195 Der Haddsch: Pilgertum im Islam Nazmi Al-Jubeh Bild aus Keramikfliesen Darstellung der Kaaba in Mekka Osmanen, 1676 Museum für Islamische Kunst Kairo, Ägypten 196 Islamische Kunst am Mittelmeer Schlüssel der Kaaba Mamluken, 1363 Museum für Islamische Kunst Kairo, Ägypten Blick auf Mekka aus der Vogelperspektive Zur Orientierung der Pilger während der Haddsch Osmanen, frühes 18. Jahrhundert Universitätsbibliothek Uppsala Uppsala, Schweden Der Haddsch: Pilgertum im Islam Der Haddsch gehört zu den sieben wichtigsten Pflichten oder „Säulen“ des Islam und gilt als einer der kürzesten Wege zu Gott. Wann genau der Haddsch nach Mekka begann, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass er bereits längere Zeit vor Entstehung des Islam praktiziert wurde und somit auf die von den Muslimen so genannte Zeit der Unkenntnis oder Dschahiliyya zurückgeht. Mekka war in vorislamischer Zeit eine der wenigen Städte im Hedschas. Seine große Bedeutung erlangte es durch die Kontrolle wichtiger Handelswege, die verschiedene Märkte von Afrika bis Indien und vom Nahen Osten bis zum westlichen Mittelmeerraum verbanden. Kaufleute aus Mekka reisten hauptsächlich in zwei Karawanen. Die eine zog im Sommer in den Norden, die zweite im Winter in den Süden. Umgekehrt kamen Händler von der gesamten arabischen Halbinsel und aus noch weiter entfernten Gebieten nach Mekka – vor allem zur alljährlichen Pilgersaison, bei der einer Reihe von lokalen Gottheiten gehuldigt wurde, die alle in der Kaaba untergebracht waren. Nach muslimischem Glauben wurde die Kaaba ursprünglich von Allahs Prophet Abraham an der Stelle gebaut, an der zuvor schon Adam das „erste Haus“ für die Anbetung Allahs errichtet hatte. Abraham hatte seine Frau Der Haddsch: Pilgertum im Islam Qibla Teller Verwendet, um die Richtung zur Kaaba zu weisen Osmanen, 1512–20 Nationalmuseum Damaskus, Syrien Al-Haram al-Scharif mit Felsendom und al-Aqsa Moschee Von Gott im Koran gesegnet war al-Haram al-Scharif der erste Ort der Qibla. Baubeginn 637, Vollendung 1917 Jerusalem 197 198 Islamische Kunst am Mittelmeer Pilgerflasche Mamluken, 1341–45 Nationalmuseum Damaskus, Syrien Teil der Bedeckung der Kaaba Jedes Jahr vor der Haddsch-Saison erneuert Osmanen, 19. Jahrhundert Islamisches Museum und al-Aqsa Bibliothek Jerusalem Haggar und ihren Sohn Ismail verstoßen und in das „Tal, in dem nichts wächst“ in Mekka gebracht. Auf der Suche nach Wasser für ihren Sohn lief Haggar verzweifelt zwischen al-Safaa und al-Marwah hin und her. Plötzlich schoss das heilige Wasser von Zamzam aus einer Quelle zwischen den Füßen ihres Säuglings Ismail. Aus Reue und Dankbarkeit baute Abraham Gott zu Ehren die Kaaba und leistete darin Opfergaben. Daraufhin befahl ihm Gott, die Kaaba beim Gebet siebenmal zu umrunden, um ihm seine Ehrerbietung zu erweisen. In der Dschahiliyya-Zeit war die Kaaba also bereits als Heiligtum in Gebrauch. Die heiligen Stätten und ein Großteil des Handels in Mekka unterstanden der Kontrolle des mächtigen Stammes der Quraysch. Muhammad, der Prophet des Islam, wurde 570 als Spross eines verarmten Zweigs der Quraysch geboren. Er lernte zunächst ebenfalls den Beruf des Kaufmanns, fühlte sich aber