86 Vertiefung (+) Christentum, Judentum und Islam – Begegnung im Mittelalter Die islamische Welt im Mittelalter – Religion und Herrschaft Der Islam – eine Weltreligion M 1 Muslime beim ­Mittagsgebet in Berlin Sehitlik Moschee in Berlin, 2006 Heute, im 21. Jahrhundert, ist der Islam mit weit über einer Milliarde Gläubigen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft der Welt. Dabei ist er nach Judentum und Christentum die jüngste der sogenannten monotheistischen Religionen. Im 7. Jahrhundert wurde der Islam vom Propheten Muhammad (570 – 632) auf der arabischen Halbinsel begründet. Wie auch Christen und Juden glauben Muslime an einen einzigen Gott (Monotheismus). Er wird auf Arabisch „Allah“ genannt. Muhammad und die frühen Muslime setzten sich entschieden von der auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert verbreiteten Vielgötterei (Polytheismus) ab. Der Prophet Muhammad hatte sowohl zu Christen als auch zu Juden Kontakt. Einflüsse aus beiden Religionen gingen in den Koran, die grundlegende Glaubensschrift des Islam, ein. Muhammad begründete nicht nur eine neue Religion, sondern damit einhergehend auch eine neue Herrschafts- und Gesellschaftsordnung. Für unser Wissen über die islamische Frühzeit und das Leben des Propheten Muhammad ist der Koran grundlegend. Hinzu kommen die „Hadithe“ (siehe Seite 50) und frühe Werke der Geschichtsschreibung, etwa über die Eroberungen und Feldzüge, sowie bedeutende Prophetenbiografien wie die des Ibn Ishaq. Info Islamisches Mittelalter? Wenn wir heute über die „islamische Welt“ und das „islamische Mittelalter“ sprechen, müssen wir uns der Problematik dieser Bezeichnungen bewusst sein. Die „islamische Welt“ im Mittelalter erstreckte sich zeitweise vom heutigen Spanien über die nordafrikanische Küste, den Nahen Osten, die Arabische Halbinsel, die heutige Türkei und die turksprachigen Länder, über Zentralasien bis in den Fernen Osten. Diese Länder und Regionen waren schon im Mittelalter höchst verschieden und sind es bis heute. Wenngleich der Koran die religiöse Grundlage für alle Muslime darstellt, entwickelten sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Formen der Glaubenspraxis in einzelnen Regionen, Glaubensrichtungen spalteten sich ab, muslimische Lebensart traf auf lokale Gewohnheiten und vermischte sich mit ihnen. Auch ein „Mittelalter“ wie in Europa hat es in der „islamischen Welt“ nicht gegeben; andere Zäsuren gliedern die „islamische“ Geschichte. Diese Bezeichnung wurde von westlichen Historikern für die Geschichte Europas entwickelt. Der Prophet Muhammad Der Prophet Muhammad wurde um 570 in der Handelsstadt Mekka auf der arabischen Halbinsel (dem heutigen Saudi-Arabien) geboren. Er wuchs als Waisenkind bei seinem Onkel Abu Talib auf. Mit etwa 40 Jahren empfing Muhammad, der bis dahin als Händler tätig gewesen war, Offenbarungen. Als „Gesandter Gottes“ (arab. „Rasul Allah“) begann er daraufhin, einen neuen Glauben zu verkündigen, zunächst vorsichtig, dann offensiver. In Mekka gewann er erste Anhänger, allerdings brachen auch schon früh Konflikte zwischen der jungen Glaubensgemeinschaft und alteingesessenen Mekkanern auf. Im Jahr 622 mussten Muhammad und seine Getreuen aus Mekka fliehen. Zuflucht und Unterstützung fanden sie in der Stadt Yathrib, die später in „Medina“ (= die Stadt) umbenannt wurde. Während 87 für Christen die