Universität Bayreuth 28.11.2005 Physik Didaktik Angewandte Fachdidaktik II Leitung: Dr. S. Weber Referent: P.Suter Trägheit 1. Bei der Behandlung der Themen lineare und kreisförmige Bewegungen müssen Sie mit Alltagsvorstellungen (Präkonzepten) der Schüler rechnen, die nicht im Einklang sind mit den physikalischen Konzepten zur Trägheit. Erläutern Sie drei unterschiedliche Alltagsvorstellungen von Schülern im Zusammenhang mit Bewegungen! 2. Begründen Sie, weshalb im Physikunterricht das Eingehen auf Alltagsvorstellungen von Schülern zu physikalischen Sachverhalten wichtig ist! 3. Skizzieren Sie eine Unterrichtseinheit zum Thema "Trägheitssatz" (1. Newtonsches Axiom)! Gehen Sie hierbei besonders auf Lernvoraussetzungen, Feinziele und Experimente ein! Formulieren Sie schülergemäß wichtige Ergebnisse der Unterrichtseinheit! 4. a) Geben Sie zeichnerisch die Kräfte an, die auf einen Körper wirken, der sich mit konstanter Geschwindigkeit einen Hang hinauf bewegt! b) Ein Skifahrer (m = 70 kg) wird von einem Schlepplift gleichförmig einen Skihang Neigung 30 Grad hinaufgezogen. Welche Kraft übt der Bügel auf den Skifahrer aus? (Hinweise: Gleitreibungskoeffizient Ski - Schnee = 0,1. Es wird angenommen, dass die durch den Schleppliftbügel ausgeübte Kraft parallel zum Hang wirkt.) 1. Bei der Behandlung der Themen lineare und kreisförmige Bewegungen müssen Sie mit Alltagsvorstellungen (Präkonzepten) der Schüler rechnen, die nicht im Einklang sind mit den physikalischen Konzepten zur Trägheit. Erläutern Sie drei unterschiedliche Alltagsvorstellungen von Schülern im Zusammenhang mit Bewegungen! Um Aufgabe 1 ohne Missverstände zu beantworten, möchte ich den Begriff des Präkonzepts (Alltagsvorstellung) nochmals erläutern. Hierunter versteht man im didaktischen Sinne inkomplette Kenntnisse und Vorerfahrungen eines bestimmten Gebietes. Ein Präkonzept muss nicht unbedingt falsch sein. Viel mehr besteht das Problem darin, dass sie als allgemeingültig angesehen werden. Das es sich aber oft um Spezialfälle handelt wird selten wahrgenommen und das Wissen ohne Nachzudenken auf neue Sachverhalte angewandt. Eine Aufgabe des Lehrers besteht darin, diese Präkonzepte herauszufinden und bestenfalls mit ihnen zu arbeiten. Präkonzepte aus dem Gebiet der Bewegungen : 1) Das wohl häufigste Präkonzept : Bewegungsrichtung entspricht der Kraftrichtung Ein Test von D. Nachtigall macht dieses Präkonzept sehr schön deutlich. Zeichnen Sie jeweils an den Punkten A – D die wirkende/n Kraft/e ein. A C B D Es wurden verschiedene Gruppen von 11.Klasse GK Physik bis hin zu Physik im Nebenfach studierender befragt. Im Mittel hatten über 80% falsche Aussagen getroffen. Diese Fehlvorstellung führt im Gebiet der Kreisbewegungen dazu, das die Zentripetalkraft oft schwer verstanden wird. Der Drang die Kraft entlang der Kreisbahn wirken zu lassen ist groß. 2) „Ein sich bewegender Körper benötigt eine Antriebskraft.“ Aus der Alltagserfahrung heraus weiß der Schüler, dass für die Bewegung z.B. eines Autos immer eine Kraft benötigt wird. Dass es sich hierbei um die Kompensation von Reibungsverlusten verschiedenster Art handelt, versteht er jedoch nicht. Wird dieses Wissen in die Schulphysik mit eingebracht, so wird es dem Schüler in der idealisierten Schulphysik, in der Reibung sehr lange vernachlässigt wird sehr schwer fallen logische Vorraussagen über Bewegungen zu treffen. Beispiel: Auf einen Körper wirkt eine konstante Kraft von 1 N. Die Reibung ist zu vernachlässigen. Beschreiben sie qualitativ seine Bewegung . Eisblock F1 v =? Eis 3) „Ein Körper auf den keine resultierende Kraft wirkt ist in Ruhe.