Dietmar von der Pfordten Vorlesung Theorie und Methoden des

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Dietmar von der Pfordten
Vorlesung Theorie und Methoden des Rechts
9. Vorlesung: Theorien des Rechts
Fortsetzung H. L. A. Harts Zweistufensystem des Rechts:
5. Die Rechtsanwendung
Recht besteht aus allgemeinen bzw. abstrakt-generellen Regeln. Damit die Sozialkontrolle durch diese Regeln gelingt, müssen sie auf Einzelfälle angewandt
werden. Bei der Anwendung zeigt sich eine Unterscheidung (Harts Bsp. =
„Fahrzeuge im Park“):
(1) „Plain cases“ = unproblematische Fälle.
(2) „Borderline cases“ = Zweifelsfälle. Hier verbleibt dem Rechtsanwender ein
Ermessensspielraum („choice“), der vom internen Standpunkt aus ausgefüllt
werden muß.
In dieser Unterscheidung offenbart sich für Hart die notwendig offene Struktur des Rechts („open structure of law“). Gegenmeinungen:
- Formalismus: Rechtsanwendung als ausschließlich logische Operation nach
Maßgabe eines Syllogismus (Begriffsjurisprudenz).
- Regel-Skeptizismus: Keine Bindung des Rechtsanwenders durch Regeln =
„the claim that talk of rules is a myth, cloaking the truth that laws consist simply
of the decisions of courts and the predicition of them...“ (S. 136) = Oliver
Wendell Holmes: The Path of the Law, 1897: „The prophecies of what the
courts will do in fact and nothing more pretentious is what I mean by the law.“
2
Dagegen Hart: Offens Struktur ist zunächst der Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache und des menschlichen Erkenntnisvermögens geschuldet. Rechtstheoretische Wahrheit liegt zwischen Formalismus und Regelskeptizismus:
„In fact all systems, in different ways, compromise between two social needs:
the need for certain rules which can, over great areas of conduct, safely be applied by private individuals to themselves without fresh official guidance or
weighing up of social issues, and the need to leave open, for later settlement by
an informed, official choice, issues which can only be properly appreciated and
settled when they arise in a concrete case.“ (S. 130) - Recht muß sowohl bindende Elemente als auch Elemente der Wahl enthalten.
Nach Hart sind es vor allem die borderline cases, die den Gerichten und Verwaltungsbeamtenweite Spielräume der autoritativen Auslegung eröffnen:
„The open texture of law means that there are, indeed, areas of conduct where
much must be left to be developed by courts or officials striking balance, in the
light of circumstances, between competing interests which vary in weight from
case to case.“ (S. 135)
Problem: Wahrnehmung des Ermessensspielraums? Wahl zwischen widerstreitenden Interessen. Keine Willkür, sondern nach Hart rationale Gründe aus
dem internen Aspekt des Rechtssystems entscheidend (Prinzipien, Klugheitsregeln und Standards): was ist vom internen Standpunkt aus eine vertretbare
und vermittelbare Entscheidung bzw. Auslegung? - Für die Gerichte ist das
Recht gerade nicht die Voraussage, wie Gerichte entscheiden werden (externer
Standpunkt).
In jeder Großgruppe müssen allgemeine Regeln, also Normen und Präzedenzfälle, Hauptmittel der sozialen Kontrolle sein. Deren prinzipielle Unbestimmt-
3
heit führt zu einer „offenen Struktur“ des Rechts, denn es gibt eine Grenze der
Anleitung durch allgemeine Sprache. Damit bleibt in jedem Rechtssystem ein
großes und wichtiges Feld der freien Entscheidung der Gerichte und staatlichen
Stellen überlassen.
H. wendet sich mit seiner Theorie sowohl gegen jede Art von „mechanischer
Jurisprudenz“ (Formalismus), die diese offene Struktur ignoriert, als auch gegen
jede Form des Regelskeptizismus, z. B. den amerikanischen Rechtsrealismus,
der sie überbetont. Er steht also insofern durchaus im mittleren methodischen
Lager das mit Bezug auf die Rechtsanwendung durch die Interessenjurisprudenz
und die Wertungsjurisprudenz gebildet wird.
6. Rechtsethik und Rechtspolitik
Neben den rechtstheoretisch-analytischen finden sich bei H. auch rechtsethische
bzw. rechtspolitische Untersuchungen, die sich vor allem mit Normen des Strafrechts beschäftigen, so The Morality of the Criminal Law (1965), Punishment
and Responsibility (1968) und die berühmt gewordene Schrift Law, Liberty and
Morality (1963). H. schaltete sich mit ihr in die öffentliche Diskussion ein, die
sich 1959 in England an der Empfehlung des sog. Wolfenden Reports entzündete, homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen künftig straffrei zu stellen. Fraglich sei, ob es sich rechtfertigen lasse, die positive, bestehende Moral,
die H. von einer kritischen unterscheidet, mit Hilfe des Rechts durchzusetzen.
H. vertritt eine gemäßigt-Iiberale, durch soziale und demokratische Elemente
ergänzte Position: Entgegen Mills Ansicht, Erwachsene wüßten immer selbst
am besten, was ihnen nütze, sei ein gewisser Paternalismus durch das Recht
zum Schutz der Person gerechtfertigt, z. B. durch Bestrafung des Täters trotz
Einverständnisses des Opfers mit der Tat. Die moderat konservative Position
4
übersehe, daß eine Veränderung der positiven Moral keine Zerstörung der Gesellschaft bedeute, sondern zu ihrem Fortschreiten beitrage. Es spreche kein
Anzeichen dafür, daß Moralität am besten durch Bestrafung gelehrt werde, wie
die strikte Position meine. Wirklich gefährlich für bestehende Moralvorstellungen sei die freie Diskussion, die aber nicht unterbunden werden dürfe.
