2 Der Weg zur polnischen Nation 1772 – 1918 2 8 Polnische Postkarte aus Anlass der Proklamation vom 5. November 1916. Erster Weltkrieg und Staatsgründung Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzten polnische Politiker nun alles daran, diese Aufbruchstimmung und den Wiederaufstieg der Angelegenheit Polens zum internationalen Thema in reales politisches Kapital umzuwandeln. Piłsudski hatte bereits vor 1914 paramilitärische Einheiten für den Unabhängigkeitskampf in Galizien organisiert, wo nach Kriegsausbruch ein austropolnisches „Oberstes Nationalkomitee“ gegründet wurde, das in dem von Dmowski in Warschau ins Leben gerufenen „Polnischen Nationalkomitee“ sein Gegenstück fand. Während Dmowski eine Neugründung eines polnischen Staates „piastischer“ Prägung mit dem Schwerpunkt in West- und Zentralpolen favorisierte, den er sich als ethnisch geschlossen und antideutsch bzw. prorussisch orientiert dachte, verfolgte Piłsudski seine „jagiellonische“ Idee eines neuen Polen, das föderalistisch und ethnisch heterogen sein und in seiner deutschlandfreundlichen Außenpolitik auf Konfrontationskurs gegenüber Russland gehen sollte. Diesem „jagiellonischen“ Konzept entsprechend, versuchte Piłsudski am 6. August 1914, dem Tag der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland, vor den Augen der Weltöffentlichkeit werbewirksam vollendete Tatsachen zu schaffen, und marschierte mit seinen Verbänden in „Kongresspolen“ ein, während Dmowski noch tags darauf seine Loyalität gegenüber dem Zarenreich erklärte. Bis heute ist die Rolle der beiden Konkurrenten Piłsudski und Dmowski ein Streitpunkt in der Diskussion um das kollektive Geschichtsbewusstsein der Polen. 26 2 Der Weg zur polnischen Nation 1772 – 1918 Während des Krieges wurde Polen zum Zankapfel der drei Teilungsmächte, die polnische Politiker mit verschiedenen Angeboten zur Neuerrichtung eines eigenen Nationalstaates umwarben. In ihren Armeen kämpften nicht weniger als 1,5 Millionen polnische Soldaten. Im Sommer 1915 schließlich besetzten die Truppen der verbündeten Mittelmächte das Gebiet des alten „Kongresspolen“ und errichteten zwei getrennte Gouvernements mit den Zentren Warschau und Lublin. Am 5. November 1916 ließen die beiden Kaiser des Deutschen Reiches und ÖsterreichUngarns ein „Königreich Polen“ proklamieren, ohne die endgültigen Grenzen und den institutionellen Rahmen festzulegen. Einig war man sich lediglich darin, dass das neue Königreich eine Erbmonarchie und ein eigenes Heer besitzen, dabei aber eng an die Mittelmächte angelehnt sein sollte. Bei alledem wurde aber sehr schnell deutlich, dass es den Schöpfern des neuen polnischen Staates vielmehr um militärische Unterstützung als um eine Eigenständigkeit Polens ging, die sie hintertrieben. Dies führte zum Bruch der Mittelmächte mit ihrem natürlichen Verbündeten Piłsudski und verstärkte die von außen unternommenen Initiativen zur Erlangung der polnischen Unabhängigkeit wie beispielsweise die Gründung eines „Polnischen Nationalkomitees“ in Lausanne durch Dmowski. Einen wirklich effektiven Entwicklungsschub stellte jedoch vor allem die Beseitigung des zaristischen Systems in Russland im Jahre 1917 dar: Mit dieser innenpolitischen Umwälzung im Osten entfiel für die Westmächte die Notwendigkeit einer besonderen Rücksichtnahme auf russische Bedürfnisse, sodass sie einer Wiedererrichtung Polens nach dem gewonnenen Weltkrieg zuzustimmen bereit waren. In seinem 14-Punkte-Progamm vom Januar 1918 konkretisierte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson dieses Vorhaben: Darin forderte er die Schaffung eines freien polnischen Staates mit Meereszugang, die kurz darauf erklärtermaßen alliiertes Kriegsziel wurde. Wenig später erkannte auch die neue russische Regierung das Recht