“ Dieses Präkonzept entsteht aus dem Vorangegangenen. Im Umkehrschluss wird nicht verstanden, das ein Körper der in Bewegung ist, keine Kraft benötig um diese weiter zu führen. Es besteht die Meinung das ein sich bewegender Körper der keine Kraft erfährt, irgendwann zum Stillstand kommen muß. Beispiel: Konstante Geschwindigkeit Eine Kugel wird von 3 Kräften beeinflusst. Zwei davon sind bereits eingezeichnet. Tragen sie die dritte Kraft ein, sodass sich die Kugel mit konstanter Geschwindigkeit weiterbewegt. F1 F2 v = const 2. Begründen Sie, weshalb im Physikunterricht das Eingehen auf Alltagsvorstellungen von Schülern zu physikalischen Sachverhalten wichtig ist! Präkonzepte bestimmen das Lernen von Physik in der Schule. Sie bestehen aus selbst erstellten Theorien und Vorstellungen. Sieht oder erfährt man etwas neues, werden diese Dinge in alte bekannte Vorstellungen bzw. Denkmuster integriert. Wo aber liegt die Problematik, ist das doch die normale Denkweise des Menschen ? Das Problem liegt darin, wie ungern solche selbstentwickelten Vorstellungen und Denkmuster abgelegt werden. So sieht der Schüler bei Experimenten nur das was er erwartet bzw. was er ohnehin schon weiß. Die vom Lehrer für wichtig gehaltenen Aspekte also das eigentliche Ziel des Versuch wird übersehen. Das Lernziel ist nicht erreicht worden.. Schlimmstenfalls sehen die Schüler sogar ihre falschen Vorstellungen bestätigt und stärken deren vermeintliche Richtigkeit. Deshalb ist es enorm wichtig das der Lehrer den Stand (Lernvoraussetzungen) und die kognitiven Konflikte der Schüler erkennt. Dies passiert am besten im Dialog in dem der Lehrer die Lernschwierigkeiten erkennen kann und geeignete Maßnahmen zur Lösung ergreift. Im Dialog ist es wichtig die fachliche Richtigkeit zu wahren auch wenn dies oft nur mit dem Verweiß auf den späteren Unterricht realisiert werden kann. Deutlich werden muss aber, das die vom Schüler gegebene falsche Vorstellung so nicht stehen bleiben kann. Im späteren Unterricht muß der Sachverhalt dann so reduziert werden, das der Schüler weder verunsichert noch überfordert wird. Hier liegt die große Kunst des guten Unterrichts. Wird das Vorwissen hier nicht beachtet und einbezogen, kann sehr leicht die Motivation, das Interesse am Fach und somit die Grundlage der Wissensvermittlung zerstört werden. Daher muss die Devise lauten: Erst herausfinden wo die Fehlvorstellungen des Schülers liegen, ihn von eben diesen lösen um abschließend ein Verständnis für den Sachverhalt zu schaffen. Der Weg hin zum Verständnis sowie dieses selbst, ist deshalb so enorm wichtig, da nur durch Verstehen des Prozesses der Schüler in der Lage ist eigenständig, richtige Vorhersagen zu treffen. Versteht der Schüler nicht, wird er auf seine alten, oft falschen Vorstellungen zurückgreifen. Die Präkonzepte konnten nicht ausgeräumt werden. An diesem Punkt passiert etwas Elementares. Da der Physikstoff in der Schule aufeinander aufbaut wird dem Schüler keine Basis vermittelt, d.h. das neuer Stoff nur sehr schwer verstanden wird. Hier entstehen die o.g. Lernschwierigkeiten. Es bildet sich ein Kette bestehend aus Misskonzepten, Lustlosigkeit und dem Verlust des Interesses am Fach. 3. Skizzieren Sie eine Unterrichtseinheit zum Thema "Trägheitssatz" (1. Newtonsches Axiom)! Gehen Sie hierbei besonders auf Lernvoraussetzungen, Feinziele und Experimente ein! Formulieren Sie schülergemäß wichtige Ergebnisse der Unterrichtseinheit! Lernvoraussetzungen Das Kraft eine Richtung und eine Größe hat muss klar sein. Der Begriff der Beschleunigung muss bekannt sein. Rechengesetze auf dem Gebiet der konstanten Beschleunigungen sollten vorhanden sein. Die Formel F = m*a ist verstanden. Feinziele Die Schüler sollen FZ 1 : Beispiele der Trägheit nennen können FZ 2 : die Bedeutung des Begriffs Trägheit anschaulich beschreiben können. FZ 3 : einsehen , dass Trägheit nur Massenabhängig ist. FZ 4 : einsehen, dass Trägheit Geschwindigkeitstunabhängig ist. FZ 5 : fähig sein Tabellen auswerten zu können. FZ 6 : die Trägheit als Eigenschaft eines Körpers verstehen. Artikulation Ausgangssachverhalt Problemfrage Lehrerverh. Ein Tischtuch mit Teller und Tasse und unter diesen schnell weggezogen. Teller und Tasse bleiben stehen Der Versuch mit Hängendem Buch wird vorgeführt (siehe Anhang). "Was wird passieren ?" Lehrer fragt nach Beobachtungen