Ergotherapie Im Dilemma Innere Konflikte lösen Was, wenn eine Ergotherapeutin hin- und hergerissen s ist Mittwochmittag. Auf der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie teilt uns der Oberarzt die Neuzugänge mit: „Wir haben Michael Eder* aufgenommen. Der 56-Jährige ist seit seinem 18. Lebensjahr alkoholabhängig, derzeit arbeitslos. Letzte Woche überfiel er am Salzachkai eine 19-jährige Frau und vergewaltigte sie. Die Polizei hat ihn im schwer alkoholisierten Zustand am Bahnhof aufgegriffen. Auch das Opfer wurde bei uns aufgenommen. Sie befindet sich auf der Frauenstation und hat Herrn Eder identi­ fiziert. Seit seinem Entzug ist er jetzt in der geschlossenen Abteilung. Nach dem Aufenthalt hat er mit einem Gerichtsverfahren zu rechnen.“ Dann der Auftrag an mich: „Bitte merken Sie ihn Freitag für ein Erstgespräch vor.“ Der Behandlungsauftrag ist, die Fähig­ keiten des Klienten zu stärken und seine Selbstwahrnehmung zu fördern – im Rahmen der Stabilisierung nach dem Entzug. E Wenn kein Weg der richtige ist > Zurück im Therapiebüro, spüre ich plötzlich Magenschmerzen, sogar aufsteigende Wut. Warum betrifft mich das? Gedankensplitter kommen auf: „So ein Mistkerl, erst trinken und dann eine Frau vergewaltigen! Er hat nicht verdient, dass ihm geholfen wird!“ Dann die andere Seite: „Er ist ein Klient wie alle anderen, und ihm steht meine professionelle Begleitung zu.“ Ob nicht jemand anderes im Team ihn übernehmen kann? Ich bin hin- und hergerissen. Vielleicht ist mir die Theorie Glossar >> Moral (lat. „mos“: Sitte, Charakter) bezeichnet Verhaltensund Einstellungsnormen, die von einer Gruppe offiziell als verbindlich angesehen werden. Moral drückt sich als Regelkanon für „richtiges“ Verhalten aus. Dazu gehören Verbote und Gebote (die Zehn Gebote, die Menschenrechte etc.) >> Ethik (griech. „ethos“: Gewohnheit, Brauch, Gesinnung) ist die Wissenschaft von der Moral. Ihr Anliegen ist es, Handelnde zur selbstkritischen Reflexion über ihr moralisches Handeln anzuleiten. Ethik denkt über die Moral nach. * Name von der Redaktion geändert Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. ist zwischen Behandlungsauftrag und inneren Überzeugungen? Gabriele Güntert zeigt an einem Beispiel, in dem ein Klient eine erschütternde Tat begangen hat, wie sie an einen inneren Konflikt herangehen würde. dienlich. Ich grabe mein Wissen über moralisch-ethische Problemstellungen aus: Der deutsche Philosoph Gernot Böhme kennt den Knackpunkt von moralischen Problemen: „Als moralische Fragen sind solche anzusehen, mit denen es ernst ist. Ernst ist eine Frage dann, wenn sich mit ihr entscheidet, was oder wie ich als Mensch bin“ [2]. Auch Ergotherapeuten setzen sich mit ethischen Fragen auseinander: Dr. Diana Bailey und Dr. Sharan Schwartzberg sprechen von einem ethischen Dilemma, wenn es keine befriedigende Wahlmöglichkeit für eine bestimmte Situation gibt [1]. Mir ist das Thema sehr ernst, und ich sehe mich einer Situation ausgesetzt, in der mehrere Handlungen gleichzeitig geboten sind, die sich aber gegenseitig nicht vertragen. Entscheide ich mich für die Behandlung, verstoße ich gegen innere Überzeugungen. Entscheide ich mich dagegen, verstoße ich gegen andere Überzeugungen, die