Helmut Staubmann (Hg.): Soziologie in Österreich – Internationale Verflechtungen © 2016 innsbruck university press ISBN 978-3-903122-56-7, DOI 10.15203/3122-56-7 Zur Theorie der soziologischen Gesellschaftsdiagnose Oliver Neun Zusammenfassung: Gesellschaftsdiagnosen sind in der Soziologie eine legitimationsbedürftige Gattung. Es soll deshalb überprüft werden, welche Anknüpfungspunkte es für eines Theorie dieses Genre in der soziologischen Theorie gibt. Zunächst werden dazu die Gesellschaftsdiagnose definiert und anschließend die Begriffe des „historischen Individuums“ von Max Weber, der „principia media“ von Karl Mannheim und der „middle-range-theory“ von Robert K. Merton daraufhin untersucht, inwieweit sich Übereinstimmungen zu dieser Beschreibung aufweisen lassen. Schlüsselwörter: Gesellschaftsdiagnose, Karl Mannheim, Robert K. Merton, Max Weber On the Theory of the Sociological Diagnosis of Society Abstract: In sociology you must legitimize the genre of diagnosis of society. My aim is therefore to check which connections exist between the theory of this genre and sociological theory. After a definition of diagnosis of society follows a close examination of the terms “historisches Individuum” of Max Weber, of the “principia media” of Karl Mannheim and the “middle-range-theory” of Rober K. Merton. The intention thereby is to find points of agreements to the genre of diagnosis of society. Keywords: Diagnosis of society, Karl Mannheim, Robert K. Merton, Max Weber Zeit- bzw. Gesellschaftdiagnosen gelten als legitimationsbedürftige soziologische Gattung, die auch streng von der soziologischen Gesellschaftstheorie unterschieden wird (Kruse 1999, S. 11). In der Disziplin führen sie daher eine „Randexistenz“ und die Beschäftigung mit ihnen gilt als „ein wenig unsolide“ (Reese-Schäfer 1996, S. 377; Bogner 2012, S. 8). Dies ist in Deutschland aber eine neuere Entwicklung. Nach 1945 waren sie noch stark in der Soziologie präsent, und erst unter dem Einfluss von René König erfolgt in den späten 1950er Jahren ein 304 O. Neun „Traditionsbruch“.1 Die von ihm geäußerte Kritik wirkt jedoch bis in die Gegenwart hinein (Kruse 1994, 1999, S. 265, 268) und ist ein Grund dafür, wieso weiterhin kaum analytische Auseinandersetzungen mit dem Genre vorliegen: „Es gibt keinen präzisen, weithin anerkannten Begriff von Zeitdiagnose, und eigentlich gibt es noch nicht einmal systematische Anstrengungen zu dessen Präzisierung, auch nicht innerhalb der Soziologie.“ (Bogner 2012, S. 8) Eine solche Auseinandersetzung ist aber wichtig, da mit Gesellschaftsdiagnosen gleichzeitig „wissenschaftliche Ressourcen in der Versenkung [verschwinden], die für eine lebensbezogene Sozialwissenschaft kaum zu entbehren sind“ (Kruse 1999: 266), u.a. da sie einen ein Beitrag zur „soziologischen Aufklärung“ leisten (Schimank/Volkmann 2000, S. 17). Im folgenden soll deshalb überprüft werden, welche Anknüpfungspunkte es für eine Theorie der Gesellschaftsdiagnose in der soziologischen Theorie gibt. Zunächst soll dazu die Gesellschaftsdiagnose definiert und anschließend die Begriffe des „historischen Individuums“ von Max Weber, der „principia media“ von Karl Mannheim und der „middle-range-theory“ von Robert K. Merton daraufhin untersucht werden, wieweit sich Übereinstimmungen zu dieser Bestimmung aufweisen lassen. 