bald von der materiellen Gier und den polytheistischen Auswüchsen seiner Zeitgenossen abgestoßen. Allah erwählte ihn, wie es die islamische Tradition besagt, zum letzten Überbringer des wahren Glaubens und so begann Muhammad, den Menschen Gottes Wille zu verkünden und sie zum Leben nach seinen Gesetzen zu bekehren. Die jährliche Pilgerfahrt war einer von mehreren traditionellen Bräuchen, die er nach dem Willen Allahs umgestaltete. Der Islam und die dem Propheten von Gott offenbarten Anweisungen im Koran machten aus dem Haddsch eine Pflicht, die jeder Muslim einmal im Leben zu erfüllen hat, sofern er gesundheitlich und finanziell dazu in der Lage ist. Mekka und die Kaaba verloren ihre heidnischen Bedeutungen und wurden für die wachsende Gemeinschaft der Muslime in zweierlei Hinsicht Der Haddsch: Pilgertum im Islam Stellvertreter-Schriftrolle Wer einen Stellvertreter auf Pilgerfahrt schickte, erhielt ein solches Schriftstück, das bewies, dass alle Verpflichtungen des Haddsch erfüllt waren. Ayyubiden, 1206 Museum für Türkische und Islamische Kunst Istanbul, Türkei Meilenstein Abstandsanzeige zwischen zwei Stationen entlang einer Pilgeroder Handelsroute Umayyaden, 685–705 Museum für Türkische und Islamische Kunst Istanbul, Türkei 199 200 Islamische Kunst am Mittelmeer Bild aus Keramikfliesen Osmanen, 1676 Museum für Islamische Kunst Kairo, Ägypten GEGENÜBERLIEGENDE SEITE Grabbedeckung Osmanen, 17. Jahrhundert Königliches Museum, Staatliche Museen Schottland Edinburgh, Großbritannien zum Mittelpunkt der Welt: Erstens ließ Allah die Muslime durch den Propheten wissen, dass sie in Richtung Mekka bzw. der Kaaba zu beten hätten – Muhammad hatte ursprünglich Jerusalem als Gebetsrichtung angegeben. Zweitens wurden Mekka und die Kaaba nun Ziele der muslimischen Pilgerreise, des Haddsch, der jedes Jahr im islamischen Monat Dhu l-Hiddscha stattfindet. Der Prophet übernahm viele vorislamische Bräuche, die mit der Pilgerschaft verbunden waren. Er schaffte allerdings die Tradition ab, die Kaaba nackt zu umrunden, und befahl den Pilgern stattdessen, leichte, weiße Kleidung zu tragen. Alle männlichen Pilger tragen diesen Ihram genannten, weißen Umhang. Sie beginnen mit den Ritualen der Pilgerfahrt, indem sie Gott bitten, er möge ihre Reue annehmen. Dann flehen sie zu ihm: „Hier stehe ich zu Deinen Diensten, O Allah, hier bin ich, und es gibt niemanden, der Dir ebenbürtig wäre.“ Mit dem Haddsch ist ein komplexes System von Ritualen verbunden. Einer der Höhepunkte ist der Aufenthalt auf dem Berg Arafat. Zum Ende hin leisten die Gläubigen eine Opfergabe für Gott den Allmächtigen, mit der zugleich das Id al-Adha, das Opferfest beginnt, die wichtigste aller islamischen Feierlichkeiten. Neben ihren Pilgerpflichten besuchen die Gläubigen auch noch das Grab des Propheten, seine Moschee in Medina und andere heilige Stätten, vor allem Jerusalem. In den letzten Jahrzehnten wurde in der muslimischen Glaubenspraxis die so genannte Umra immer wichtiger. Sie bezeichnet den Brauch, die Rituale des Haddsch zu anderen Zeiten des Jahres und ohne den Besuch des Berges Arafat durchzuführen. Der Haddsch steht längst nicht mehr allen Muslimen offen, die daran teilnehmen