Émile Durkheim: Leben und Werk

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Joachim Stiller
Émile Durkheim:
Leben und Werk
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David Émile Durkheim [e mil dyʀ kɛm] (* 15. April 1858 in Épinal, Frankreich; † 15.
November 1917 in Paris) war ein französischer Soziologe und Ethnologe. Er war 1887 als
Lehrbeauftragter für Soziologie und Pädagogik in Bordeaux der erste mit einer akademischen
Stelle an einer französischen Universität.[1] Er gilt heute als ein Klassiker der Soziologie,[2]
der mit seiner Methodologie die Eigenständigkeit der Soziologie als Fachdisziplin zu
begründen gesucht hat und dessen Selbsttötungs-Studie zum Paradigma empirischer
Soziologie wurde.[3]
Inhaltsverzeichnis
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1 Leben
2 Werke
o 2.1 Über soziale Arbeitsteilung (1893)
o 2.2 Die Regeln der soziologischen Methode (1895)
o 2.3 Der Selbstmord (1897)
o 2.4 Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912)
3 Rezeption
4 Schriften
5 Literatur
6 Siehe auch
7 Weblinks
8 Einzelnachweise
Leben
Émile Durkheim – Sohn eines Rabbiners in Épinal (Lothringen) – studierte in Paris an der
École normale supérieure, nachdem er zweimal bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen war.
Er traf dort auf eine Reihe von später ebenfalls sehr renommierten Männern, darunter Lucien
Lévy-Bruhl und Jean Jaurès.
Nach seinem Abschluss war Durkheim zunächst als Lehrer für Philosophie an Gymnasien
tätig. Nach einem Studienaufenthalt in Deutschland in den Jahren 1885–1886 publizierte er
zwei Artikel über seine Stipendienzeit in Berlin und Leipzig. Sie machten ihn bekannt und
führten dazu, dass er vom Leiter der Hochschulabteilung im Erziehungsministerium 1887
einen Lehrauftrag für Sozialwissenschaft in Bordeaux erhielt, wo er schließlich Professor für
Pädagogik und Soziologie wurde – die erste Dozentur für Soziologie an einer französischen
Universität.
In seiner Zeit in Bordeaux verfasste Durkheim drei seiner wichtigsten Schriften: Über soziale
Arbeitsteilung (seine Dissertationsschrift, 1893), Die Regeln der soziologischen Methode
(1895) und Der Selbstmord (1897). 1896 gründete er die Zeitschrift L’Année Sociologique,[4]
von der er zwölf Jahrgänge herausgab und zu der eine Gruppe von Gleichgesinnten und
Durkheims Schülern wesentlich beitrugen.
1902 nahm Durkheim eine Lehrtätigkeit an der Pariser Universität Sorbonne auf, wo er 1906
einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft erhielt, der 1913 in Erziehungswissenschaft und
Soziologie umbenannt wurde.
Werke
Bereits in seiner ersten, in Latein verfassten und 1892 abgeschlossenen Dissertation setzt sich
Durkheim mit Montesquieu und Jean-Jacques Rousseau auseinander.[5]
Über soziale Arbeitsteilung (1893)
In De la division du travail social (1893) entwirft Durkheim ein grundlegendes Modell von
Gesellschaft entlang der folgenden Frage:
„Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von
der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein?
Denn es ist unwiderleglich, daß diese beiden Bewegungen, wie gegensätzlich sie auch
erscheinen, parallel verlaufen. Das ist das Problem, das wir uns gestellt haben. Uns schien,
daß die Auflösung dieser scheinbaren Antinomie einer Veränderung der sozialen Solidarität
geschuldet ist, die wir der immer stärkeren Arbeitsteilung verdanken.“
– Emile Durkheim[6]
Nach Durkheim unterscheiden sich Gesellschaftsstrukturen durch unterschiedliche Formen
der Solidarität, wobei er in zweierlei Arten unterteilt:
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mechanische Solidarität: Diese Form kennzeichnet vor allem ältere, weniger
gegliederte Gesellschaften und wird von diesen durch Tradition, Sitten und – damit
verbunden – Sanktionen aufrechterhalten. Kennzeichen sind daher gemeinsame
Anschauungen und Gefühle. So geartete Kollektive bezeichnet Durkheim als
„segmentäre“ Gesellschaften. Das Rechtssystem in solchen Gesellschaften ist ein
repressives; die Bestrafung erfolgt also aufgrund eines Verstoßes gegen das
Kollektiv(-bewusstsein).
