) vertikaler Schwenk (tilt) Daneben stehen einige viel seltener verwendete Sondertypen: Reißschwenk (swish pan) Verkanten (canted camera) Rollen (roll) Schwanken (Dutch angle shot) Luft- oder Hubschrauberaufnahme (air-to-air shot) Handkamera (hand camera shot, portable camera shot) Neben diesen einfachen Bewegungen gibt es eine große Anzahl kombinierter Bewegungen. Man kann also mit dem Kran hochfahren und gleichzeitig nach unten schwenken, man kann Schwenks und Fahrten kombinieren etc. 5 Point of View POV bezeichnet den Wahrnehmungstandpunkt des von der Kamera Gezeigten. Der Standpunkt/POV kann objektiv, d.h. an keine Figur des Films gebunden sein und sich sozusagen in der Position des außen stehenden Beobachters befinden. Der POV kann aber auch subjektiv, d.h. an die Wahrnehmungsperspektive einer Person gebunden sein. Beispiele eines objektiven POV: External Shots Als External Shots werden alle Einstellungen der Kamera bezeichnet, welche gewissermaßen von außen ein Geschehen darstellen und keiner Figur des Films zugeordnet sind, wie zum Beispiel: Establishing Shot (oder auch: Master Shot) Eine Aufnahme am Anfang des Films oder auch einer Sequenz oder Szene, die den Raum und die Umgebung einführen, etablieren soll – meist eine Totale oder Long Shot – wird als Establishing Shot bezeichnet. Derartige Aufnahmen erfüllen mehrere Funktionen gleichzeitig: Sie zeigen eine Aufsicht des Handlungsraumes und tragen insofern dazu bei, dass der Zuschauer eine Vorstellung des master space aufbauen kann. Re-establishing Shot Im Verlauf einer Szene kann u.U. mehrfach auf die etablierende Raumsicht zurückgegangen werden. Dabei werden verschiedene Funktionen erfüllt: man erinnert an den Gesamtort; man setzt eine optische Zäsur und führt damit eine optische Gliederung des Szenengeschehens ein; man nimmt eine EndeMarkierung einer Kommunikationsepisode oder der ganzen Sequenz vor; mit dem re-establishing shot kann ein Wechsel der Position der Akteure vorgenommen werden; man kann aber auch an eine anwesende, aber nicht agierende Figur erinnern. Beispiele eines subjektiven POV: Subjektive Kamera Subjektive Kameraführung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Sicht eines Protagonisten einnimmt. Der Kamerastandort ist der Standort einer Figur in der Szene, deren ›Blick‹ das Bild wiederzugeben scheint. Versteht man die Kamera als stellvertretendes Auge des Zuschauers, wird dadurch der Blick des Protagonisten zu seinem. Frühe Formen der subjektiven Kamera waren Blicke durch Fernrohre oder Schlüssellöcher, die im Filmbild durch Maskierungen des Bildes illusioniert wurden. Eine andere, schon früh entwickelte Möglichkeit, die Subjektivität der Einstellung zu markieren, bestand darin, die Kamera die gleichen Bewegungen machen zu lassen wie den Protagonisten. Auch dabei entsteht der Eindruck, der Zuschauer sehe durch dessen Augen. Durchaus üblich ist es auch, durch die Kamera das zu zeigen, was nur der entsprechende Protagonist wahrnehmen kann. Eine Extremform subjektiver Kameraführung liegt vor, wenn sie nicht kurzzeitig in Blickmontagen oder zur Intensitätssteigerung genutzt wird, sondern durchgehend den Blick des Protagonisten einnimmt. Eine solche Inszenierung wirkt höchst artifiziell und ist nur äußerst selten praktiziert worden. Das ›echte‹ Subjektive, bei der die Kamera in Augenhöhe der Figur steht, ist eher selten. Meist wird eine Kameraperspektive eingenommen, die dem Idealort nahe, aber dennoch spürbar seitlich leicht versetzt die Filmperson