1 Definition der Gesellschaftsdiagnose In der knappen Forschungsliteratur zum Genre der Gesellschaftsdiagnose werden übereinstimmend, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, folgende Merkmale als Charakteristika genannt (Reese-Schäfer 1996; Volkmann und Schimank 2001; Osrecki 2011; Bogner 2012): a) Gesellschaftsdiagnosen sind der Versuch einer Gesamtbeschreibung der Gesellschaft, nicht nur die eines Teilsystems, b) das Abstraktionsniveau liegt auf einer mittleren Ebene, d.h. zwischen der Einzelfallbeschreibung und der allgemeinen Gesellschaftstheorie bzw. zwischen Deskription und Theorie (Reese-Schäfer 1996, S. 379; Schimank/Volkmann 2000, S. 14f.), c) sie besitzen einen Gestaltungsanspruch, da mit Gesellschaftsdiagnosen meist die Vorstellung der Therapie verbunden ist (Reese-Schäfer 1996, S. 379; Schimank/Volkmann 2000, S. 18), d) sie richten sich an die breite Öffentlichkeit, während die soziologische Gesellschaftstheorie nach innen, an die Fachöffentlichkeit, gerichtet ist (Bogner 2012, S. 13). Sie sind deshalb als Gattung der öffentlichen Debatte zu verstehen und weisen deshalb Ähnlichkeiten zu den Merkmalen der Nachrichtenselektion auf, z.B. die Dramatisierung der Entwicklung (Peters 2007, S. 168f.; Osrecki 2011). Sekundäre Charakteristika von Gesellschaftsdiagnosen sind, 1 Im angloamerikanischen Kontext ist die Abgrenzung von Gesellschaftsdiagnose und Gesellschaftstheorie auch unüblich (Bogner 2012). Zur Theorie der soziologischen Gesellschaftsdiagnose 305 dass sie ein „spekulatives Element“ enthalten, weshalb sie sich erst in der Empirie bewähren müssen (Reese-Schäfer 1996, 382; Schimank und Volkmann 2000, S. 17, 20; Bogner 2012, S. 10). Die Pluralität der gesellschaftlichen Entwürfe, d.h. das Nebeneinander verschiedener Diagnosen in der „Diagnosegesellschaft“ wird dabei als theoretisches Problem des Genres betrachtet (Schimank/Volkmann 2000, S. 14; Osrecki 2011). Im folgenden wird der Schwerpunkt auf die ersten drei der genannten Kriterien der Gesellschaftsdiagnosen gelegt, da, wie Bernhard Peters (2007, S. 169) anmerkt, der Kontrast zwischen öffentlichem und akademischen Diskurs möglicherweise übertrieben dargestellt wird. Auch im akademischen Diskurs kann man die Wirkung von „Nachrichtenwerten“ erkennen, z.B. bei soziologischen Krisentheorien. Eine stärkere Diffusion der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse ist zudem nicht nur für das Genre der Gesellschaftsdiagnose, sondern für soziologisches Orientierungswissen generell charakteristisch (Schimank/Volkmann 2000, S. 19). 2. Konzepte der soziologischen Theorie 2.1 Max Webers „historisches Individuum“ Weber (1988) benutzt den Begriff des „historischen Individuums“ erstmals in der „Wissenschaftslehre“.2 Was versteht er darunter? Das Interesse der Sozialwissenschaft richtet sich für Weber (1988, S. 172f.) generell auf „die individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten, Zusammenhange“. Die Bedeutung dieser „Kulturerscheinung“, wie er es nennt, hängt für den Menschen aber von dem jeweiligen Wertbegriff ab (Weber 1988, S. 175), Den Begriff des „historischen Individuums“ verwendet er dabei synonym mit dem der “Kulturerscheinung“. Nur ein Teil derWirklichkeit ist dabei von Bedeutung, da es allein um die „‚wesentlichen‘ Bestandteile eines Geschehens“ geht (Weber 1988, S. 178). Methodisch wird das „historische Individuum“ durch den Idealtypus beschrieben. Dieser ist für Weber (1988, S. 190, 191) eine „gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit“ bzw. die „einseitige[] Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte“. Alexander von Schelting (1934), ein Schüler von Weber, siedelt den Idealtypus deshalb zwischen dem Einzelfall und der Theorie, auf einer mittleren Ebene, an, da dieser ein „Doppelgesicht“ besitzt. Es können aber mehrere solcher Idealtypen entworfen werden, da sie auf unterschiedlichen Wertideen beruhen 2Dieser Begriff ist bereits in die Debatte zur Gesellschaftsdiagnose eingeführt worden (Kruse 1994, 1999). Er ist auch noch allgemein charakteristisch für die „historische Soziologie“ der Weimarer Zeit, wird jedoch in der folgenden soziologischen Diskussion kaum noch aufgegriffen und in den einschlägigen Fachlexika nicht mehr erwähnt (Kruse 1994, 1999, S. 271). 