organische Solidarität: Während in vormodernen Gesellschaften die Strukturen
leicht durch mechanische Solidarität aufrechterhalten werden konnten, bedarf es in
neuerer Zeit einer differenzierteren Form des Zusammenhalts. Diese neue Form ist
nach Durkheim die sogenannte organische Solidarität. Sie ersetzt den (in Zeiten des
Wettbewerbs und steigender Bevölkerungsdichte schwierig bis unmöglich
gewordenen) mechanischen Zusammenhalt durch neue, kontraktuelle Strukturen (→
Arbeitsteilung), in denen der Einzelne in verschiedener Weise eingebunden ist. Dies
bedeutet jedoch ausdrücklich nicht das komplette Verschwinden gemeinsamer
Anschauungen; diese treten lediglich zunehmend in den Hintergrund.
Das Prinzip der „organischen Solidarität“ versteht Durkheim als Gegenposition zum
Utilitarismus, namentlich desjenigen Herbert Spencers. So geartete moderne Kollektive
bezeichnet Durkheim als „nicht-segmentäre“ Gesellschaften. Die Industriegesellschaft hat
nach Durkheim eine differenzierte, hochentwickelte und komplexe Arbeitsteilung von solchen
Ausmaßen, dass der Einzelne sie nicht mehr überblicken kann. Tatsächlich ist der Einzelne in
dieser arbeitsteiligen Gesellschaft überaus abhängig, jedoch entwickelt er eine Ideologie, die
genau das Gegenteil sagt – nämlich den Individualismus. Durkheim zeigte dieses Paradoxon
der Industriegesellschaft erstmals auf. Andere, wenig oder nicht-industrialisierte
Gesellschaften kennzeichnet eine viel einfachere und überschaubarere Arbeitsteilung.
Die Regeln der soziologischen Methode (1895)
Durkheim geht in diesem Werk davon aus, dass „soziale Fakten als Dinge (zu) behandeln“
sind, d. h. der soziale Tatbestand stellt für ihn die Grundlage aller soziologischen Analyse dar
und ist keine bloße „Nebenerscheinung“ von menschlichem Zusammenleben, sondern als
Struktur mit eigenem Stellenwert zu betrachten.
Eine soziale Struktur erklärt sich also für Durkheim nicht aus der Summe der Vorstellungen
der beteiligten Akteure und existiert unabhängig von denen, die sie erschaffen haben
(Emergenzphänomen). Sie wirkt als „Gesellschaft“ von oben auf die Menschen ein und kann
von der Soziologie als solche aufgedeckt und durch funktionale (=Wirkung) und historische
(=Entstehung) Analyse erklärt werden. Nach Durkheim sind beide Aspekte unbedingt zu
beachten. Die moderne Schichtung der Gesellschaft kann also zum Beispiel nicht lediglich
dadurch erklärt werden, dass Berufspositionen mit verschiedenen Entlohnungen versehen
werden, um sie attraktiver zu machen, weil dabei nur die Wirkung betrachtet würde.
Durkheim gibt drei Kriterien für soziale Strukturen („Gesellschaft“) an:
1. Allgemeinheit:
Die Regeln der geltenden Struktur gelten für alle Individuen, die in ihr interagieren.
2. Äußerlichkeit:
Die Struktur wird als unabhängig von der eigenen Person empfunden und kann nicht
als Summe der individuellen Vorstellungen der in ihr handelnden Akteure begriffen
werden.