I. Dworkins Kritik an Hart/Die Prinzipientheorie
Ronald Dworkin hat in mehreren Aufsätzen, die dann in dem Band „Taking
Rights Seriously“ (1977) zusammengefaßt wurden, gegen Hart geltend gemacht, daß Rechtsordnungen – anders als Hart in seinem zweistufigen Regelmodell annimmt – neben Regeln auch Prinzipien enthalten. Eine Regel ist als
„Alles-oder-Nichts-Gebot“1 verpflichtend, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind, nicht verpflichtend, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen nicht gegeben sind. Prinzipien geraten dagegen miteinander in Konflikt und
ihr relatives Gewicht entscheidet.2 Prinzipien werden im Gegensatz zu Regeln
in ihrer Durchsetzungskraft durch andere Prinzipien limitiert. Bei jeder Anwendung muß demnach eine Abwägung und Gewichtung der relevanten Prinzipien
erfolgen. Dworkin konzediert allerdings, daß Regeln und Prinzipien manchmal
fast dieselbe Rolle spielen.3 Aus der Feststellung, daß das Recht aus Regeln und
Prinzipien besteht, leitet Dworkin zwei Rechtfertigungen für die These des
rechtsethischen Essentialismus, also die Annahme einer notwendigen Beziehung
Dworkin 1977, p. 24; S. 58.
Dworkin 1977, p. 26; S. 62. Vgl. R. Dreier 1986, S. 103 ff.
3 Dworkin 1977, p. 27; S. 63.
1
2
5
von Recht und Moral ab, eine strukturtheoretische und eine geltungstheoretische.4
4
Vgl. R. Dreier 1986, S. 105ff.
6
Das strukturtheoretische Argument besagt, daß Prinzipien kraft ihrer Struktur
den engeren normativistischen Rechtsbegriff sprengen, weil sie die approximative Realisierung eines ethischen Ideals zur Rechtspflicht erheben.
Das geltungstheoretische Argument besagt, daß die faktische und normativ gebotene Heranziehung solcher Prinzipien die strikte Grenzziehung zwischen
rechtlichen Regeln und moralischen Prinzipien durch eine sekundäre Erkenntnisregel unmöglich macht. Harts sekundäre Erkenntnisregel kann als gesellschaftliche Regel zwar Primärregeln als gültiges oder ungültiges Recht auszeichnen, nicht aber Prinzipien.5
Zur Beurteilung des strukturtheoretischen Arguments ist festzustellen: Dworkin
behauptet zwar, daß seine Thesen nicht nur für das amerikanische bzw. angelsächsische Rechtssystem gelten,6 aber er bezieht sich selbst überwiegend auf
dieses. Im angelsächsischen Recht gibt es weite Bereiche ohne systematische
Kodifikation oder Gesetzgebung, die nur durch richterliches Fallrecht geregelt
werden. Hat man aber nur einzelne Fälle als Entscheidungsrichtlinie, so liegt es
nahe, zwischen ihnen durch die Bildung von Prinzipien zeitliche und räumliche
Kohärenz herzustellen. Man kann dies als Vorstufe einer abstrakt-generellen
gesetzlichen Regelung auffassen. Aus der Tatsache, daß die spezielle Rechtsform des richterlichen Fallrechts eine solche Hilfe zur Kohärenzbildung benötigt, darf aber nicht geschlossen werden, dies gelte für alle Typen des Rechts,
etwa auch für Rechtsordnungen, in denen Kodifikationen, Parlamentsgesetze
und geschriebene Verfassungen eine zentrale Rolle spielen. Damit kann das
5
6
Dworkin 1977, p. 56ff.; S. 112.
Dworkin 1977, p. 352; S. 562.
7
strukturtheoretische Argument zumindest für Rechtsordnungen wie die deutsche nicht überzeugen.
Im übrigen müßte erst einmal erwiesen werden, daß die Prinzipienbildung auf
Wertungen beruht, die nicht bloße Rechtswertungen des positiven Rechts sind.
Die Tatsache, daß die Wertungen von Einzelentscheidungen zu einer allgemeinen Regel geformt werden, garantiert ja nicht, daß diese Regel in irgendeiner
Weise als rechtsethische und damit überpositive zu qualifizieren ist. Die Mitglieder einer Räuberbande können ihre zufällige tägliche Einzelentscheidung,
einen Überfall zu verüben, zum Prinzip erheben. Dieses Prinzip mag mit einem
anderen Prinzip der Bande kollidieren, etwa einmal in der Woche ein Fest zu
feiern, also nicht als Alles-oder-Nichts-Regel anwendbar sein. Dies alles beweist aber nicht, daß entsprechende Prinzipien rechtsethische und nicht rechtliche oder bloß technische Prinzipien sind. Aus einem Strukturunterschied von
Normen kann man nicht auf die ethische Rechtfertigungskraft eines Normtyps
schließen.
Zum geltungstheoretischen Argument ist zu sagen: Wenn klare Verfassungsund Organisationsnormen die Erzeugung und Geltung von Gesetzen regeln, so
ist für einen zentralen Rechtsbereich die Unterscheidung zwischen rechtlichen
Normen und außerrechtlichen Rechtfertigungen eindeutig – wenn man von einer sprachlich bedingten unvermeidlichen Unschärfe absieht. Auch richterrechtliche Regeln können diesen zwei Bereichen zugeordnet werden. Sie bleiben im
Normbereich des Rechts, wenn sie sich im Rahmen des möglichen Wortlauts
und der Rechtswertungen des positiven Rechts halten.
8
Überdies haben Rechtsordnungen wie die der Bundesrepublik einen Großteil
der ethischen Prinzipien in ihre Verfassung inkorporiert und damit zu positivem
Recht erhoben.7 Die Rechtsprechung kann auf Rechtswertungen der Verfassung
zurückgreifen. Dabei handelt es sich aber um rechtsimmanente rechtliche Wertungen und nicht um das positive Recht übersteigende ethische Wertungen.
Aber selbst wenn man annimmt, daß die Rechtsprechung in zweifelhaften Fällen faktisch auch auf außerrechtliche Wertungen zurückgreift, ist der rechtsethische Essentialismus noch nicht bewiesen. Das tatsächliche Überschreiten der
Grenzen des positiven Rechts durch einzelne Rechtsanwender beweist keine
begrifflich-analytische Verbindung von Recht und Ethik.