306 O. Neun (Weber 1988, S. 192). An deren Konstruktion ist auch die „an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie“ beteiligt (Weber 1988, S. 194), weshalb sie nur als heuristisches Mittel zu verstehen sind und sich erst an der Empirie bewähren müssen (Weber 1988, S. 190, 193). 2.2 Karl Mannheims „principia media“ Mit seinem Werk beeinflusste Weber auch Karl Mannheim, der z.B. eine nicht veröffentlichte Monographie zu Weber verfasste. Mannheim (1951) wird in Deutschland jedoch meist als Wissenssoziologe und nicht als Gesellschaftstheoretiker rezipiert, obwohl der Begriff der Gesellschafts-„Diagnose“ auf dessen Werk „Diagnose unserer Zeit“ zurückgeht (Osrecki 2011, S. 70).3 Auch in den deutschsprachigen Sammlungen seiner Arbeiten sind, anders als in den USA, keine Abschnitte aus seinen Werken wie „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbruchs“ oder „Diagnose unserer Zeit“ enthalten, die nach 1945 in Deutschland noch eine breite Aufmerksamkeit erfahren (Mannheim 1935, 1951, 1964, 1971; Blomert 1999). Mannheim (1935, S. 130) behandelt in diesen Untersuchungen aber theoretisch das Problem der Gesellschaftsdiagnose und übernimmt dafür den Begriff der „principia media“ von John Stuart Mill.4 Darunter versteht er Zusammenhänge, „die nicht in jeder Gesellschaft wirksam sind, sondern den besonderen Charakter einer bestimmten gesellschaftlichen Gestalt [Hervorhebung v. Autor] bestimmen“, d.h. sie sind „eine Art von regulierenden Sondergesetzen, Sonderzusammenhängen einer bestimmten historischen Phase in einem sozialen Sonderraume“ (Mannheim 1935, S. 119, 130).5 Sie sind zudem für diesen Sonderraum „konstitutiv“ (Mannheim 1935, S. 130). Die Theoriekonstruktion sollte sich für Mannheim auf diese „principia media“ konzentrieren. Er will damit zwar „die wirkliche Struktur der Gesellschaft“ erfassen (Mannheim 1958, S. 271, 1935, S. 143),6 die Aussagen sind jedoch als Hypothesen zu betrachten: „Die Bestimmung 3 4 5 6 Volker Kruse (1999, S. 80) weist aber darauf hin, dass „im Zentrum soziologischen Denkens und Forschens“ Mannheims die Zeitdiagnostik steht. Er behandelt jedoch nur Mannheims Begriff der „historischen Konstellation“, nicht den der „principia media“ und auch nicht seine späteren Zeitdiagnosen (Kruse 1994, 1999, S. 135). Möglicherweise ist Mannheim (1935, S. 130) über Morris Ginsbergs (1934) Werk „Sociology“ auf Mill aufmerksam gemacht worden (Loader 1985, S. 235). Ginsberg (1934, S. 20) führt dort zu Mill aus: “The fundamental problem is to find the laws of sequence, or rather to combine the statical with the dynamical in such a way that we should be able to ascertain what changes in a given part of society are correlated with changes in other parts. Such laws, Mill thought, if discovered, would give us the middle principles or axiomata media of sociology.” Mill gebraucht den Begriff aber „principia media“ aber nicht, sondern spricht dagegen von „axiomata media“ bzw. „middle principles“ (Kettler et al. 1984, S. 125). Mannheim (1935, S. 130) wendet sich damit explizit gegen Geschichtsphilosophien etwa in Form der historischen Dialektik. Mannheim beansprucht mit seiner Idee der „principia media“ auch auf die gesellschaftliche Entwicklung zu reagieren (Ganßmann 1996, S. 209). Die neue Methode ist für ihn z.B. nötig, weil „das bloße Nebeneinander abstrakt konstruierter Einzeldinge und die Anhäufung von lediglich partiell kontrollierten Verfahren und Institutionen nicht mehr reibungslos funktioniert“ und sich der „durchorganisierte Verwaltungsapparat einer industriellen Großgesellschaft“ entwickelt hat (Mannheim 1958, S. 201, 207). Zur Theorie der soziologischen Gesellschaftsdiagnose 307 ihrer Bedeutung beruht zunächst auf Schätzungen, die aber durch den weiteren Gang der Entwicklung weitgehend verifiziert oder widerlegt werden können.