3. Zwang:
Es ist dem Einzelnen nicht möglich, der sozialen Struktur entgegenzuwirken, da er
dieser quasi unterworfen ist. Nichtbeachtung der gesellschaftlichen Regeln zieht mehr
oder minder schwere Sanktionen nach sich. Die Determination des Handelns kann
auch ohne Wissen der handelnden Personen geschehen, d. h. z.B. dass sich die
Akteure der gesellschaftlichen Regeln nicht unbedingt bewusst sein müssen und diese
mitunter intuitiv befolgen.
Das kollektive Gewissen oder auch kollektive Bewusstsein („conscience collective“) der
Gesellschaft, in der man geboren wurde, wird durch Erziehung in den Einzelnen
hineingetragen und schlägt sich in dessen Moralvorstellungen, Sitten und Glauben nieder.
„Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt
der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bilden ein umgrenztes System, das sein eigenes
Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewußtsein nennen. Zweifellos
findet es sein Substrat nicht in einem einzigen Organ. Es ist definitionsgemäß über die ganze
Gesellschaft verbreitet. Trotzdem hat es spezifische Charakterzüge, die es zu einer deutlich
unterscheidbaren Wirklichkeit machen. In der Tat ist es von den besonderen Bedingungen
unabhängig, denen sich die Individuen gegenübergestellt sehen. Diese vergehen, es aber
bleibt bestehen.“
– Emile Durkheim[7]
Nach Durkheim ist der kollektive Zwang nicht direkt beobachtbar, aber in der negativen
Sanktionierung von abweichenden, d. h. regelwidrigen Verhaltensweisen feststellbar und
messbar. Wenn diese Abweichung in der Gesellschaft zur Regel wird, das kollektive
Gewissen also nicht mehr in der Lage ist, für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen,
spricht man von „Anomie“. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft vom „Normalzustand“ in
einen „pathologischen“ Zustand übergegangen ist.
Im sechsten Kapitel („Regeln der Beweisführung“) bestimmt Durkheim die Methode der
kulturvergleichenden Sozialforschung als „die einzige, welche der Soziologie entspricht.“
(1991, S. 205), vgl. Vergleich (Philosophie). Im ersten Abschnitt (I) setzt sich Durkheim
kritisch mit Comte und John Stuart Mill auseinander. Im zweiten Abschnitt (II) untersucht
Durkheim vier verschiedene Verfahren der vergleichenden Methode:
1.
2.
3.
4.
Methode der Residuen
Methode der Konkordanz
Methode der Differenz
Methode der parallelen (konkomitanten) Variationen.
Die ersten drei Verfahren eignen sich Durkheim zufolge nicht für die Untersuchung sozialer
Phänomene, da solche Phänomene zu komplex sind. Dagegen hält Durkheim das Verfahren
der parallelen Variationen für ein „ausgezeichnete[s] Instrument der soziologischen
Forschung“ (1991, S. 211). Im dritten und letzten Abschnitt (III) behandelt Durkheim den
Vergleich mehrerer Gesellschaften.
Der Selbstmord (1897)
In Le suicide untersucht Durkheim verschiedene Hypothesen zu den unterschiedlichen
Suizidraten von Katholiken und Protestanten. Er benutzt hierzu empirische Daten aus
verschiedenen Quellen, vor allem Adolph Wagner und Henry Morselli und untersucht
Korrelationen mit unterschiedlichen Parametern, der konfessionellen Zugehörigkeit, dem
Berufs- und Vermögensstand der Betroffenen bis hin zum Wetter, zur Jahreszeit und zur
Wirtschaftssituation des Landes. Er erklärt die niedrigere Selbsttötungsrate bei Katholiken
durch die stärkere soziale Kontrolle und die stärkere soziale Integration. In den Quellen waren
die Ergebnisse mit größerer Zurückhaltung dargestellt worden. Außerdem war der
Unterschied zwischen den Konfessionen nur in den deutschsprachigen Gebieten
Mitteleuropas beobachtbar und kann seinerseits Ausdruck anderer Faktoren gewesen sein.