auch Teil meiner selbst sind. Egal was ich machen würde, es wäre nie das Richtige. Ich stecke in einem ethischen Dilemma! Es gibt Orientierung, aber kein Rezept > Ich benötige mehr Informationen. Wie soll ich weiter vorgehen? Bailey und Schwartzberg beschreiben fünf Prinzipien, die für die ergotherapeutische Arbeit relevant sind. An ihnen kann man sich orientieren: >> Prinzip des Nutzens: Durch mein Handeln entsteht der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl von Menschen. Wenn also Herr Eder von der Therapie profitiert, dann profitiert seine Umwelt. >> Prinzip der Wohltätigkeit: Ich bin die Anwältin der Schwachen, verpflichtet zur Hilfeleistung. Wobei in dem Fall die junge Frau mehr meine Fürsorge bräuchte. Soll ich vorschlagen, dem Opfer die Therapiestunden von Herrn Eder zusätzlich zu verordnen? >> Prinzip der Gerechtigkeit: Ich halte mich an Verträge (meinen Arbeitsvertrag) und an Regeln, damit die Gesellschaft funktioniert. Demnach hat Herr Eder das Recht auf bestmögliche Versorgung. Da er sich allerdings nicht an die Regeln gehalten hat, steht ihm in erster Linie Strafe zu. >> Prinzip der Selbstbestimmung: Menschen sind zu rationalem Verhalten in der Lage und haben das Recht auf Selbstbestimmung. Es geht darum, die Autonomie einer Person zu wahren. Habe nicht auch ich das Recht auf Selbstbestimmung? ergopraxis 3/12 24 * Prinzip des Nichtschadens: Es gilt, niemandem Schaden zuzufugen. Ich konnte Herrn Eder schaden, wenn ich seine Behandlung verweigere. Allerdings sol1 ich auch mir nicht schaden [I]. Jedes Prinzip hat recht. Das ist die Idee dahinter - es gibt keine per se richtige oder falsche Sicht, lcein Rezept, um ein Dilemma zu losen. Ethische Prinzipien dienen als Entscheidungs- und Reflexionshilfen. Was dann zu tun ist, muss jeder selbst entscheiden. Konflikte haben mit dem eigenen Wertesystem zu tun > Ich erlcenne deutlicher, was sich in mir widerspricht: Herr Eder hat das Recht auf Hilfestellung. Wenn er etwas verandert, profitiert sein Umfeld. Demgegenuber habe ich die Pflicht, auch auf meine GrenZen zu achten. Nur hilft mir das bei der Losung meines Dilemmas nicht weiter. Ich setze auf die Supervision am Donnerstag. Der Supervisor rat mir, erst in mir selbst zu forschen: ,,Welches sind Ihre personlichen Uberzeugungen, die Sie auch beruflich leiten? Was sind Ihre hochsten Werte?" Ich habe viele ~berzeugungen. Was fur eine Behandlung sprache, ware zum Beispiel: Jeder Mensch darf Fehler machen. Aus Fehlern lernen wir. Jeder Mensch tragt das Potenzial zur Entwiclclung und zum Lernen in sich. Dane- ben gibt es aber noch andere Uberzeugungen, die Herrn Eder lceine Behandlung gonnen: Unrecht gehort bestraft. Es gibt fur alles Grenzen. Wer andere verletzt, muss Konsequenzen spuren. Aufgrund unserer inneren Werte tun wir etwas oder tun wir etwas nicht. Sie bestimmen den ethischen Rahmen, innerhalb dessen wir uns bewegen. Gerade weil sie so wichtig sind, machen sie uns uberaus empfindlich und verletzbar [5]. Meine wichtigsten Werte sind ,,Sicherheit", ,,VertrauenU,,,Lebendiglceit", ,,Wachstum". Und genau hier liegt das Problem: Mir fehlen sowohl Sicherheit als auch Vertrauen in den Klienten. Weil diese Werte verletzt sind, widerstrebt