begleitet und damit den Zuschauer nur an deren Seite stellt, ohne deren Sicht 6 vollständig zu übernehmen. Dementsprechend müssen die Gesprächspartner bei Dialogszenen auch nicht direkt in die Kamera schauen. Point-of-View-Shot Einstellung, die die subjektive Sicht einer Figur darstellt. Nach Edward Branigans klassischer Definition wird in einer ersten, vorbereitenden Einstellung ein Beobachtungspunkt etabliert, indem eine Figur gezeigt wird, die ihren Blick auf etwas außerhalb des Kaders richtet. In der nächsten Einstellung befindet sich die Kamera an der Stelle dieser Figur und zeigt, worauf der Blick gerichtet war. Zwischen beiden Einstellungen muss zeitliche und räumliche Kontinuität bestehen, und die Figur muss als ›bei Bewusstsein‹ verstanden werden, damit der Eindruck einer subjektiven Sichtweise gewährleistet ist. In der klassischen Blickmontage folgt als 3. Einstellung der Rückschnitt auf die sehende Figur. Tatsächlich zeigt die filmische Praxis, dass die Verwendungsmöglichkeiten des Point-of-View-Shots erheblich freier sind: Die Reihenfolge der beiden Einstellungen kann vertauscht werden (was zur Spannungssteigerung äußerst effektiv sein kann); die erste Einstellung kann sogar ganz entfallen, solange anderweitige formale und/oder inhaltliche Signale für ›Subjektivität‹ geben werden, z.B. durch eine wackelnde Kamera oder durch die Zielgerichtetheit einer Bewegung (etwa: Heranschleichen an ein Opfer). ▪ Mise-en-Scene Mise-en-Scene bezeichnet den Bildinhalt, also alles, was sich im Bildrahmen der Kamera befindet, das Set bzw. dessen sichtbare Teile sowie die handelnden Akteure. 3. Komposition Das nicht bloß von Figuren- und Objektbewegungen oder Kamerabewegungen dominierte Filmbild folgt kompositorischen Prinzipien, einige der wichtigsten Prinzipien sind: Offene vs. Geschlossen Form Streuung vs. Ballung Vordergrund und Hintergrund Symmetrie: Achsensymmetrie, Punktsymmetrie Goldener Schnitt (Verhältnis von ca. 1 zu 1,68) Zudem kann der Bildraum auch bewusst ungeordnet sein, um das Zufällige oder Dokumentarische zu betonen. Farbe: Farbmotivik (Farbe kann eine symbolische Funktion einnehmen oder leitmotivisch eingesetzt werden) Komplementärkontraste (rot-grün, blau-orange, gelb-violett) Hell-Dunkel-Kontrast (z.B. blau-gelb, schwarz-weiß) 7 Warm-Kalt-Kontrase (z.B. blau-rot) monochrome Farbgebung (z.B. schwarz-weiß, verschiedene Blautöne) [Æ siehe hierzu den Anhang] 4. Bewegung Die Bewegung vor der Kamera muss ebenso wie die Kamerahandlung – und zusammen mit der Kamerahandlung – choreographiert werden. Zu beachten ist dabei vor allem auch das Verhältnis von On- und Off-Screen: On-Screen alles, was im Bild bzw. Kamerarahmen sichtbar ist Off-Screen alles, was sich außerhalb des Kamerarahmens befindet (kann aber durchaus hörbar sein; entsprechend kommt der Ton aus dem On und dem Off.) Die Grundfragen sind: Wie bewegt sich das Objekt im Bild (im Verhältnis zur Kamera)? Wie bewegt sich das Objekt in das Bild hinein bzw. aus dem Bild heraus? 