Durkheims Ergebnisse waren:
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Die Selbsttötungsrate bei Männern ist höher als bei Frauen. Verheiratete Frauen, die
über einen längeren Zeitraum kinderlos blieben, hatten jedoch höhere Werte.
Singles haben eine höhere Rate als Verheiratete.
Kinderlose Ehepaare zeigen eine höhere Rate als Familien.
Protestanten haben eine höhere Rate als Katholiken und Juden.
Soldaten zeigen eine höhere Rate als Zivilisten.
In Friedenszeiten ist die Zahl der Selbsttötungen höher als im Krieg.
In skandinavischen Ländern zeigt sich eine höhere Rate als sonst in Europa.
Die Wahrscheinlichkeit der Selbsttötung wächst mit dem Bildungsgrad. Die
Korrelation mit der Religion ist aber stärker.
In diesem Zusammenhang entwickelt er den Begriff der Anomie, die er als Situation definiert,
in der Verwirrung über soziale und/oder moralische Normen herrscht, weil diese unklar oder
überhaupt nicht vorhanden sind. Dies führt nach Durkheim zu abweichendem Verhalten.
Durkheim nennt in diesem Zusammenhang drei Grundtypen (Idealtypen) des Suizids: die
egoistische, die anomische und die altruistische Selbsttötung. Nur in einer Fußnote erwähnt
Durkheim einen vierten Typ, die fatalistische Selbsttötung. Der egoistische Selbstmord ist
Ausdruck der mangelnden Integration in eine Gemeinschaft, also das Ergebnis einer
Schwächung der sozialen Bindungen des Individuums. Als Beispiel führt Durkheim
Unverheiratete an, besonders Männer, die in höherer Zahl Selbstmord begehen als
Verheiratete.
Altruistische Selbsttötung ist demgegenüber Ausdruck einer zu starken Bindung an
Gruppennormen. Dies findet er vor allem in Gesellschaften, in denen die Bedürfnisse des
Einzelnen dem Ziel der Gemeinschaft untergeordnet sind.
Anomische Selbsttötung spiegelt die moralische Verwirrung des Individuums wider, seinen
Mangel an gesellschaftlicher Orientierung, oft verbunden mit dramatischem sozialem und
ökonomischem Wandel. Er ist die Folge moralischer Deregulierung und fehlender Definition
legitimer Ziele durch eine soziale Ethik, die dem Bewusstsein des Einzelnen Sinn und
Ordnung vermitteln könnte. Es fehlt hier nach Durkheim vor allem eine wirtschaftliche
Entwicklung, die soziale Solidarität produziert. Die Menschen wissen nicht, wo ihr Platz in
der Gesellschaft ist. In der entsprechenden moralischen Desorientierung kennen die Menschen
nicht mehr die Grenzen ihrer Bedürfnisse und befinden sich in einem Dauerzustand der
Enttäuschung. Dies geschieht vor allem bei drastischen Veränderungen der materiellen
Bedingungen der Existenz, wirtschaftlicher Ruin oder auch plötzlicher unerwarteter
Reichtum: Durch beides werden bisherige Lebenserwartungen infrage gestellt und neue
Orientierungen werden erforderlich, bevor die neue Situation und ihre Grenzen richtig
eingeschätzt werden können.
Fatalistische Selbsttötung ist das Gegenteil des anomischen. Hier ist ein Mensch in extremem
Maße eingeschränkt und erfährt seine Zukunft als vorbestimmt, seine Bedürfnisse werden
erstickt. Dies geschieht in geschlossenen und repressiven Gruppen, in denen Menschen den
Tod dem Weiterleben unter den gegebenen und nicht zu verändernden Bedingungen
vorziehen. Als Beispiel führt Durkheim Gefängnisinsassen an.