“ Die Beschreibung der “principia media“ ist daher „beweisbar bzw. widerlegbar“ (Mannheim 1935, S. 143). Die „principia media“ sind auf einer mittleren Ebene anzusiedeln: „Principia media sind letzten Endes allgemeine Kräfte in konkreter Verklammerung, wie sie sich aus der lokalen Konstellation und der einmaligen Entwicklung verschiedener Wirkreihen integrieren. Sie sind also einerseits immer noch weiter auf die in ihnen enthaltenen allgemeinen Prinzipien reduzierbar (weshalb die vorher geschilderte Abstraktionsleistung nicht überflüssig wird). Sie sind aber andererseits in ihrer konkreten Verklammerung, wie sie uns in einer bestimmten Phase der Entwicklung entgegentreten, festzuhalten und in ihrer Sonderkonstellation zu betrachten.“ (Mannheim 1935, S. 131)7 Als konkretes Beispiel für solche „principia media“ nennt er die Unterscheidung zwischen Konkurrenz- und liberalem Kapitalismus (Mannheim 1935, S. 135). Eine Struktur besteht aus mehreren „principa media“, wobei jedoch eine Rangordnung zwischen ihnen besteht (Mannheim 1935, S. 144).8 Ein interdependenter Wandel dieser „principa media“ führt dann zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel (Mannheim 1935, S. 139, 143). Methodisch fordert er für deren Untersuchung einen Methodenmix von qualitativen und quantitativen Instrumenten (Mannheim 1935, S. 141). Die Analyse sollte für ihn dabei damit beginnen zu sehen, was strukturrelevant ist, und danach ein „Vergleichen, Aufeinanderbeziehen, Zusammenschauen und Konkretisieren“ stattfinden (Mannheim 1935, S. 201, 202). Es sieht zwar bei der Vorgehensweise das Risiko eines „intuitiven Zugriffes“, das Ergebnis wird für ihn aber der empirischen Kontrolle zugänglich (Mannheim 1935, S. 202). Die Verbindung von Diagnose und Planung bzw. Gestaltung wird bei ihm dadurch deutlich, dass er meint, dass eine Ausrichtung auf allgemeine Prinzipien und nicht auf die „principia media“ dann problematisch wird, „wenn die Gesellschaft anfängt, ihre Ganzheit bewußt zu produzieren“ (Mannheim 1935, S. 125). Die Analyse der „principia media“ ist jedoch gerade für die Politik von hoher Bedeutung: „Den principia media gegenüber gibt es nicht jene freie Disposition, sondern nur eine richtige Strategie, nach der man mit oder gegen ihre Wirkrichtung schwimmt und handelt, je nach den glücklichsten Angriffsstellen, die sich dem planenden Willen bieten.“ (Mannheim 1935, S. 151) Deshalb haben sie einen methodologischen Doppel- 7 8 Für Mannheim (1935, S. 200f.) folgt daraus eine Ablehnung der Entwicklung eines „System[s[ der Soziologie”, da er den Begriff des Systems von dem der Struktur unterscheidet. Es befürwortet dagegen, wie Weber, eine Verbindung von Theorie und Empirie: “Genuine sociological empiricism can never consists of piecemeal observation but must always include theoretical reconstruction of the nature of the whole process as well as an emphasis on petty details.” (Mannheim 1950, S. 26) Mit diesem mehrdimensionalen Modell grenzt sich sich Mannheim (1935, S. 143) vom „Ökonomismus“ des Marxismus ab. 308 O. Neun charakter und sind „not simply a tool for the interpretation of historical forces but also for their manipulation“ (Loader 1985, S. 235).9 2.3 Robert K. Mertons „middle-range-theory“ Robert K. Merton, der wiederum an Weber und Mannheim anknüpft, ist ebenfalls nicht als Gesellschaftstheoretiker bekannt, da er sich in seinen Arbeiten auf die „middle-range-theories“ konzentriert. Diese besitzen für ihn folgende Merkmale (Merton 1968, S. 39-44): a) sie sind empirisch testbar, b) sie sind nicht von einer „großen Theorie“ abgeleitet, aber mehr als