Zeitrechnung mit der Geburt Jesu einsetzt, gilt den Muslimen die Auswanderung Muhammads von Mekka nach Medina (arab. „Hidschra“, 622), als Beginn ihrer Zeitrechnung. In Medina gelang es Muhammad, eine politisch-religiöse Gemeinschaft zu begründen, die auf Arabisch „Umma“ genannt wird. Männer, Frauen, Sklaven, Freie und Angehörige der unterschiedlichsten arabischen Stämme galten nun – zumindest dem Ideal nach – als gleichberechtigte Muslime. Dieselben Rechte und Pflichten für alle – das war im Vergleich zur vorislamischen Stammesgesellschaft etwas grundlegend Neues. Nicht zuletzt verbesserte sich durch den Islam der Status der Frauen im Vergleich zur altarabischen Gesellschaft entschieden. Im Jahr 630 gelang es Muhammad und seiner Gemeinde, nach Mekka zurückzukehren. Die „Kaaba“, in der sich ein schwarzer Meteorit befindet, der bereits in vorislamischer Zeit eine religiöse Bedeutung innegehabt hatte, wurde nun zum zentralen Heiligtum der Muslime. Mit der Pilgerfahrt („Hadsch“), die bis heute jeder Muslim und jede Muslimin mindestens einmal im Leben unternehmen muss, wird neben anderen Ritualen auch die Auswanderung Muhammads von Mekka nach Medina nachvollzogen. Die mehrmalige Umrundung der Kaaba ist einer der Höhepunkte der Pilgerfahrt. Die islamische Frühzeit Der Tod des Propheten Muhammad im Jahr 632 stellte die muslimische Gemeinschaft vor große Herausforderungen, da die Frage der Nachfolgerschaft ungeklärt war. Nach Auffassung der sunnitischen Muslime (zum Unterschied von Schia und Sunna siehe unten) hatte der Prophet vor seinem Tod keinen Nachfolger ernannt. Nach eingehenden Beratungen entschloss man sich daher zu einem Wahlverfahren unter Angehörigen aus dem Stamm des Propheten. Die Entscheidung fiel zugunsten von Muhammads Schwiegervater Abu Bakr (632 – 634) aus, welcher der erste Kalif (von arab. „khalafa“ = nachfolgen) wurde. Die Jahre vom Tod Muhammads bis 661 werden von der Mehrheit der Muslime als Zeitalter der „rechtgeleiteten“ Kalifen bezeichnet. Auf Abu Bakr folgten die Kalifen Umar (634 – 644), Uthman (644 –656) und Ali (656 – 661), die alle aus dem Familienumfeld des Propheten stammten. Sie setzten sich dafür ein, die arabischen Stämme zu einen, führten Feld- und Eroberungszüge durch und regierten die Gemeinschaft im Sinne der islamischen Vorgaben. Info Schia und Sunna Die bis heute währenden Auseinandersetzungen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen nahmen im Konflikt um die legitime Nachfolge des Propheten Muhammad ihren Ausgang. Anders als die Sunniten gehen die Schiiten davon aus, dass der Prophet sehr wohl einen Nachfolger benannte: seinen Vetter und Schwiegersohn, den späteren vierten Kalifen Ali (656–661). Die anderen drei Kalifen in der Prophetennachfolge konnten die Schiiten daher nicht anerkennen. Obwohl Ali schließlich zum vierten Kalif in der Prophetennachfolge wurde, konnten er und seine Anhänger sich langfristig politisch nicht durchsetzen; aus der „Partei Alis“ (Schiat Ali) wurden die Schiiten. Das Kalifat allerdings ging an die sunnitische Dynastie der Umayyaden­über. Alis Anhänger bemühten sich, dessen Sohn Husain zu unterstützen. Diese Versuche mündeten jedoch in eine Katastrophe: Husain und seine Anhänger wurden in der Schlacht von Kerbela (680) von einem umayyadischen Heer niedergemetzelt. M 2 Die Kaaba in Mekka Zentrum der islamischen Welt, aktuelle Fotografie