Alle vier Typen von Selbsttötung basieren auf hohen Graden von Ungleichgewicht zwischen
zwei gesellschaftlichen Kräften: Integration und moralischer Regulierung. Durkheim
berücksichtigte bei seiner Untersuchung die Wirkungen von Krisen auf soziale Gefüge, zum
Beispiel den Krieg als Ursache für vermehrten Altruismus, wirtschaftlichen Aufschwung oder
Depression als Ursache verstärkter Anomie.
Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912)
Die 1912 erschienenen Les formes élémentaires de la vie religieuse (Die elementaren Formen
des religiösen Lebens) befassen sich mit der Frage nach dem Wesen der Religion. Mit diesem
Werk bildet Durkheim die Grundlage für eine funktionalistische Betrachtung der Religion,
indem er als ihr wesentliches Kernelement ihre Funktion zur Stiftung gesellschaftlichen
Zusammenhalts und gesellschaftlicher Identität ausmacht. Durch seine intensive Erforschung
des Totemismus der australischen Arrernte (Aranda) gelangt er zu der Überzeugung, hier die
„Urreligion“ der Menschheit gefunden zu haben. Diese evolutionistische Theorie ist heute
überholt.[8]
In Anschluss an Durkheim wird von einzelnen Vertretern der Religionssoziologie all das als
Religion interpretiert, was in verschiedenen Gesellschaften eben derartige Funktionen erfüllt.
Demgegenüber steht ein substantialer Religionsbegriff, der Religion an bestimmten
inhaltlichen Merkmalen (Vorstellungen von Transzendenz, Ausbildung von Priesterrollen
etc.) festmacht.
Rezeption
Bekannte Schüler Durkheims waren u. a. Marcel Mauss, der Neffe Durkheims, und Maurice
Halbwachs. Die Schule um Durkheim und die Année Sociologique werden manchmal dafür
verantwortlich gemacht, dass Forscher, die Durkheim nicht folgten, wie Gabriel Tarde und
Arnold van Gennep, unverdient in Vergessenheit gerieten. Auch nach seinem Tod wirkte
Durkheim in Frankreich auf zahlreiche Denker, unter anderem auf die Gründer des Collège de
Sociologie (Georges Bataille, Michel Leiris, Roger Caillois) sowie Claude Lévi-Strauss,
Michel Foucault und andere aus dem Umfeld des französischen Strukturalismus. Auch Pierre
Bourdieu greift wiederholt auf Durkheim zurück.
In Großbritannien setzte sich insbesondere die dortige auch als Sozialanthropologie bekannte
Strömung der Ethnologie intensiv mit Durkheim auseinander. Insbesondere die
funktionalistischen Spielarten der britischen Sozialanthropologie bei Bronisław Malinowski
und Alfred Radcliffe-Brown setzten sich mit Durkheims Werk auseinander.
Durkheims Erbe wurde für die moderne Soziologie vor allem durch Talcott Parsons fruchtbar
gemacht, der die Kritik des Utilitarismus in den Vordergrund rückte.[9]
Im deutschsprachigen Raum, wo Durkheim lange Zeit weniger rezipiert wurde als etwa Max
Weber und Karl Marx, haben insbesondere René König (unter anderem durch Übersetzung
einiger Werke Durkheims) sowie Alphons Silbermann (Mitte der 1970er Jahre in Bordeaux)
auf Durkheims Bedeutung hingewiesen.
In jüngster Zeit kam man auf Durkheim wieder zurück, wenn es um eine Theorie geht, die
den Wertewandel in der Gesellschaft sowie die Herausbildung der moralischen Autonomie
des Individuums erklären kann.[10]
Vor einer vorschnellen Kategorisierung soziologischer Klassiker wie Weber und Durkheim
hat Siegwart Lindenberg gewarnt, da diese häufig "doppelsinnig" arbeiteten. So sei Webers
"subjektiv gemeinter Sinn" nicht individuell, sondern intersubjektiv verstehbar. Und
Durkheim habe programmatisch als methodologischer Kollektivist psychologische
Erklärungen abgelehnt und dennoch zur Erklärung der Prozesse, die intersubjektiv Sinn
erzeugen, psychologische Ansätze herangezogen.[11]
Schriften
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„La Science Positive de la Morale en Allemagne“. In: Revue Internationale de
l’Enseignement. 24 (1887), S. 33–58, 113–142, 275–284.