ein empirische Generalisierung, c) sie sind mit verschiedenen Systemen der soziologischen Theorie kombinierbar, d) sie behandeln Elemente der Sozialstruktur, sind also keine konkrete historische Beschreibung, womit sie einen Mittelweg zwischen „großer“ Theorie und Historismus gehen. Mertons (1968, S. 40, 60, 64) eigene Beispiele für „middle-range-theories“ sind zwar u.a. seine Referenzgruppen-Theorie, die auf einer Meso-Ebene zu verorten ist, er betont aber ausdrücklich die Verbindung der „middle-range-theory“ zur Makrosoziologie und bezeichnet z.B. die Differenzierungstheorie ebenfalls als „middle-range-theory“. Explizit nennt er auch Mannheims „principia media“ und Webers Werk „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ als Vorbilder für diese Form von Theorie (Merton 1968, S. 58, 68). Zudem sind sie, wie die „principia media“ Mannheims, insbesondere zur Gestaltung bzw. zur Anwendung gedacht (Sampson 2010). 3 Rezeption der Konzepte Diese Konzepte wirken in der Folge auf andere Gesellschaftsdiagnostiker. Alexander von Schelting z.B. ist Lehrer von Daniel Bell (1973), der sein späteres Modell der „Wissensgesellschaft“ ausdrücklich als „Idealtypus“ bezeichnet. Mertons Idee der „middle-range-theory“ wiederum beeinflusst David Riesman (1950) und Helmut Schelsky (1959). Auch C. Wright Mills (1963, S. 91f., 199) erinnert an die deutsche historische Tradition u.a. von Max Weber und bezieht sich explizit auf Mannheims Begriff der „principia media“: „Es gibt keine ‚große Theorie’, kein 9 Die Verbindung zwischen Diagnose und Gestaltung hebt auch Heiner Ganßmann (1996, S. 210f.) hervor: „Auf der Suche nach (eventuell erst herzustellenden) hohen Graden der Interdependenz und Kohärenz zwischen verschiedenen sozialen Sphären kann nur die Ausarbeitung von principia media das Wissen bereitstellen, das für umfassende Planung erforderlich ist.“ Zur Theorie der soziologischen Gesellschaftsdiagnose 309 universelles Schema, mit dessen Hilfe wir die Einheit der Sozialstruktur begreifen könnten, und keine Antwort auf das verschlissene Problem einer immerwährenden sozialen Ordnung.“ Man kann dagegen für ihn einzig die „principa media“ erfassen (Mills 1963, 199).10 C. Wright Mills (1963) beeinflusst im Gegenzug neuere deutsche Gesellschaftsdiagnostiker wie Wolfgang Streeck (2013) oder Klaus Dörre et al. (2009). Letztere verweisen z.B. explizit auf Mills und fordern ebenfalls eine „soziologische Gesellschaftsdiagnostik“, da eine „Kritische Theorie der (kapitalistischen) Gesellschaft systematisch an eine empirisch fundierte soziologische Zeitdiagnose rückgebunden werden muss“ (Dörre et al. 2009, S. 12).11 4 Ansätze zu einer Theorie der Gesellschaftsdiagnose Wenn man die genannten Konzepte der soziologischen Theorie zusammenfassend mit der eingangs aufgeführten Bestimmung der Gesellschaftsdiagnose vergleicht, kommt man aber zu folgenden Übereinstimmungen: Für Weber soll das historische Individuum eine gesamte Epoche bzw. Gesellschaft beschreiben, wobei aufgrund der Wertbindung verschiedene Fassungen, d.h. eine Pluralität der Gesellschaftsdiagnosen denkbar sind. Das methodische Werkzeug dafür ist der Idealtypus, der wie Gesellschaftsdiagnosen auf einer mittleren Abstraktionshöhe angesiedelt ist (Merkmale der Gesellschaftsdiagnose: a und b). Bei dessen Konstruktion sind spekulative Elemente enthalten, weshalb er wie Gesellschaftsdiagnosen mit der Empirie konfrontiert werden muss. Auch Mannheim will mit den principia media Gesamtgesellschaften beschreiben und sie liegen ebenfalls auf einer mittleren Ebene zwischen Empirie und allgemeinen Gesetzen. Stärker als Weber hebt er aber den Gestaltungsanspruch und den Öffentlichkeitsbezug der Gesellschaftsdiagnosen hervor (Merkmale der Gesellschaftsdiagnose: a, b, c und d).12 Die Bildung der principia media enthält zudem wie Gesellschaftsdiagnosen intuitive Anteile, weshalb sie sich an der Wirklichkeit bewähren müssen. Darüber hinaus finden sich bei Mannheim methodische Angaben zur Gesellschaftsanalyse, z.B. zu der Notwendigkeit qualitativer Methoden, weshalb sich bei ihm die umfassendsten Parallelen zu den Merkmalen der Gesellschaftsdiagnose zeigen. 