8 III. Editing ▪ Schnitt und Montage Die Nachbearbeitung eines Films besteht im Wesentlichen aus der späteren Vertonung des gesamten Films sowie aus dem Schnitt und der Montage der einzelnen Einstellungen. Dabei erfüllen Schnitt und Montage auf den verschiedenen Segmentebenen (Einstellung, Szene, Sequenz) unterschiedliche Funktionen: Einstellung: Abblende (fade-out), Aufblende (fade-in), Überblendung (dissolve) Eine Abblende ist eine allmähliche Verringerung der Blendenöffnung, bis das Bild schwarz (aber nicht unbedingt schwarz) wird. Eine Aufblende ist das genaue Gegenteil – die sich langsam öffnende Blende manifestiert sich als langsam aus Schwarz aufscheinendes Projektionsbild. Eine Überblendung ist eine Kombination aus beiden: Das erste Bild wird ab-, das zweite aufgeblendet. Die Überblendung zählt ebenso wie das Doppel von Ab- und Aufblende typologisch zu den ›Einstellungsverbindungen‹, zu denen auch Schiebe-, Wisch-, Fett-, Rauch-, Iris- und andere Blenden gehören. Im Kino der 1930er und 1940er Jahre war die Überblendung recht eindeutig kodifiziert als Mittel, mit dem Szenenübergänge, Rückblenden und subjektive Bilder wie z.B. Traumsequenzen markiert wurden. Anschlussschnitt Der Anschlussschnitt folgt der Bewegung und der Handlung so, dass der Eindruck der Kontinuität zwischen zwei Einstellungen entsteht. Alternation oder Parallelmontage Vereinigt zwei (oder mehr) verschiedene Handlungen, zwischen denen hin- und hergeschnitten wird. Jump Cut Schnitt zwischen zwei Einstellungen, die hinsichtlich Kameradistanz und Bildausschnitt identisch sind, aber einen Sprung in der Handlung vollziehen. Ein Jump Cut ist sehr deutlich zu sehen und will auch deutlich wahrgenommen werden (sofern es sich nicht um einen Anschluss- bzw. Schnittfehler handelt). Wichtig dabei ist, dass er nicht aus Unvermögen beim Filmen oder Schneiden entsteht, sondern beabsichtigt ist, um (a) zwei unterschiedliche Einstellungen zu verbinden, (b) zwei ähnliche Einstellungen voneinander zu trennen oder (c) weit getrennte Räume oder Zeiten zu verbinden. Oft wird ein Jump Cut mit einem Match Cut verbunden. Szene: Die verschiedenen Blenden und Schnitte (s.o.) können nicht nur Einstellungen verbinden, sondern natürlich auch Szenen und Sequenzen. Match Cut Beim Match Cut werden die Bilder so aneinander geschnitten, dass das Bildzentrum des einen Bildes an gleicher Stelle ist wie das des anderen. Da die Aufmerksamkeit so auf einen besonderen Bereich des Bildes konzentriert ist, wird sie von der Tatsache des Schnitts resp. von der Diskontinuität des Bildwechsels abgelenkt und erzeugt den Eindruck eines Fließens der Bilder entlang der Handlungs- und 9 Themenfolgen. Dabei kann die Verbindung zwischen den Einstellungen (a) durch die Kontinuität der Handlung, (b) durch die Ähnlichkeit der Handlungen zweier Charaktere, die man im gleichen Bildfeldbereich sieht, (c) durch die Ähnlichkeit der Handlungen der gleichen Figur zu verschiedenen Zeitpunkten oder (d) durch die graphische Ähnlichkeit zweier Objekte im gleichen Bildfeldbereich angeregt werden. Flash-Cutting Sequenzen kurzer, aufeinanderfolgender Einstellungen, die z.B. größere Zeiträume durch einzelne Bilder zusammenfassen. Die Polaroid-Aufnahmen in LOLA RENNT (Tom Tykwer, 2000) sind ein Beispiel dafür. Cutaway Der Wegschnitt (engl. cut-away) ist ein Motivwechsel innerhalb einer Szene: Der Gang der Handlung wird unterbrochen, von einer Haupthandlung wird auf ein nebensächliches Detail umgeschnitten, Zeit vergeht. Cutaways haben mehrere verschiedene Funktionen: Sie zeigen das Vergehen der Zeit an und ermöglichen Zeitsprünge. Gegebenenfalls wird ein Detail hervorgehoben, das die narrative Verwicklung, manchmal auch die Spannung erhöht. Eine Szene ist zu Ende; ein CutAway zeigt noch einmal ein vergessenes Beweisstück; es folgt die nächste Szene. Schuß-Gegenschuß-Montage Das Schuß-Gegenschuss-Prinzip wird typischerweise in Dialogen angewendet: Es wird zwischen zwei Kameras hin- und hergeschnitten, die jeweils einen der