es mir, meine anderen Werte, also meine Lebendigkeit und mein Wissen in Richtung Wachstum, bereitzustellen. Mein Supervisor hakt nach, woher meine Verunsicherung, mein Nichtvertrauen gegenuber diesem Klienten kommt? Wieso hat der Iclient mein Wertesystem derart angetriggert? Da mir als Ergotherapeutin die Selbstreflexion vertraut ist, werde ich schnell fundig: Auch in meiner Familie war Alkohol Grund einiger zerstorerischer Handlungen. Die Abwertung von Frauen war erlebter Alltag. Die Ausloser des Iconfliktes werden mir im Gesprach bewusst. Aber lcann ich mich auch davon befreien? Mit dem Supervisor Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Ergotherapie b Ergotherapie 26 Wir verlosen 3 x das Buch „Moral: Wie man richtig gut lebt“ vo m S. Fischer Verlag. Klicken Sie bis zum 29.3.2012 auf das Stichwort „Moral“ unter www.thieme.de/ergoonline > „ergopraxis“ > „Artikel“. Viel Glück! überlege ich, was nötig ist, um Sicherheit und Vertrauen herzustellen. Wichtige Konstanten für eine funktionierende Beziehung sind für mich in erster Linie ehrliche Kommunikation und offener Austausch. Wenn das als Basis vorhanden ist, fühle ich mich sicher und kann Vertrauen wachsen lassen. Meine bisherigen Überlegungen und die Supervision haben mich vorangebracht. Allein indem ich meinen Konflikt analysiert und anerkannt habe, merke ich, wie sich etwas verändert. Mein Unwohlsein und meine Wut gehen zurück, Ruhe entsteht. Der innere Kampf ist schwächer geworden. Gut vorbereitet in eine schwierige Situation > Als Profi sehe ich mich verpflichtet, mich selbst genau zu kennen und zu dem zu stehen, wo ich mich im Moment befinde. Denn ich kann andere nur so weit professionell begleiten, wie ich selbst bereit bin, zu gehen. Jetzt möchte ich herausfinden, ob ich mit Herrn Eder eine Arbeitsbasis finden kann oder nicht. Am Freitag treffe ich Herrn Eder zum Erstgespräch. Ich bin gut vorbereitet und habe entschlossen, dass ich lieber NEIN sage, anstatt einen faulen Kompromiss einzugehen. Herr Eder erzählt mir seine Geschichte. Das scheint ihn zu erleichtern. Ich bin mir aber nicht sicher, ob er nur Mitleid sucht. Ich beobachte ihn genau: Er zeigt wenig Gefühle, begründet sein Verhalten mit seinem fürchterlichen Leben. Er sieht sich selbst mehr als Opfer denn als Täter. Schon spüre ich Unbehagen. „Wenn er wenigstens reumütig wäre, täte ich mich leichter“, sagt eine innere Stimme. Dem Klienten spiegele ich wider: „Ich habe Ihnen gut zugehört, Herr Eder. Ich bin betroffen über Ihr Schicksal, ihre schlimmen Erfahrungen und die vergeblichen Versuche, Arbeit zu finden. Ihre Lebensbedingungen sind absolut erschwerend. Aber ich möchte ehrlich anmerken – ich bin auch betroffen als Frau, vor allem darüber, dass Sie recht wenig Einsicht in Ihr Verhalten zeigen. Ich brauche Zeit, um herauszu­ finden, ob ich mit Ihnen gut arbeiten kann. Mir sind Sicherheit und Vertrauen wichtige Teile in der Arbeit, und ich möchte daher beobachten, ob das entsteht.