10 Auch den gesellschaftlichen Wandel beschreibt Mills (1963, S. 199) in Anlehnung an Mannheim: „Der historische Wandel ist ein Wandel der Sozialstrukturen und der Beziehungen zwischen ihren Komponenten.“ 11 Für sie ist die Pluralität ihrer Ansätze ebenfalls kein prinzipielles Problem, da die unterschiedlichen Sichtweisen eine „produktive Komplementarität“ ergeben (Dörre et al. 2009, S. 13). 12 Letzterer Punkt ist in dem hier nicht behandelten Werk von Mannheim „Diagnose unserer Zeit“ stärker entwickelt, in der er die „soziologische Bewußtheit“ der Bürger und Bürgerinnen als wichtig für die Demokratie ansieht. Er meint auch an anderer Stelle, dass, wenn die Soziologie die Aufgabe der Gesellschaftsdiagnose nicht erfüllt, diese Funktion von Laien, den „amateur theorists“ übernommen wird, die jedoch wissenschaftliche Ergebnisse ignorieren (Mannheim 1950, S. 31). 310 O. Neun Aber auch Mertons middle-range-theory ist für die Beschreibung von Gesamtgesellschaften geeignet und liegt auf einer mittleren Theorieebene. Zudem ist diese zur Anwendung bzw. Gestaltung gedacht (Merkmale der Gesellschaftsdiagnose: a, b und c). Die Übereinstimmungen sind zwar kleiner als bei Mannheim, diese Parallelen sind dennoch von Bedeutung, weil sie zeigen, dass die Gesellschaftsdiagnose kein besonderes Genre ist, sondern unter andere „middlerange-theories“ subsumiert werden kann. 5Fazit Innerhalb der soziologischen Theorie liegen Konzepte vor, die zur Theorie der Gesellschaftsdiagnose herangezogen werden können und die bereits von Gesellschaftsdiagnostikern rezipiert wurden, was die strikte Unterscheidung von Gesellschaftsdiagnose und -theorie in Frage zu stellen und damit das Genre innerhalb des Faches zu legitimieren hilft. Gesellschaftsdiagnosen könnten dann auch, wie von Ute Volkmann (2014) in Anlehnung an Michael Burawoy (2007) vorgeschlagen wurde, zwischen der „professionellen“ und der „öffentlichen Soziologie“ und nicht wie bisher allein in der „öffentlichen Soziologie“ verortet werden. Literatur Bell, Daniel. 1973. The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting. New York: Basis Book. Blomert, Reinhard. 1999. Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit. München: Hanser. Bogner, Alexander. 2012. Gesellschaftsdiagnosen. Ein Überblick. Weinheim: Beltz Juventa. Burawoy, Michael. 2007. Public Sociology. In: Public Sociology. Fifteen Eminent Sociologists Debate Politics and the Profession in the Twenty-first Century, hrsg. v. Dan Clawson, Robert Zussmann, Joya Misra, Naomi Gerstel, Randall Stokes, Douglas L. Anderton und Michael Burawoy, 23-64. Berkeley: University of California Press. Dörre, Klaus, Stephan Lessenich, und Hartmut Rosa. 2009. Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ganßmann, Heiner. 1996. Die Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Soziologie bei Franz Oppenheimer, Karl Mannheim und Adolph Lowe. In: Franz Oppenheimer und Adolph Lowe. Zwei Wirtschaftswissenschaftler der Frankfurter Universität, hrsg. v. 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Neun Oliver Neun war Leiter des DFG-Forschungprojektes „Die Entwicklung der deutschen ‚öffentlichen ­Soziologie‘ von 1945 bis 1989“ und ist derzeit Privatdozent der Soziologie an der Universität Kassel. Habilitation zum Thema „Daniel Bell und der Kreis der ‚New York Intellectuals‘“. E-Mail: [email protected]