Akteure zeigen. Dabei ist es üblich und gebräuchlich, die Schulter desjenigen, den man nicht fokussiert, im Anschnitt zu zeigen (over-shoulder shot). Um den Eindruck der Kontinuität nicht zu verletzen, muss die Blickachse zwischen den Akteuren sehr genau beachtet werden, sonst entstünde das Gefühl, dass sie aneinander vorbei blickten. Sequenz: Filme sind narrative Texte – Texte, die etwas erzählen. Das geschieht auf der Ebene des Einzelbildes synchron (gleichzeitig), auf der Ebene der Einstellung (wenn diese nicht statische ist), und den Ebenen der Szene und der Sequenz diachron (nacheinander). Sobald ein Film also eine Story entwickelt und nicht rein abstraktenästhetischen Strukturen (z.B. formale Komposition, Reihung, etc.) oder der bloßen Attraktion (s.u.) folgt muss die Story narrativ organisiert sein. Attraktion vs. Narration In der Beschreibung des Kinofilms wird oft eine narrative und eine attraktionelle Ebene unterschieden. Die Narration bemüht sich um den inneren Zusammenhang der Erzählung, um Folgerichtigkeit und Wahrscheinlichkeit. Die Attraktion dagegen exponiert Szenen und Umgebungen, die auf die Schaulust des Zuschauers spekulieren und eher in der Tradition der artistischen Künste und der Sensationsdarstellungen stehen als in der Erzähltradition des Romans. Das Narrative und das Attraktionelle verhalten sich keinesfalls exklusiv zueinander, sondern können glänzend miteinander kombiniert werden. 10 Prinzipien der Narration Dauer: Darstellungszeit ist die faktische Dauer der Darstellung einer Handlung im Film. Die dargestellte Zeit ist die fiktionale Dauer des Erzählten. Die Darstellungsgeschwindigkeit ergibt sich aus der Relation von Darstellungszeit und dargestellter Zeit Szenische Darstellung Neutrale Darstellungsgeschwindigkeit, weil eine Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit besteht (z.B. bei Dialogszenen) Raffung Schnelle Darstellungsgeschwindigkeit, wenn die dargestellte Zeit die Darstellungszeit deutlich übersteigt; das geschieht, indem tote (handlungsarme) Zeit durch Schnitte weggelassen wird (typische Erzahlweise) Dehnung Langsame Darstellungsgeschwindigkeit, selbst wenn die Darstellungszeit die dargestellte Zeit auch nur leicht übersteigt (eher untypische Erzählweise) Ordnung: Chronologische Darstellung identische Reihenfolge von Dargestelltem und Darstellung Flashback (Rückblende) Filmsegment, das Ereignisse zeigt, die zeitlich vor der Handlungsgegenwart liegen. Eine Rückblende wird inhaltlich meist durch die subjektive Erinnerung/Erzählung einer Figur motiviert. Sie kann formal markiert werden, z.B. durch langsame Überblendungen, Wechsel von Farbe in Schwarzweiß, durch Voice-Over der erzählenden Figur etc. Markierungen können aber auch ausbleiben, die Grenzen können sogar gezielt verwischt werden. Rückblenden haben oft aufklärerische Funktion, können z.B. einen Tathergang klären oder die psychische Befindlichkeit einer Figur begründen. Flashforward (Vorausdeutung) Vorwegnahme von Zukünftigem, funktioniert formal wie der Flashback, ist dem Zuschauer jedoch schwerer und nur durch zusätzlich Zeitangaben auf der Bild oder Tonebene zu vermitteln. Frequenz (Häufigkeit): Singulatives Erzählen Verhältnis von eins zu eins zwischen dem Ereignis und seiner Darstellung, d.h. ein einmaliges Ereignis wird einmal erzählt und sich wiederholende Ereignisse werden so oft erzählt wie sie geschehen Repetitives Erzählen wiederholtes Erzählen desselben Ereignisses Iteratives Erzählen einmaliges zusammenfassendes Erzählen sich wiederholender Ereignisse 11 ▪ Musik Die Filmmusik ist neben den Bildinhalten und dem Text das wichtigste filmische Gestaltungsmittel. Mit der Musik wird die Wahrnehmung des Zuschauers emotional gesteuert, zugleich eröffnet die Musik eine zusätzliche Bedeutungsebene innerhalb des Films. Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten wie Bildinhalte/Text und Musik einander ergänzen [nach Timm 1982]: 1. Paraphrasierung Die Musik greift die Bild- und Textinhalte auf und spiegelt sie unterstützend wider. 2. Polarisierung Die Musik lenkt die Bedeutung in eine bestimmte Richtung. Diese ist durch Bild/Text nur tendenziell oder noch gar nicht vorgegeben. 3. Kontrapunktierung Die ›Aussage‹ der Musik ist zu den Bild- und Textinhalten entgegengesetzt. Kontrapunktierende Musik wird oft als ironischer Kommentar eingesetzt und produziert beim Zuschauer – im Gegensatz zu 1 und 2 – oftmals eine reflektierend Rezeptionshaltung. Darüber hinaus kann ein musikalisches Thema als Leitmotiv eingesetzt werden, indem es etwa einer bestimmten Figur zugeordnet wird. Außerdem kann die Musik als ein integrales oder dominantes Strukturelement eingesetzt werden, indem sie etwa die den Schnittrhythmus vorgibt (Musikvideos) oder den Film in seinen Elementen anderweitig strukturell widerspiegelt (s.u.). Die Filmmusik als integrales Strukturelement [Petersen 2001: 22-7] Eine besondere Rolle in den Filmen Greenaways spielt auch die Filmmusik, die nicht nur einen konventionellen Einsatz findet, indem sie die einzelnen Szenen einerseits paraphrasiert, polarisiert und kontrapunktiert und andererseits leitmotivisch verbindet, sondern darüber hinaus ist die Musik auch auf einer strukturellen Ebene mit den Filmen verbunden, da sie zu den analysierten Ordnungssystemen äquivalente Strukturprinzipien aufweist. Greenaway selbst erhebt den Anspruch, in seinen Filmen gerade in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Michael Nyman eine Filmmusik zu schaffen, die einen integralen strukturellen Bestandteil des jeweiligen Films bildet: „Our attitude has been that music should somehow structure it. It should not just be a creation of mood or an emotional adjunct, telling an audience how to think. It ought to be integral to the movie.” Die Filmmusik Michael Nymans, die dieser für insgesamt fünf der acht Spielfilme Greenaways komponiert hat (die Ausnahmen sind The Belly of an Architect, The Baby of Mâcon und The Pillow Book), entspricht in den ihr immanenten Prinzipien den filmischen Ordnungssystemen vor allem in zwei Punkten. So ist die Musik ganz in einer minimalistischen Tradition stehend vor allem durch ihren repetitiven Charakter geprägt. Es werden in der Regel innerhalb eines konstanten Rhythmus stark reduzierte Themen oder Motive mit relativ geringer Variation fortwährend wiederholt, womit ein musikalisches Analogon zum Strukturelement des Kreismotivs bzw. des Zyklus geschaffen wird. Dasselbe gilt auch für Wim Mertens Filmmusik zu The Belly of an Architect, die ebenfalls durch ein minimalistisches Prinzip der Wiederholung bestimmt ist. 12 Die sich wiederholenden Motive stellen sich bei Nyman zudem meist als Zitate aus der Musikgeschichte dar und bilden damit eine Entsprechung zur filmischen Intertextualität. Nyman greift analog zu Greenaways Zitationen aus der Malerei sowohl identifizierbare Themen einzelner Komponisten als auch bestimmte musikalische Topoi aus der Musikgeschichte auf. Guido Heldt weist beispielsweise die musikalische Zitation