Für das deutsche Recht muß man bei der Rechtsanwendung wegen Art. 20 III
GG vier Schritte annehmen, die vier konzentrischen Kreisen entsprechen: (1)
die Gesetzesanwendung, wenn der Wortlaut eindeutig ist, (2) die Rechtsfindung
durch Anwendung der Regeln der juristischen Methodenlehre, vor allem der
Auslegungs- und Analogieregeln, (3) das Heranziehen von immanenten
Rechtswertungen der Rechtsordnung, vor allem der Verfassung, (4) die Inkorporation außerrechtlicher Wertungen.8 Faktisch ist davon auszugehen, daß in
immer stärkerem Maße außerrechtliche, moralische und ethische Wertungen in
die Entscheidungsfindung einströmen, je weiter man von (1) bis (4) voranschreitet (deskriptive Diffusionsthese). Auch normativ muß man annehmen, daß
die aneinanderstoßenden Normenordnungen in ihrer Verbindlichkeitskraft abnehmen bzw. zunehmen, je stärker bzw. schwächer die andere Normenordnung
ist. Dies ist ethisch und juridisch (vgl. Art. 20 III GG) zu befürworten. Wenn
7
8
Vgl. BVerfGE 34, S. 269ff. (287); R. Dreier 1986, S. 107.
Vgl. v. d. Pfordten 1993, S. 433ff.
9
weder der Gesetzeswortlaut noch die juristische Methodik und die Rechtswerte
zu einer Entscheidung führen, dann sollte das Recht eher die Heranziehung außerrechtlicher rechtsethischer Wertungen in Kauf nehmen als eine reine Willkürentscheidung treffen (normative Diffusionsthese). Die deskriptive und die
normative Diffusionsthese präzisieren den rechtsethischen Normativismus.
Recht und Rechtsethik sind nicht wie zwei glatte aufeinanderliegende Oberflächen verbunden, sondern ethische Wertungen dringen unterschiedlich tief und
stark in das Recht ein.
Da die Stufen (1) – (3) genuin juridisch bestimmt sind, kann der Vertreter der
analytischen Verbindungsthese mit seinem Prinzipienargument allenfalls auf die
vierte Stufe der Rechtsanwendungskreise verweisen. Er kann aber seine These
weder dadurch stützen, daß es faktisch eine solche Begründungsstufe in Urteilen gibt, denn Faktizität ist empirisch und kontingent und beweist keine
10
begriffliche Analytizität, noch dadurch, daß er die Notwendigkeit einer solchen
vierten Stufe behauptet, denn dies ist lediglich eine mögliche Umformung der
analytischen Verbindungsthese. Die analytische Verbindungsthese wäre nur bewiesen, wenn es zu zeigen gelänge, daß der Rechtscharakter einer Normenordnung aufgehoben wäre, wenn auf die Heranziehung der Stufe (4) verzichtet
würde, sei dies auf eine normative Anweisung hin oder nicht. Dies kann aber als
analytische These mit Verweis auf tatsächliches empirisches Verhalten gar nicht
gezeigt werden.
Man kann das Prinzipienargument auch noch auf einer basaleren normlogischen
Ebene anzweifeln. Jede Präskription bzw. jede Norm enthält sowohl in ihrem
deskriptiven Voraussetzungsteil als auch in ihrem normativen Gebotsteil ein
striktes und ein graduell-relatives Element. Nur im Rahmen des tatsächlichen
Sprachgebrauchs kann eines dieser Elemente im Einzelfall als unsinnig oder
kontraproduktiv ausgeschlossen werden. Man denke sich folgendes Beispiel:
Wenn ich einen Freund bitte, unter der Voraussetzung, daß es noch vier Eier
gibt, vier Eier beim Händler zu besorgen (striktes deskriptives und normatives
Element), so impliziert dies normalerweise, daß er auch ein, zwei oder drei Eier
kaufen soll, wenn nur noch ein, zwei oder drei Eier vorhanden sind (graduellrelatives deskriptives und normatives Element). Die letzten beiden graduellrelativen Elemente meiner Bitte äußere ich nur dann nicht, wenn ich zu erkennen gebe, daß ich ausnahmsweise genau vier Eier brauche und mit zweien
nichts anfangen kann, etwa weil ich für uns beide ein Omelett zubereiten will.
Im Regelfall („Vier Eier oder weniger!“) enthält dieses Gebot also im Voraussetzungsteil und im Rechtsfolgeteil eine strikte sowie eine graduelle Deskription und Präskription. Im Ausnahmefall („Nur genau vier Eier!“) ist die graduelle
Deskription und Präskription im Voraussetzungs- und im Rechtsfolgeteil aufgehoben. Es gibt nun auch Normen, die nicht erst durch eine zusätzliche Sprachhandlung eingeschränkt werden müssen, sondern schon inhaltlich strikt, also
11
nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, gefaßt sind. Die Bitte an meinen Freund,
unter der Voraussetzung, daß der Händler offen hat, einzukaufen, wäre ein solches Gebot. Ein Händler kann zu einem bestimmten Zeitpunkt nur offen haben
oder nicht offen haben. Eine graduelle Abstufung ist nicht möglich.
Die zweifelhafte Annahme Dworkins und mancher Anhänger der Regeln-/Prinzipienunterscheidung besteht nun darin zu glauben, der soeben erläuterte abstrakte sprachfunktionale bzw. normlogische Sachverhalt führe zu unterschiedlichen Normtypen und diese seien mit Rechts- und. Moralnormen bzw. ethischen
Rechtfertigungen zu identifizieren. Dagegen muß man einwenden: Es kann
selbstverständlich auch Moral- oder Ethiknormen geben, die strikt gebieten, wie
dies Kant etwa für das Verbot der Lüge annahm. Und es kann Rechtsnormen
geben, die graduelle Abstufungen zulassen, etwa einzelne Verfassungsnormen.
Der
Zusammenhang
zwischen
den
beiden
Normcharakterisierungen
strikt/graduell und Recht/Moral bzw. Ethik ist also ein kontingenter, kein analytischer und notwendiger.