der Polen auf Unabhängigkeit an. Der Friede von Brest-Litowsk, in dem Russland gegenüber den Mittelmächten unter anderem auch auf Polen verzichten musste, stellte lediglich ein retardierendes Element in einer Entwicklung dar, deren Verlauf seit dem Kriegseintritt der USA abzusehen gewesen war. Einige Tage nachdem die deutsche Regierung den Amerikanern ein Waffenstillstandsangebot auf der Basis der 14 Punkte unterbreitet hatte, kam es in Polen schließlich zum Durchbruch: Am 7. Oktober 1918 wurde ein unabhängiges Polen mit eigener Regierung und Volksvertretung proklamiert; die deutsche Besatzungsherrschaft brach zusammen. Als Piłsudski am 10. November in Warschau eintraf, unterstellten die polnische Armee und die verschiedenen polnischen Streitkräfte sich seinem Kommando. Eine Verfassung erhielt die „Zweite Polnische Republik“ am 17. März 1921. Polens „kurzes 20. Jahrhundert“, das für die Polen gegenüber dem 19. Jahrhundert sogar noch ein Mehr an Gängelei, Gewalt und Demütigungen mit sich bringen sollte, hatte damit begonnen. 2.2 Polnischer Nationalismus Nationalstaatliche Sehnsucht Dass die Polen ausgerechnet in einer Zeit, in der ganz Europa den Weg zur Nationalstaatlichkeit zu gehen begann, ihre Eigenstaatlichkeit verloren und vor den zum Beutegut dreier Mächte verkommenen Trümmern des einst so stolzen polnisch-litauischen Doppelreiches standen, führte zu einer Art Teilungstrauma und in der Umkehrung zu einem nationalstaatlichen Komplex, die eine ganz besondere Ausprägung des polnischen Nationalismus zur Folge hatten: Fanatisch wie nirgendwo sonst in Europa sehnte man in den polnischen Gebieten und in der Emigration den Nationalstaat als eine Form der Vollendung der Nation herbei, und mit unerschöpflicher Beharrlichkeit wurde versucht, ihn mit Waffengewalt zu erkämpfen. So gesehen sind die zahlreichen Aufstände – darunter vor allem die größeren Erhebungen von 1806 gegen Preußen, der „Novemberaufstand“ gegen Russland, der Aufstand von 1846 in Galizien, der Aufstand im „Revolutionsjahr“ 1848 gegen die preußische Herrschaft in Posen sowie der „Januaraufstand“ gegen Russland – und die Beteiligung an den Unruhen des Jahres 1848 in ganz Europa für sich bereits Ausweis nationalistischen Denkens, wie es für die Zeit typisch ist. Differenzierend allerdings ist anzumerken, dass sich die Intensität des nationalstaatlichen Wunsches vor allem seit dem Beginn der „organischen Arbeit“ proportional zur Behandlung durch die Teilungsmächte verhielt: Dort, wo zahlreiche Freiheiten und eine relativ umfangreiche Autonomie gewährt wurden, bestand nach 1864 vielfach die Neigung, das Streben nach einem eigenen Nationalstaat vorerst zurückzustellen und sich der Verbesserung der konkret bestehenden Lebensbedingungen zuzuwenden – eine Tendenz, die besonders für das Galizien nach 1866 festzustellen ist. Heterogenität des polnischen Nationsbegriffes Der Komplex, der durch das völlige Fehlen eines Nationalstaats und die immer wieder offenkundig werdende Vergeblichkeit aller auf seine Errichtung abzielenden Versuche entstand, musste durch ein psychologisch wirksames Gegengewicht abgefedert werden – zumal in einer Zeit, in der ökonomische Krisen und gesellschaftliche Veränderungen zusätzliches Verunsicherungspotenzial in sich bargen. Dieses Gegengewicht stellte das Konstrukt von der eigenen und vor allem einzigartigen Nation dar, das seine Identifikationskraft für die Polen um so mehr erhöhen konnte, je größer der Bedarf nach einem Kompensat aufgrund der Hoffnungslosigkeit der äußeren Zustände war. Aber auch in der Ausgestaltung des Konstrukts einer polnischen Nation schlug der polnische Nationalismus einen Sonderweg ein, der besondere geschichtliche Bedingungen beachtete: Zum einen berücksichtigte er die ethnische Heterogenität, die