wollen, denn die saudische Regierung legt jedes Jahr eine Obergrenze für die Zahl der Pilger fest, die im Monat Dhu l-Hiddscha nach Mekka reisen dürfen. Die Umra ist eine Alternative für all jene, die nicht unter den Glücklichen sind und dennoch nach Mekka fahren wollen. Mit ihrer Pflege der heiligen Städte und der Verpflichtung, die islamische Pilgerschaft zu organisieren, setzt die saudische Regierung eine alte Tradition fort. Danach war es der ganze Stolz muslimischer Herrscher, nicht nur die alljährlichen Rituale in Mekka selbst zu ermöglichen, sondern auch die Anreise der Pilger aus den entlegensten Gebieten der islamischen Welt zu organisieren. Dieser Dienst war mehr als eine Herrscherpflicht. Er war auch eine Quelle politischer Legitimität und darüber hinaus mit der Hoffnung auf göttlichen Segen verbunden. In allen Teilen der muslimischen Welt wurden eigens für die Pilgerzüge Straßen (Darb al-Haddsch) gebaut und von den jeweiligen Obrigkeiten mit allem ausgestattet, was die Reisenden unterwegs brauchten. Ein ausgefeiltes System von Rasthäusern und Unterkünften entwickelte sich entlang dieser Straßen, um die immer größeren Karawanen zu versorgen – an denen übrigens nicht nur Pilger teilnahmen, sondern auch Kaufleute, Diener und, falls ein Kalif oder ein Sultan auf Pilgerfahrt ging, eine umfangreiche Entourage mit Schutztruppen und Musikern. 202 Islamische Kunst am Mittelmeer Begriffe und Rituale des Haddsch Abschied der Pilger: ein Teil des Brauchtums, der mittlerweile zu einer nationalen Feierlichkeit umgewandelt wurde. Je nach Herkunftsland der Pilger werden an diesem Tag unterschiedliche Lieder gesungen. Üblicherweise nehmen Regierungsvertreter an der Verabschiedung der HaddschKarawanen teil, ähnlich wie zur Begrüßung der Pilger bei ihrer Rückkehr. In der Vergangenheit wurden die Karawanen an den Grenzen der Provinzen empfangen. Absicht: Muslime bekunden zunächst ihre Absicht, die religiöse Pflicht des Haddsch zu erfüllen und wenden sich bei ihrer Abreise nach Mekka. Besuch Jerusalems: In frühislamischen Zeiten galt ein Besuch Jerusalems (al-Quds) als Pilgerfahrt für diejenigen, die nicht gesund oder wohlhabend genug für die Reise nach Mekka waren. Jerusalem war vor Mekka der erste Gebetsmittelpunkt (qibla) und gilt bis heute als die drittheiligste Stadt. Als solche ist sie Teil des „heiligen Dreiecks“. Üblicherweise wurde ein Besuch Jerusalems auf der Rückreise eingeschoben – vor allem von Pilgern aus Spanien und Nordafrika, dem Westen der islamischen Welt. Darb al-Haddsch (Pilgerroute oder -straße): ein eigenes Netz von Routen, die sich zuweilen ändern konnten und die von Pilgern aus allen Teilen der islamischen Welt benutzt wurden, wenn sie nach Mekka unterwegs waren. Normalerweise sorgte die jeweilige Regierung für alles Nötige entlang der Wege – vor allem für Sicherheit. Karawanen trafen sich zu bestimmten Zeiten an vorher festgelegten Orten. So traf etwa eine türkische Karawane eine syrische, und beide verbanden sich unterwegs mit jordanischen oder palästinensischen Karawanen. Haddsch: die fünfte Säule des Islam. Es ist die Pflicht jedes Muslim und jeder Muslimin, den Haddsch wenigstens einmal im Leben auf