Zuzugeben ist nur eine gewisse statistische Häufung: Rechtsnormen werden
häufiger strikt gebieten, weil sie stärker ins Detail gehen und weil jeder Rechtsetzer im Zweifel wahrscheinlich die präzisere Formulierung wählen wird. Ist
dies nicht möglich, wird er eher die strikte Formulierung bevorzugen, die auch
die Gradualisierung enthält, als sich von vornherein auf die Gradualisierung zu
beschränken. Moralische Normen und ethische Rechtfertigungen sind dagegen
abstrakter. Zwischen ihnen wird es häufiger zu Kollisionen kommen, die eine
Gradualisierung notwendig machen. Aus dieser statistischen Häufung kann aber
nicht auf eine begrifflich-analytische Verbindung beider Merkmale und damit
auch nicht auf eine begrifflich-analytische Verbindung von Recht und Ethik geschlossen werden.
Alexy hat weiterhin geltend gemacht, daß das Recht einen „Anspruch auf Richtigkeit“ erhebe, was vom Standpunkt des Beobachters für das Rechtssystem als
12
Ganzes und vom Standpunkt des Teilnehmers sowohl für das Rechtssystem als
Ganzes als auch für einzelne Normen die analytische Verbindungsthese beweisen soll.9 Er führt das Beispiel einer Banditenbande an, die andere Menschen ausbeutet: „Auf lange Sicht erweist sich die prädatorische Ordnung nicht
als zweckmäßig. Die Banditen bemühen sich daher um eine Legitimation. Sie
entwickeln sich zu Herrschern und damit die prädatorische zu einer Herrscherordnung. An der Ausbeutung der Beherrschten halten sie fest. Die Akte der
Ausbeutung erfolgen aber im Wege einer regelgeleiteten Praxis. Es wird jedermann gegenüber behauptet, daß diese Praxis richtig sei, weil sie einem höheren
Zweck, etwa dem der Entwicklung des Volkes diene. ... Der entscheidende
Punkt ist vielmehr, daß in der Praxis des Herrschersystems ein Anspruch auf
Richtigkeit verankert und gegenüber jedermann erhoben wird. Der Anspruch
auf Richtigkeit ist ein notwendiges Element des Begriffs des Rechts.“10
Gegenüber dieser These ist zunächst zu fragen, was unter einem „Anspruch auf
Richtigkeit“ zu verstehen ist. Dabei begegnet schon die Wortverbindung Zweifeln. Ein Anspruch wird immer gegenüber einem anderen erhoben; und zwar
mit dem Ziel, diesen anderen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Man
erhebt einen Anspruch auf Zustimmung, Befolgung, Anerkennung, Respekt etc.
„Richtigkeit“ ist demgegenüber kein mögliches Verhalten eines angesprochenen
anderen Menschen oder einer Gemeinschaft von Menschen. „Richtigkeit“ ist die
Substantivierung einer janusköpfigen Verbindung aus Wertung und Beschreibung. Wir beurteilen Normen oder Handlungen als „richtig“. Damit kann unter
„Anspruch auf Richtigkeit“ „Bewertung als richtig durch den Urheber“ oder
9
Alexy 1992, S. 62ff., 124.
Alexy 1992, S. 61f.
10
13
weitergehend „Bewertung als richtig durch den Urheber, verbunden mit dem
Anspruch gegenüber dem Adressaten auf Zustimmung zur Bewertung als richtig“ verstanden werden.
Auf das Banditenbeispiel übertragen, kann dies bedeuten, daß die Banditen gegenüber den Beherrschten eine „Behauptung der Richtigkeit“ erheben wollen
und es ihnen gleichgültig ist, ob die Hörer diese Behauptung nur registrieren,
oder es kann bedeuten, daß die Banditen wollen, daß die Hörer dieser Behauptung zustimmen. Da die Qualifizierung als „richtig“ eine positive Bewertung
darstellt, kann man die Frage so formulieren: Verbinden die Banditen mit ihren
Regeln notwendig eine positive Bewertung ihrer Regeln als richtig (erste Teilfrage), und wenn ja, wollen sie, daß die Unterworfenen ihrerseits diese positive
Bewertung übernehmen (zweite Teilfrage)?
Wie sich aus den obigen Überlegungen ergibt, ist die erste Teilfrage aus sprachlogischen Gründen mit „ja“ zu beantworten, wenn man annimmt, daß die Banditen ihre Normen autonom, d. h. ohne Zwang durch andere, erlassen. Wer einen
anderen zu einem Verhalten verpflichtet, wertet damit gleichzeitig – wenn er
selbst nicht unter Zwang handelt – die Realisation dieses Verhaltens und die
normative Anforderung gegenüber dem anderen positiv.11 Die positive Antwort
auf die erste Teilfrage trägt aber für die Annahme eines „Anspruchs auf Richtigkeit“ nichts ein, denn jeder Befehl, jedes Gebot, ja sogar jedes tatsächliche Verhalten, das andere betrifft, enthält implizit eine derartige positive Bewertung des
Befehls, Gebots oder tatsächlichen Verhaltens durch den Sprecher oder Akteur.
Dies gilt auch schon, bevor sich die Banditenbande um „Legitimation bemüht“.
11
Vgl. v. d. Pfordten 1993, S. 248.
14
Die sprachfunktionale Tatsache einer Wertungsimplikation ist für das Recht
nicht spezifisch und bedeutet nicht, daß die implizierte Wertung in irgendeiner
zufälligen oder gar notwendigen Verbindung zu außerrechtlichen Wertungen
steht. Die Banditen können etwa gewohnheitsmäßig oder rein dezisionistisch
Vorschriften erlassen, ohne daß damit die durch die Vorschriften implizierte
Bewertung irgendein außerhalb der Vorschriften liegendes ethisches Pendant
hätte.
Auf die zweite Teilfrage, ob neben der Bewertung auch der Anspruch gegenüber den Unterworfenen erhoben wird, daß diese die Bewertung übernehmen,
kann man antworten: Dies geschieht nicht notwendig, aber regelmäßig. Denn
nur wenn ein Angesprochener ebenfalls eine positive Bewertung entwickelt,
wird er auch ohne Zwang zur Ausführung der vom Sprecher erwarteten Handlung bereit sein. Es liegt also im Interesse des Sprechers, daß auch der Angesprochene das erwartete Verhalten positiv wertet. Die zweite Teilfrage ist aber
dann häufig negativ zu beantworten, wenn dem Sprecher Sanktionen bzw.