das Königreich Polen und erst recht das polnisch-litauische Doppelreich kennzeichnete – neben den Polen umfasste die Monarchie Deutsche, Ukrainer, Litauer und mehrere andere Ethnien; noch im 18. Jahrhundert sprach die Hälfte der Bewohner des Doppelreiches nicht Polnisch. Dies führte dazu, dass sich in der Angelegenheit der Konstruktion einer polnischen Nation ein breites Spektrum politischer Meinungen ausbildete, deren Pole Roman Dmowskis xenophober und durch die Ausbildung ukrainischer, weißrussischer und litauischer Nationalbewegungen zusätzlich bekräftigter Ethnozentrismus auf der einen und Józef Piłsudskis polyethnischer Nationsbegriff auf der anderen Seite darstellten. Elitäre Prägung des polnischen Nationsbegriffes Zum anderen handelte es sich sehr lange um einen elitären Nationalismus, in dessen Gedankenwelt der Adel und nicht der Bauer Träger der Nation war. Hintergrund für diese Ausschlussdefinition der Nation war die Gesellschaftsstruktur der alten Adelsrepublik, die weit in die Zeit der Teilungen hinein wirkte. Im Vergleich zur gewöhnlichen abhängigen Bauernschaft hatte der etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachende polnische Adel sich stets als genetisch exklusiv empfunden und sogar von den Sarmaten abgeleitet, sodass seiner Stellung und seinem Selbstverständnis auch die totale Verarmung nichts anhaben konnte. Über die Bauern herrschten die adeligen Gutsbesitzer nahezu unumschränkt. Parallel zur Existenz der exklusiven adeligen Interpretation des Nationsbegriffes entwickelte sich eine demokratische, alle Schichten gleichermaßen einschließende Auffassung von der Nation, wie sie erstmals in der Verfassung vom 3. Mai 1791 artikuliert wurde. Die schmerzhafteste Quittung für das mangelnde Bemühen um eine Integration der unteren Volksschichten in die gedachte Nation stellten die Ausschreitungen galizischer Bauern gegen ihre Gutsherren während der Erhebung von 1846 in Galizien dar. Zu dieser Zeit allerdings war eine Auseinandersetzung um die rechte Vorstellung von der polnischen Nation bereits in vollem Gange: In der historischen Ideenwelt des Historikers Lelewel stellten die Bauern die Grundlage einer polnischen Urdemokratie dar, in der adelige Privilegien auch nur theoretischkonstruierter Art nichts zu suchen hatten, und auch der Dichter Juliusz Słowacki sah den Kristallisationspunkt der polnischen Nation mehr im „Volk“ als im Adel. Als die Oper „Halka“ von Stanisław Moniuszko, in der es um die Liebe zwischen einem jungen Adeligen und einem Bauernmädchen geht, 1858 in Warschau zur Aufführung kam, wurde sie vom Publikum begeistert gefeiert, nachdem die Uraufführung zehn Jahre zuvor noch zum Skandal geworden war. Allein mit dem Eintrittsbillet in den abstrakten Raum der Nation freilich war der Bauernstand nicht aus seiner nationalen Lethargie zu reißen – der Versuch, ihn in die Nation zu integrieren, konnte ausschließlich mithilfe der zentralen Maßnahme der ökonomisch verträglichen Bauernbefreiung gelingen. Dem entspricht, dass das „Krakauer Manifest“ vom 22. Februar 1846 eine vollständige Bauernbefreiung in Aussicht stellte in der Hoffnung, die so Begünstigten endlich für die nationale Sache zu gewinnen. Mit der Beteiligung der Bauern am „Januaraufstand“ gegen Russland war dieser Prozess abgeschlossen: Die Nation, die in ihrem Selbstverständnis seit dem „Novemberaufstand“ bereits das spärlich ausgebildete polnische Bürgertum für sich gewinnen konnte, umfasste nunmehr auch den Bauernstand und hatte mit der Aufgabe ihres elitären Charakters den Sprung in die neuzeitliche Modernität geschafft. Religiös-katholische Prägung des polnischen Nationsbegriffes Ein letztes Spezifikum des polnischen Nationalismus lässt sich ebenfalls von der langen Vorherrschaft einer 27 2