sich zu nehmen, sofern er oder sie gesund und wohlhabend genug ist. Id al-Adha: ein Fest am zehnten Tag des Dhu l-Hiddscha. Es wird verschiedentlich „Tag der Opferung“, „Großes Id“, „Id-Fest“ oder „Opferfest“ genannt. Die Geschichte dieses Festes geht auf den Propheten Abraham zurück. Es gilt als das wichtigste aller Feste für Muslime und beschließt die Rituale der Pilgerfahrt. Ihram: Dieses Konzept vereint physische und spirituelle Aspekte. Einerseits handelt es sich um eine Reihe genau festgelegter Regeln über die körperliche Erscheinung der Pilger. So soll man jegliche gewebte Kleidung ablegen, ein weißes Tuch anlegen und das Kopfhaar rasieren oder kürzen. Die Regeln des Ihram haben aber auch spirituelle Bedeutung, indem sie zum Beispiel den Verzicht auf jedes Verhalten implizieren, das den Haddsch zu einem vergeblichen Unterfangen machen würde – wie Töten oder Jagen. Die Liste der Vorschriften ist sehr lang, doch man betet weiter und lenkt seinen Geist auf das Wesentliche, denn beim Haddsch begibt man sich in Gottes Hand. Die hohen zeremoniellen Auflagen sind ein Ausdruck dieser Besonderheit. Die Kaaba von Mekka: Wörtlich „der Würfel“ genannt, ist die Kaaba eigentlich ein rechteckiges Gebäude, wenn auch mit nahezu quadratischem Grundriss. Es wirkt wie ein Würfel und gilt den Muslimen als heiligster Ort. Die Kaaba markiert den Punkt, nach dem sie ihr Gebet ausrichten. Pilger umrunden die Kaaba siebenmal, wenn sie den tawwaf al-qudum oder „Ankunftsrundgang“ antreten. Vor ihrer Abreise wiederholen sie das Ritual als „Abschiedsrundgang“. In vorislamischer Zeit gab es viele arabische Stämme, die ihre eigene Kaaba hatten. Mit dem Islam verloren sie jedoch ihre Bedeutung. Schrifttafel Auflistung der heiligen Stätten in Palästina al-Say: der rituelle Gang zwischen al-Safaa und al-Marwah Osmanen, 19. Jahrhundert Islamisches Museum und al-Aqsa Bibliothek Jerusalem Steinewerfen: Die Symbole des Bösen (des Teufels) werden mit kleinen Kieseln beworfen, um sich selbst vom Bösen zu distanzieren. Schwarzer Stein: Dieser Stein oder Felsen gilt als Fundament der Kaaba. Er ist in Silber gefasst, und viele Pilger küssen ihn, um es dem Propheten Muhammad gleichzutun. Umra: Wegen der vielen Muslime, die ihren Haddsch antreten wollen, gibt es nicht genügend Unterkünfte für die jährlich mehr als drei Millionen Pilger. Daher wird die Umra immer wichtiger. Ihre Rituale sind nahezu identisch mit denen des Haddsch, ausgenommen des Zeitpunkts der Reise, der außerhalb der eigentlichen Pilgersaison liegt. Zur Umra gehört ein Besuch aller heiligen Stätten. al-Tawwaf: Das siebenmalige Umrunden der Kaaba bei der Ankunft und vor der Abreise Waquf (Verweilen) am Berg Arafat: Alle Pilger versammeln sich auf einer Anhöhe in Mekka namens Berg Arafat. Zamzam: der Brunnen Mekkas, zugleich die einzige permanente Quelle der Stadt. Nach islamischer Überlieferung entsprang das Wasser hier auf Gottes Geheiß, als der durstige Säugling Ismail die Erde mit seinen Füßen berührte, während seine Mutter nach Wasser suchte. Das Wasser des Zamzam gilt als heilig, und die Pilger nehmen es in großen Mengen mit nach Hause, um es unter Familienmitgliedern und Freunden zu verteilen.