einer sogenannten Vorhaltesequenz, die im Kontext der barocken Affektlehre als „Ausdruck schmerzlicher Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Resignation, andererseits gemessener Melancholie“ gilt, an der Musik der Eröffnungsszene von ZOO nach (4:90). Die Musik paraphrasiert dort die Verzweiflung Oswalds und Olivers über den Unfalltod ihrer Frauen. Beispiele für unmittelbare Zitate aus den Werken anderer Komponisten in den Filmmusiken Nymans sind bereits von verschiedenen Interpreten offengelegt worden, so vor allem Nymans Referenzen auf die Baßlinien der Stücke des Barockkomponisten Henry Purcell in The Draughtsman’s Contract und Prospero’s Books. Heldt weist zudem an einzelnen Notenbeispielen detailliert die Adaption der Melodielinie aus Mozarts Sinfonia concertante für Violine und Viola Es-Dur (Takt 58-61) in Nymans Endgame nach, die die Sterbe- bzw. Hinrichtungsszene Madgetts in Drowning (106:18) begleitet. Noch aufschlußreicher an Heldts Analyse der beiden Musikbeispiele aus Drowning by Numbers und ZOO erscheint jedoch seine Feststellung, daß Nyman die Musikvorbilder nicht nur zitiert, sondern sie zugleich auch dekonstruiert. Nyman löst laut Heldt die Motive aus dem paradigmatischen Sinnzusammenhang des ursprünglichen Stücks und stellt sie statt dessen in den syntagmatischen Kontext einer rein repetitiven Struktur, wobei das ursprüngliche Motiv einerseits fragmentiert und vereinfacht und andererseits bis zur Unkenntlichkeit variiert und dekonstruiert wird: „In der Kombination des Nymanschen Fragmentierungs- und Replikationsverfahrens mit [den] Vereinfachungstendenzen wird der Schein zitierender Verarbeitung von Vorlagemusiken (oder historischen Mustern wie der Vorhaltesequenz) erzeugt, während tatsächlich der spezifische Sinn der Vorlage zerstört wird.“ Dieses dekonstruktivistische Moment in der Filmmusik Michael Nymans findet wiederum seine Entsprechung in der Arbeitsweise Greenaways, der in seinen Filmen Ordnungssysteme nicht nur konstruiert, sondern diese - wie sich im folgenden zeigen soll - zugleich immer auch filmimmanent dekonstruiert. Literaturverzeichnis: Filmlexikon des Bender Verlags: http://lexikon.bender-verlag.de Heldt, Guido (1990): "... breaking the sequence down by beat": Michael Nymans Musik zu den Filmen von Peter Greenaway. In: Wulff, Hans J. (Hg.): 2. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium / Berlin ‘89. Münster, S. 177-188 Monaco, James (2000): How to Read a Film: The World of Movies, Media and Multimedia. 3rd Edition. New York, Oxford Petersen, Christer (2001): Jenseits der Ordnung. Das Spielfilmwerk Peter Greenaways. Strukturen und Kontexte. Kiel Timm, Eitel (1982): Musik im Film: Möglichkeiten und Grenzen der Transkription. In: Paul Buchloh (Hg.): Filmphilologie. Studien zur englischsprachigen Literatur und Kultur in Buch und Film. Kiel, S.155-73 Wulff, Hans Jürgen u.a. (2002): Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft. Konstanz 13 1. 2. Im Jahre 1929 beschrieb der russische Regisseur und Filmtheoretiker V.I. Pudowkin ein Experiment, das seither in die Mythologie des Films als der Kuleschow-Effekt eingegangen ist: 15 3. 4. 16 5. 6. 17 7. 8. 18 9. 10. 19 11. 12. 20 13. Quellen (Anhang): 1. Aspekte der Kunst (1980) von Eva Maria Kaifenheim, Verlag: Martin Lurz GmbH 2. Phantasie und Deutung (1986) von Wolfram Mauser, Ursula Renner, Walter Schönau, Verlag: Königshausen + Neumann 3. bis13. how to read a film (2000) von James Monaco, Verlag: Oxford University Press 21