Zwangsmittel zur Verfügung stehen. Kann er den Hörer zum geforderten Verhaltens zwingen, so muß er sich nicht darum bemühen, bei diesem eine zustimmende Bewertung zu erzeugen. Man könnte somit bei der Räuberbande nur
dann von einem durchgängigen – wenn auch nicht notwendigen – Bemühen um
positive Bewertung aller Maßnahmen durch die Unterworfenen ausgehen, wenn
die Bande den Charakter als Zwangsordnung aufgeben würde. Dies nimmt aber
weder Alexy in seinem Beispiel an, noch kann es für entwickelte Rechtsordnungen demokratischer Staaten der westlichen Welt postuliert werden, die
ihre Rechtsregeln zumindest partiell mit Zwang durchsetzen.
15
Man könnte nun entgegnen: Es kommt nicht auf eine positive Bewertung durch
die Unterworfenen in Einzelfällen an, sondern auf eine positive Bewertung der
regelgeleiteten Praxis als Ganzes. Es kann nicht geleugnet werden, daß sich
Rechtsetzer häufig um eine derartige generelle positive Bewertung bemühen. Es
kann auch nicht geleugnet werden, daß sich die Banditen empirisch-faktisch
„um eine Legitimation“ bemühen. Sie tun faktisch genau das, was mit dem Beispiel als begrifflich notwendig apostrophiert wurde: Sie verbinden ihre Normenordnung mit ethischen Rechtfertigungen. Aber das beweist nicht die begrifflich-analytische Verbindungsthese. Denn die Banditen können auch auf
eine derartige Verbindung verzichten oder sie nur in beschränktem Maße anstreben – etwa wenn eine Revolution droht – oder nur gegenüber einzelnen Personen, etwa gegenüber den Clanführern der Unterworfenen. Ab welcher Intensität eine solche zusätzliche normative Legitimität dann die Zwangsordnung als
Rechtsordnung qualifizieren soll, ist kaum festzulegen. Jedenfalls kann ein solches kontingentes und graduelles Verhalten nicht die These einer begrifflichanalytisch notwendigen Verbindung von Recht und Ethik rechtfertigen. Die
These des rechtsethischen Essentialismus ist damit nicht erwiesen.
Wer das „Bemühen um Legitimation gegenüber den Beherrschten“ als notwendiges Rechtskriterium postuliert, hat des weiteren zu bedenken, daß damit nicht
nur Mörderregimen und Räuberbanden der Rechtsstatus abgesprochen wird,
sondern auch einer größeren Anzahl von Normenordnungen, die bisher als
Rechtsordnungen – wenn auch vielleicht als ungerechte Rechtsordnungen – angesehen wurden: allen Herrscherordnungen, die sich auf ein legitimatorisches
Prinzip berufen, ohne dafür von den Rechtsunterworfenen eine Zustimmung in
Anspruch zu nehmen. Dies gilt etwa für die christlichen Könige und Kaiser des
Abendlandes mit ihrer Rückführung der Herrschermacht auf göttliche Einsetzung sowie für die alliierten Besatzungsmächte in Deutschland nach 1945. Aus
pragmatischen Gründen haben natürlich auch diese Herrscher zum Teil ge-
16
genüber den Beherrschten auf ihre rechtsethische Legitimation verwiesen, zum
Teil aber auch nicht. Aus diesem tatsächlichen Verhalten, das pragmatisch
sinnvoll und rechtsethisch geboten ist, kann aber nicht auf seine begrifflichanalytische Notwendigkeit geschlossen werden.
Im übrigen bedeutet das Erheben eines „Anspruchs auf Richtigkeit“ ja noch
nicht, daß hier Richtigkeit – und damit eine notwendige Verbindung von Ethik
und Recht – tatsächlich anzunehmen ist.
Für die Teilnehmerperspektive versucht Alexy, die begrifflich-analytische Verbindungsthese des rechtsethischen Essentialismus zu erhärten, indem er Äußerungen anführt, die gegen den immer schon performativ erhobenen „Anspruch
auf Richtigkeit“ verstoßen, zum Beispiel eine Verfassungsnorm „X ist eine souveräne, föderale, ungerechte Republik“,12 „Der Angeklagte wird, was falsch ist,
zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.“13 Gegen diese Vorgehensweise kann
man schon methodische Einwände erheben: So wie ein Naturgesetz nicht durch
einzelne positive Experimente als im strengen Sinne bewiesen angesehen werden kann, weil die Induktion kein logisch gültiger Schluß ist, so kann man
kaum durch einzelne Äußerungsbeispiele, in denen performative Widersprüche
auftreten, beweisen, daß ein „Anspruch auf Richtigkeit“ begrifflich notwendig,
das heißt immer und überall erhoben wird. Die Beispiele können allenfalls den
Status einer Plausibilisierung unserer kontingenten Sprachkonventionen für sich
in Anspruch nehmen. Aber selbst unter diesem Vorbehalt sind sie kaum überzeugend:
12
13
Alexy 1992, S. 67.
Alexy 1992, S. 68.
17
Zum ersten Beispiel: Die Verfassungsnorm ist aufgrund ihrer illokutionären
Einbettung – das heißt ihrer Verwendung im Rahmen einer Verfassung – als
präskriptiver Sprechakt zu interpretieren, der als solcher – wie sich oben ergab
– immer auch eine positive Eigenbewertung enthält. Eine derartige positive Eigenbewertung ist nicht spezifisch für das Recht, sondern begleitet alle autonomen Präskriptionen. Es ist auch fehlerhaft zu sagen: „Geh’ zum Einkaufen, obwohl ich es für ungerecht halte, dich zum Einkaufen zu schicken!“ Die sprachliche Inkorporation einer Bewertung kann deshalb einer analytischen Verbindung
von Rechtsethik und Recht nicht gleichgesetzt werden.