„La prohibition de l’incest.“ In: L'Année Sociologique. 1 (1898), S. 1–70.
De la division du travail social: Étude sur l’organisation des sociétés supérieures.
Félix Alcan, Paris 1893.
o Übersetzung: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Deutsch von Ludwig
Schmidts. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-28605-6.
Les règles de la méthode sociologique. Félix Alcan, Paris 1895.
o Übersetzung: Die Regeln der soziologischen Methode. Deutsch von René
König. 7. Auflage. Luchterhand, Neuwied/ Berlin 2011, ISBN 978-3-51828064-5.
Le suicide: Étude de sociologie. Félix Alcan, Paris 1897.
o Übersetzung: Der Selbstmord. Deutsch von Sebastian und Hanne Herkommer.
Luchterhand, Neuwied/ Berlin 1973, ISBN 3-518-28031-7.
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„De la définition des phénomènes religieux.” In: L'Année Sociologique. 2 (1899), S.
1–28.
„Sur le totémisme.“ In: L'Année Sociologique. 5 (1902), S. 82–121.
mit Marcel Mauss: De quelques formes primitives de classification. 1902.
Les formes élémentaires de la vie religieuse. Félix Alcan, Paris 1912.
o Übersetzung: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Deutsch von
Ludwig Schmidts. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-518-28725-7.
„L’Allemagne au-dessus de tout“: la mentalité allemande et la guerre. Armand Colin,
Paris 1915.
o Übersetzung: „Deutschland über alles“: Die deutsche Gesinnung und der
Krieg. Deutsch von Jacques Hatt. Payot, Lausanne 1915, ISBN 3-928640-49-6
(Dt. von Klaus H. Fischer, 2003)
mit Ernest Denis: Wer hat den Krieg gewollt? Die Ursprünge des Krieges (1914–
1918) nach den diplomatischen Dokumenten. Deutsch von Klaus H. Fischer.
Schutterwald/Baden 2003.
Literatur
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Nicholas J. Allen u.a.: On Durkheim's Elementary Forms of Religions Life (=
Routledge Studies in Social and Political Thought. 10). Routledge, London 1998,
ISBN 0-415-16286-6.
Raymond Aron: Hauptströmungen des soziologischen Denkens („Les étapes de la
pensée sociologique“). Rowohlt, Reinbek
o 2. Bd. - Émile Durkheim, Vilfredo Pareto, Max Weber. 1979, ISBN 3-49955387-2.
Jürgen Gerhards: Émile Durkheim: Die Seele als soziales Phänomen. In: Gerd
Jüttemann (Hrsg.): Wegbereiter der historischen Psychologie. Beltz, Weinheim 1988,
ISBN 3-621-27059-0.
Volker Gottowik: Émile Durkheim. In: Christian Feest, Karl-Heinz Kohl (Hrsg.):
Hauptwerke der Ethnologie. Kröner, Stuttgart 2001, ISBN 3-520-38001-3, S. 86–90.
Hans Peter Hahn: "Durkheim und die Ethnologie. Schlaglichter auf ein schwieriges
Verhältnis." In: "Paideuma", Bd. 58 (2012), S. 261-282.
Hans G. Kippenberg: Émile Durkheim (1858–1917). In: Axel Michaels (Hrsg.):
Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea
Eliade. Beck, München 1997, ISBN 3-406-42813-4, S. 103–119.
René König: Emile Durkheim 1858–1917. In: KZfSS. Jg. 10, 1958, S. 561–586; wieder
in: Jürgen Friedrichs, Karl Ulrich Mayer, Wolfgang Schluchter (Hrsg.): Soziologische
Theorie und Empirie. KZfSS. Westdeutscher Verlag, Opladen 1997, ISBN 3-53113139-7, S. 80–105.
o René König: Émile Durkheim zur Diskussion. Hanser, München 1976, ISBN
3-446-12513-2.