“ Anschließend frage ich, was ihm wichtig ist. Nach langem Schweigen antwortet Herr Eder: Ehrlichkeit und dass sich mal jemand für ihn interessiert. Beides habe er kaum erlebt in seinem Leben. Da kann ich mitgehen. Ehrlich bin ich gern – er muss es nur aushalten, sage ich ihm. Und mich für ihn interessieren – ich bin ein im positiven Sinn neugieriger Mensch und entdecke gern andere in ihrer Vielfalt. An diesem Punkt entscheiden wir, einfach zu starten. Nicht alle Konflikte kann man auflösen > Am Ende unserer vierwöchigen Zusammenarbeit berichtet Herr Eder: „Ich spüre wieder etwas in mir. Ich habe Ideen für die Zukunft nach der Haft. Ich möchte der Frau einen Brief schreiben und mich entschuldigen.“ Mir verschlägt es den Atem. Während ich zu Beginn nicht zu einer einfühlsamen und kongruenten Therapie in der Lage gewesen war, löste dieses Fazit mein Unwohlsein auf. Ich konnte ein Stück des Weges mit Herrn Eder gehen, weil es für mich gestimmt hat. Hätte mein innerer Seismograf stets rot geblinkt, hätte ich die Therapie beenden und über das Team eine Lösung finden müssen. Auch das gab es bereits. Da ging es um einen Mann, der ein Kind entführt, misshandelt und anschließend ermordet hat – das ging für mich nicht. Hier zeigten sich die Vorteile eines vielfältigen Teams: Alle haben ihre eigenen Werte, ihre eigene Power und Grenzen. Es fand sich eine Kollegin, die mit diesem Mann arbeiten konnte. Wären solche Fälle öfter an der Tagesordnung oder sogar Schwerpunkt meiner Arbeit – ich müsste die Stelle wechseln. Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Antworten auf moralische Fragen Ich schlage vor, dass jeder für sich aus einem Ytong-Block eine Stele gestaltet, stellvertretend für die eigenen Werte. Über solche Arbeiten kann Herr Eder einiges an Gefühlen wahrnehmen und zeigen. Durch die Reflexionen lernen wir uns besser kennen. Ich entdecke den Menschen hinter dem Vorfall. Seine Tat finde ich nach wie vor schrecklich. Der Mensch Michael Eder aber strebt wie fast alle Menschen nach Liebe, Glück und Zufriedenheit. Achtsamkeit als A und O > Es gibt viele ethische Konflikte, die man analysieren kann, zum Beispiel: Was tue ich, wenn eine Kollegin gegen Regeln verstößt oder einen Klienten definitiv falsch behandelt? Wenn ich allein entscheiden muss, wer weniger und wer mehr Therapie bekommt? Wenn ich nicht weiß, ob ich die Wahrheit sagen kann, weil sie eventuell mehr schadet als nutzt? Oder wann ich mein Gewissen über den Arbeitsvertrag stellen kann? Hinter all diesen Fragen stecken immer ethische Überlegungen. Dann ist die Ergotherapeutin in der Pflicht, auf sich achtzugeben und zu überlegen: „Wo sind wirklich meine Grenzen?“ Diese auch zu respektieren, ist nicht immer einfach und kommt nicht immer gut an. Mitunter erntet man verständnislose Blicke von Kollegen oder Rüffel von Vorgesetzten. Doch im Ernstfall ist Achtsamkeit sich selbst gegenüber ein sehr wichtiges Gebot. Nun ließe sich darüber diskutieren, inwieweit man damit ethisch oder egoistisch handelt – aber das wäre wohl ein neuer Artikel ... Gabriele Güntert Literatur: www.thieme.de/­ergoonline > „ergopraxis“ > „Artikel“ Gabriele Güntert, Ergotherapeutin seit 1983, Dozentin an der Fachhochschule Salzburg und Mutter dreier Kinder, bietet auf Anfrage Seminare zum Thema „Ethik und Ergotherapie“ an. Darin erarbeitet sie die Themen des Artikels und wie man ethische Dilemmata erkennt und auflöst. Kontakt: [email protected] ergopraxis 3/12 Zu gewinnen