Zum zweiten Beispiel: Wichtig ist zunächst, daß in diesem Beispiel nur ein performativer Widerspruch entsteht, wenn man Alexys Deutung als „Der Angeklagte wird, was eine falsche Interpretation des geltenden Rechts ist, zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt“14 übernimmt. Versteht man das Beispiel dagegen als „Der Angeklagte wird, obwohl ich es persönlich für falsch halte, zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt“, so ergibt sich kein performativer Widerspruch. Der Richter kann demnach ein geltendes Gesetz ohne weiteres anwenden, obwohl er selbst eine andere Fallösung vorziehen würde, etwa weil er eine
lebenslange Freiheitsstrafe für inhuman hält. Aber selbst wenn man Alexys
Deutung des Beispiels übernehmen würde, könnte nie ausgeschlossen werden,
daß der performative Widerspruch in der Äußerung aus einem Widerspruch
zwischen innerjuridischen Rechtswertungen erwächst. Daß der Verweis auf
außerjuridische rechtsethische Wertungen notwendig ist, kann deshalb durch
einen derartigen performativen Widerspruch nicht dargetan werden.
14
Alexy 1992, S. 68.
18
II. Exklusiver Rechtspositivismus/Inklusiver Rechtspositivismus
Der Positivismus hat auf die Kritik Dworkins mit einer Spaltung in zwei Schulen reagiert. Die Existenz der Prinzipien wird zwar anerkannt. Aber je nachdem
ob es zumindest möglich ist, die Prinzipien als Teil oder nicht als Teil des
Rechts aufzunehmen werden, wird ein inklusiver oder exklusiver Positivismus
unterschieden.
1. Exklusiver Rechtspositivismus
Joseph Raz und sein Schüler Andrei Marmoor vertreten einen sog. exklusiven
Rechtspositivismus. Marmoor führt zwei Argumente an:15
(1) Das Recht ist dadurch gekennzeichnet, daß konventionelle Regel soziale
Tatsachen als Quellen des Rechts bestimmen. Die Erkenntnisregel moderner
Rechtssysteme legt fest, wie Recht erzeugt wird. Warum sollten diese Konventionen dann nicht festlegen, daß Recht durch ein moralisches oder politisches
Argument erzeugt wird? Die Antwort Marmoors lautet: Das kann nicht der Fall
sein, denn es gibt hier nichts, was Konventionen konstituieren könnten. Es gibt
keine konstitutive Rolle für Konventionen bei der Frage, daß Menschen gemäß
In: The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, hg. von Jules Coleman und
Scott Shapiro, Oxford 2002, S. 104ff.
15
19
der Moral handeln sollen. Politik, Moral, Ethik und vergleichbare Überlegungen
beruhen auf unserem praktischen Denken ohne Bezug zu Konventionen. Konventionen können nur eine Rolle, spielen, wenn diese Fragen Teil des Rechts
werden, also Teil einer konventionell etablierten rechtlichen Praxis. Die Konventionen konstituieren also das Recht als soziale Praxis, anders als bei der Politik und der Moral.
(2) Raz hat geltend gemacht, daß das Recht eine authoritative Institution ist, und
zwar in doppeltem Sinn: Zum einen ist es eine de-facto-Autorität, zum anderen
fordert es auch Autorität. Welche Dinge können nun legitime Autorität in Anspruch nehmen? Dafür gibt es zwei Argumente: Zum einen müssen ihre Direktiven als solche identifizierbar sein, ohne sich noch einmal auf die Gründe zu
stützen, die eigentlich ersetzt werden sollen. Ansonsten kann die Autorität nicht
ihre praktische Funktion erfüllen. Autoritäten sind dazu da, eine praktische Differenz zu bewirken. Und das können sie nicht, wenn die Direktive nicht als solche erkannt werden kann. Zum anderen muß die Autorität in der Lage sein, eine
Meinung darüber zu bilden, wie die unterworfenen Subjekte sich verhalten sollen, und zwar unabhängig von den eigenen Überlegungen der Subjekte, wie sie
sich verhalten sollen. Es muß personale Autorität sein. Es kann keine Autorität
ohne Autor geben.
2. Inklusiver Rechtspositivismus (Soft legal positivism)
Nach dem inklusiven Rechtspositivismus spricht dagegen nichts dagegen, daß
die Erkenntnisregel auch moralische Normen in das Recht integriert.
20
Es gibt also drei große Lager:
Prinzipien der
Prinzipien der Mo- Prinzipien der Mo-
Moral notwendi-
ral möglicher Teil
ral unmöglich Teil
ger Teil des
des Rechts, falls
des Rechts
Rechts
vom Recht vorgesehen
Ronald Dworkin
Robert Alexy
inklusiver Rechts-
exklusiver Rechts-
positivismus
positivismus
H. L. A. Hart-
Hans Kelsen
Postscript
Joseph Raz
Jules Coleman
Andrei Marmoor
Kenneth Himma
III. Eigener Vorschlag
Meine grundsätzliche Kritik richtet sich gegen den Versuch, das Recht ausschließlich mit Bezug auf bestimmte unterschiedliche Formen oder Strukturen
seiner Elemente bestimmen zu wollen. Dieser Versuch mag aus einer soziologischen oder juristischen Perspektive befriedigen. Er tut es aber nicht aus einer
philosophischen Perspektive:
Was ist Recht? – Zunächst ist es erforderlich, die Frage zu verstehen.
Die Frage kann sich auf das in einer gegenwärtigen Rechtsordnung tatsächlich
Gebotene richten. Das ist die Perspektive der Dogmatik. Die Frage kann sich
aber auch auf das früher rechtlich Gebotene beziehen. Das ist die Perspektive
21
der Geschichte. Die Frage kann weiterhin das Recht als Tatsache im Verhältnis
zur Gesellschaft untersuchen. Das ist die Perspektive der Soziologie. Und so
sind noch viele weitere einzelne und vereinzelnde Perspektiven auf das Recht
möglich: die Perspektive der Psychologie, der Ethnologie, der Kriminologie,
der Linguistik, der Ökonomie, der Statistik, der Politikwissenschaft usw.