Steven Lukes: Émile Durkheim, his life and work. A historical and critical study.
University Press, Stanford, Cal. 1990, ISBN 0-8047-1283-2.
Realino Marra: Il diritto in Durkheim. Sensibilità e riflessione nella produzione
normativa. Edizioni Scientifiche Italiane, Napoli 1986
Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de
Sociologie (1937–1939). UVK-VG, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-532-0 (zugl.
Habilitation, Universität Bremen 2005).
Hans-Peter Müller: Émile Durkheim. In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der
Soziologie. Beck, München
1. Bd. - Von Auguste Comte bis Alfred Schütz. 5. Auflage. 2006, ISBN 3-40654749-4, S. 151–171.
William S. Pickering (Hrsg.): Durkheim's Sociology of Religion. Themes and
Theories. Routledge & Kegan Paul, London 1984, ISBN 0-7100-9298-9.
William S. Pickering (Hrsg.): Durkheim Today. Berghahn Books, New York 2002,
ISBN 1-57181-548-1.
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Siehe auch
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Pierre Bourdieu
Evolutionismus
Religionsethnologie
Religionssoziologie
Soziales Milieu
Totemismus
Weblinks
Commons: Émile Durkheim – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
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Literatur von und über Émile Durkheim im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Émile Durkheim in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Paul Carls: Eintrag in der Internet Encyclopedia of Philosophy (engl.)
Janca Imwolde: Émile Durkheim. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und
HdG)
The Emile Durkheim Archive
Yale-Vorlesungen über Emile Durkheim von Ivan Szelenyi (engl.)
Englischsprachige Bibliografie
Henecka: Emile Durkheim
Emile Durkheim (1858-1917)
„Emile Durkheim, der übrigens als erster Soziologe 1887 in Bordeaux einen Lehrstuhl für
Soziologie erhielt, betont schließlich – ähnlich wie Simmel – die Bedeutung der Gruppe bzw.
des Kollektives für das soziale Handeln. Er will das soziale Handeln wie „Tatsachen“
betrachten, die außerhalb des Individuums liegen, eine „Wirklichkeit eigener Art“ darstellen
und als Ausdruck „kollektiver Vorstellungen“ von äußeren Zwängen, Verpflichtungen,
Geboten, ‚Sitten u.ä. bestimmt werden: „Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens
zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Großformen,, in
die wir unsere Handlungen gießen können“ (Durkheim 1961: 226). Durch die mehr oder
weniger von außen auferlegten Zwänge wird soziales Handeln zu einem „soziologischen
Tatbestand“.
Damit legt er dem Sozialen ein solches Gewicht bei, dass er sich dem Vorwurf des
„Soziologismus“, d.h. der einseitigen Betonung der gesellschaftlichen Bedingtheit und
Abhängigkeit menschlichen Denkens und Handelns, ausgesetzt sah.
Für Durkheim ist eine soziale Gruppe oder auch die Gesellschaft immer mehr als die Summe
ihrer Teile, mehr als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Dieses „Mehr“ bezeichnet er
als „kollektives Bewusstsein“, als eine moralische, sittliche oder religiöse Kraft, die in ihren
Wirkungen deutlich (z.B. im Bereich der Erziehung) nachweisbar sei.
Die gesellschaftliche Entwicklung folgt nach Durkheim einer sozialen Evolution, die von der
auf der Gemeinsamkeit von Ideen, Gefühlen und Traditionen beruhenden „mechanischen
Solidarität“ der Menschen in einfacheren Gesellschaften sich zu einer „organischen
Solidarität“ der Menschen in zivilisierten und industrialisierten Gesellschaften gewandelt
habe und die hier vor allem auf der hochentwickelten Arbeitsteilung, der weitgehenden
Differenzierung der Persönlichkeiten und dem Vorherrschen vertraglicher Beziehungen
beruhe.“ (Henecka)
Joachim Stiller
Münster, 2015
Ende
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