Worin kann dann die Perspektive der Philosophie auf das Recht liegen? Die
Perspektive der Philosophie ist zwar ebenfalls nur eine einzelne Perspektive auf
das Recht. Aber sie unterscheidet sich von allen anderen einzelnen Perspektiven
in einem Merkmal: Sie ist nicht vereinzelnd. Sie schneidet das Recht nicht aus
seinem Zusammenhang als Teil der Welt. Die Philosophie entwickelt vielmehr
eine umfassende, auf die abstraktesten und damit allgemeinsten Merkmale eines
Phänomens oder Gegenstandes gerichtete Einsicht. Dabei bezieht sie die Perspektiven der anderen Wissenschaften und der Erfahrungen des Alltags ein. Sie
ist also auch empirisch und nicht rein apriorisch oder metaphysisch. Sie läßt
sich aber nicht auf die bloße Summierung der einzelnen anderen Perspektiven
reduzieren. Die Philosophie entfaltet vielmehr einen umfassenden Rahmen der
Erkenntnis eines Phänomens oder Gegenstandes. Dieser Rahmen enthält sowohl
rezeptive als auch produktive Elemente.
Wie geht die Philosophie dabei vor? Sie sucht nach den relativ überzeitlichen,
überräumlichen und überkulturellen, also jenseits konkreter Vorkommnisse eines Phänomens bzw. Gegenstandes liegenden, das heißt nach den relativ notwendigen Merkmalen oder Bedingungen des Phänomens – in unserem Fall des
Rechts. Die philosophische Perspektive erfaßt das Recht also nicht in seinen
einzelnen zeitlichen, räumlichen und kulturellen Realisierungen. Sie zielt deshalb auch nicht auf die Vollständigkeit der Erfassung dieser einzelnen Realisierungen. Sie ermöglicht deshalb nur eine sehr eingeschränkte, einzelne Teilantwort auf die Frage „Was ist Recht?“. Aber auch die dogmatische, historische
und soziologische usw. Perspektive ist wegen ihrer jeweiligen Vereinzelung nur
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zu einer Teilantwort auf die Frage nach dem Recht in der Lage. Die philosophische Perspektive läßt sich nicht auf eine dogmatische, historische oder soziologische reduzieren. Aber sie enthält auch diese Perspektiven. Die relativ notwendigen Merkmale der philosophischen Perspektive sind quasi Destillationsergebnisse des zeitlichen, räumlichen und kulturellen Phänomens Recht. Und zwar so
wie wir dieses Phänomen wahrnehmen und in unser Begriffssystem einordnen.
Die philosophische Einsicht versucht also die relativ beständigsten und damit
notwendigsten
Bedingungen
des
Begriffs
Recht
zu
ermitteln.
Phänomenerkenntnis und Begriffserkenntnis gehen Hand in Hand.
Ein erster Weg ist dabei die Bestimmung der notwendigen Begriffsteile.
1. Die vier notwendigen Merkmale des Rechts
Im Folgenden wird nur menschliches oder zumindest durch Menschen erkanntes, d. h. in einem sehr weiten Sinne positives Recht als Recht erfaßt. Die religiöse und theologische Frage nach einem göttlichen Recht bleibt also ausgeklammert.
Dann erscheinen vier Merkmale für das Phänomen bzw. den Begriff Recht notwendig, die zunächst genannt und dann erläutert werden. Recht ist danach notwendig:
(1) ein menschliches Erzeugnis,
(2) das dem Zweck der Vermittlung zwischen potentiell oder aktuell widerstreitenden Belangen, d. h. Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen (Belangen, Interessen) dient,
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(3) und zwar mittels begründeter Verpflichtungen und Ermächtigungen,
(4) bei denen anders als bei der Moral der Schwerpunkt der handlungsleitenden
Normativität typischerweise nicht im Verpflichteten oder Ermächtigten selbst
liegt, sondern im äußeren Handeln anderer.
1) Der Schlüssel zum Verständnis des Rechts liegt in der Einsicht, daß es sich
um etwas von Menschen Geschaffenes bzw. Erzeugtes in einem sehr weiten
Sinne handelt. Das Recht ist also kein bloß natürliches Phänomen. Dies gilt
selbst für ein eventuell anzuerkennendes Naturrecht. Denn auch dieses muß von
Menschen erkannt und angewandt werden, enthält also zumindest auch einen
Aspekt menschlicher Erzeugung enthalten. Dieses erste Merkmal des menschlichen Erzeugnisses grenzt das Recht von allen reinen Naturphänomenen, wie
den Strahlen der Sonne oder den Planeten ab.
Das Recht ist ein soziales Faktum, aber die Charakterisierung als soziales Faktum, die bei den Positivisten so eine große Rolle spielt, ist relativ unspezifisch.
Auch nicht geplante und damit nichtartifizielle Fakten sind soziale Fakten, etwa
die Bevölkerungsentwicklung.
2) Alles von Menschen Geschaffene bzw. Erzeugte wird nun aber zentral durch
sein Ziel bzw. seinen Zweck bestimmt, sofern man die seltenen und bestreitbaren Ausnahmefälle möglicherweise bewußt zweckloser Erzeugnisse, wie Kunst
und Spiel außer Betracht läßt. Da das Recht ganz offensichtlich nicht zu dieser
sehr kleinen Gruppe von bewußt zwecklosen menschlichen Erzeugnissen gehört
(falls man sie überhaupt anerkennt), muß man fragen, worin das Ziel bzw. der
Zweck des Rechts besteht. Der Zweck des Rechts besteht darin, zwischen potentiell widerstreitenden Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen bzw. Zielen (Belangen, Interessen) zu vermitteln. Diese Vermittlung setzt voraus die widerstrei-
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tenden Belange zumindest zu erkennen und zu berücksichtigen. Dies grenzt das
Recht gegenüber vielen anderen menschlichen Artefakten ab, etwa gegenüber
Werkzeugen, um ein Haus zu bauen, oder Fahrzeugen, um eine Fahrt zu unternehmen.
Es grenzt das Recht auch gegenüber bloßen Machthandlungen ab.
3) Hat man den Zweck eines menschlichen Erzeugnisses gefunden, so stellt sich
die Frage, ob und wie dieser Zweck mit einzelnen Mitteln zu erreichen ist. Und
das ist bei der Vermittlung potentiell widersprechender Belange tatsächlich der
Fall. Eine Lösung des entsprechenden potentiellen Konflikts kann auch durch
soziale Steuerungsmaßnahmen erfolgen, die kein Recht sind, etwa durch die
Verteilung sozialer Transferleistungen oder die Ermöglichung eines Gesprächs.
Von derartigen bloßen sozialen Maßnahmen der Steuerung unterscheidet sich
das Recht dadurch, daß es notwendig eine Verpflichtung enthält. Das Recht ist
nicht nur faktisch wirksam, sondern es ist auch verbindlich. Und zwar ist diese
Verpflichtung kein bloßer Befehl oder Machtspruch, sondern eine Verpflichtung, die explizit oder implizit eine wenigstens sehr rudimentäre Begründung
enthält, und sei dies auch nur durch die Tatsache, daß das Recht der Vermittlung der Interessen dient und damit ihre Berücksichtigung einschließt.
4) Jede Verpflichtung setzt schließlich eine Quelle voraus. Während die Moral
diese Quelle auch vollständig im Inneren des Menschen, in seinem Gewissen
bzw. seinem Sittengesetz oder dem Faktum der Vernunft finden kann, muß die
Quelle rechtlicher Verpflichtung immer auch in äußerem Handeln liegen, also
etwa in einem Vertrag, einem Richterspruch, einer Gewohnheit, einer richterrechtlichen Praxis oder einem Gesetz.
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2. Die verschiedenen Rechtsquellen
Im Anschluß an das vierte notwendige Merkmal des Rechts stellt sich die Frage,
durch welche Formen äußeren Handelns nun die rechtliche Verpflichtung erzeugt werden kann. Die empirische Konkretisierung dieser Formen liegt bereits
jenseits dessen, was notwendiges Merkmal des Rechts bzw. notwendige Bedingung des Rechtsbegriffs ist. Hier eröffnet sich das weite Feld der zeitlich, räumlich und kulturell variablen Rechtserzeugung. Die philosophische Perspektive
erreicht hier ihre Grenze und geht dann in eine dogmatische, historische oder
soziologische Perspektive über. Die philosophische Perspektive kann hier nur
noch die verschiedenen grundsätzlichen Möglichkeiten und ihre Komplexität
aufweisen. Welche Möglichkeit dann in welchem Maße in einer bestimmten
Zeit und Gesellschaft realisiert ist, müssen die Dogmatik, Soziologie und Geschichte feststellen.
Man kann vier Formen bzw. nach der Komplexität geordnete Stufen des Rechts
unterscheiden, die ihrerseits wieder Unterformen haben:
(1) Einfachste Form: Übereinkunft, Richterspruch, gemeinschaftsrepräsentierende Verpflichtung
(2) Verallgemeinerte
Form:
Gewohnheitsrecht,
Richterrecht
(Präjudizienbindung)
(3) Sicherung der Verallgemeinerung durch Setzung einer allgemeinen Regel:
Ge
setzesrecht
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(4) Autorisierung und Vereinheitlichung der verschiedenen Formen des Rechts:
Verfassungsrecht
Man erhält also folgendes Tableau zunehmender Komplexität:
(1)
Übereinkunft
Verpflichtung durch Gemeinsch.
(2)
Gewohnheitsrecht
Erlaßrecht
(3)
Gesetzesrecht
(4)
Verfassungsrecht
Richterspruch
Richterrecht/Juristenrecht
Jede der komplexeren Stufen nimmt regelmäßig für sich einen Vorrang der Erkenntnis und Normierung der vorherigen Stufen in Anspruch, also einen epistemologischen und einen normativen Vorrang. Dies geschieht historisch verschieden radikal. Es kann soweit gehen, daß der einfacheren Rechtsform explizit oder implizit der Charakter als selbständiger Rechtsquelle abgesprochen
wird. So wenn Montesquieu den Richter nur noch als „Mund des Gesetzes“ bezeichnet. Oder wenn Savigny nur Verallgemeinerungen als Rechtsquelle gelten
läßt.
Man kann zwischen der normativen Überlagerung, also dem was die komplexere Rechtsquelle normiert, und der tatsächlichen Überlagerung, also dem Grad in
dem diese Überlagerung tatsächlich realisiert wird, unterscheiden. Im ersten
Fall beschreibt man den normativen Anspruch der Rechtsquellen, im zweiten
die faktische Realisierung dieses Anspruchs.
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Für den Übergang von der ersten Stufe des einzelnen Vertrags oder Richterspruchs zur zweiten Stufe der allgemeinen Regeln des Gewohnheitsrechts und
des Richterrechts steht etwa Friedrich Carl v. Savigny. Er definiert als Rechtsquellen ausdrücklich nur die „Entstehungsgründe des allgemeinen Rechts“,16
also Gewohnheitsrecht, Gesetzesrecht und als drittes Juristenrecht bzw. wissenschaftliches Recht, also eine über das Richterrecht hinausgehende Rechtsquelle.
Für den Übergang von der zweiten Stufe zur dritten Stufe des Gesetzesrechts
stehen alle Theoretiker der Notwendigkeit. des Vorrangs oder gar der Ausschließlichkeit des Gesetzesrechts, etwa Montesquieu, mit seiner Vorstellung,
daß der Richter nur der Mund des Gesetzes sein soll bis hin zum Gesetzespositivismus der ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
In diese Gruppe gehört aber wohl auch H. L. A. Hart, wenn er ein zweistufiges
Regelsystem fordert.
Für den Übergang von der dritten zur vierten Stufe stehen alle Theoretiker, die
eine weitere Hierarchisierung im Wege einer Verfassung für notwendig halten,
etwa Hans Kelsen.
Ich glaube nun, daß alle diese weiteren Anforderungen zumindest als notwendige Merkmale des Rechts aus einer philosophischen Perspektive nicht erforderlich sind. Es handelt sich vielmehr um zufällige empirische Erscheinungen
komplexerer Rechtsordnungen.
16
Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Berlin 1840, S. 11.
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