Schülerver. Überleitung zuhörend, verfolgend spekulieren : "dünnes Seil reißt ". "Dickes Seil reißt". Verfolgend Die Gegenstände wollen der Bewegung nicht folgen. Wenn zu schnell gezogen wird, bewegt sich das Buch nicht mit Meinungsbildung Notieren der genannten Größen an der Tafel Versuchsplanung Lehrerexperi ment Frage unterricht, erarbeitend Unterrichtsge spräch, erarbeitend Unterrichtsge "Suppe schwappt aus dem spräch Teller". Wenn Auto stark beschleunigt wird ich in FZ1 den Sitz gedrückt Die genaue Erklärung des Tuch und Buchversuchs wollen wir mal zurückstellen und erst mal untersuchen was Trägheit genau ist und wovon sie abhängt Wovon könnte dieses Verhalten der Körper abhängen ? Feinziel Lehrerdemo/d arbietend Wiederholt richtige Antworten und ergänzt : "Anscheinend lassen sich Gegenstände ungern beschleunigen. Diese Eigenschaft heißt Trägheit." Kennt ihr ähnliche Beobachtungen aus eurem Alltag ? Lehrform Von der Masse","Von der Frage Größe","Von der Kraft die unterricht, auf den Körper wirkt". Von erarbeitend der Geschwindigkeit darbietend Lasst uns einen Versuch machen um zu sehen welche Größen wirklich relevant sind Lehrer zeichnet den Versuch an die Tafel (TA1). Er fragt einen Schüler was passieren wird und welche Größen man verändern könnte. Dann bittet "Der Wagen wird schneller werden", "Man könnte er jemanden den Versuch mehr Gewichte auflegen" aufzubauen. Unterrichtsge spräch, erarbeitend Unterrichtsge spräch, erarbeitend, Sicherung Artikulation Lehrerverh. Versuchsdurch führung Schüler führen den Versuch durch. Der Wagen wird schrittweis erschwert und bei gleicher zurückgelegter Strecke, die Zeit gemessen Schülerexperiment Versuchsauswertung Gesetzt 2. Experiment Versuchsauswertung Motivation Versuch Was heißt das in euren eigenen Worten ? Schülerver. "Ein schwere Körper ändert unwilliger seine Bewegung" , Ein schwerer Körper zeigt weniger Wirkung als ein leichterer bei gleicher Kraft. Weiterführen der (TA1). Durch Auswertug der Größen a =2*s/t² und a= F/m soll klar Übernehmen der werden, dass die Trägheit nur von der Masse abhängt Tafelanschrift ins Heft Lehrer erklärt kurz die Modifikation (Siehe Anhang) des zweiten Versuch.Wieder wird die Zeit gemessen und eine Tabelle erstellt Durch Vergleichen der Endgeschw. Und der Beschl. Soll deutlich werden das Trägheit Geschw. Unabhängig ist. Zusammenfassen der Eigenschaften der Trägheit Was passiert wenn ich auf einen sich Bewegenden Körper keine Kraft mehr auswirke ? Abstimmen. Lehrer führt Versuch mit Luftkissenbahn durch Was beobachtet ihr ? Hatte euer Mitschüler recht ? Kann mir das jemand physikalisch korrekt ausdrücken ? Warum hält dann ein Auto in der Realität an, wenn man vom Gas geht ? Lehrform Feinziel moderierend Sicherung, Unterrichts gespräch FZ 2 TA Erarbeitung und Sicherung FZ 3 FZ 5 TA Erarbeitung und Sicherung Weiterführen des Hefteintrages TA Sicherung, Unterrichts gespräch Hefteintrag 1 zu ende schreiben FZ 4 FZ 5 fragend, impuls gebend "Er wird langsamer" Nein, hatte er nicht. Er bleibt gleich schnell Ein Körper auf den keine Kraft wirkt, ändert auch nicht seine Bewegung ! fragend, (Überprüfen ob Fehlvorstell. Ausgeräumt ist) Artikulation Gesetzt Rückkehr zur Erlebniswirklichkeit Rückkehr zum Ausgangsversuchen Hausaufgaben Lehrerverh. Schülerver. Lehrform Folie mit Axiom Sicherung, Unterrichts 1. Newtonsches Axiom wird Ergänzen des Hefteintrags gespräch angeschrieben. Frage Kann mir jemand erklären unterricht, warum ihr euch beim Sichernd Autofahren deshalb unbedingt anschnallen sollt ? Evtl. Vorführen wie Gewichte auf dem Waagen auf der Luftkissenbahn runtergeschleudert werden Diskussion Jetzt wissen wir was Trägheit (prüfen ob ist. Kann jemand eine Trägheit Erklärung für das Verhalten verstanden der Gegenstände in unseren ist) Anfangsversuchen geben ? Lehrer teilt dann Ausführliche Erklärung aus Lehrer teilt Blatt mit darbietend Kontrollfragen aus Feinziel FZ 6 Die Trägheit TA1 Versuchsaufbau 1: Skizze Kraftmesser m S = 100cm S0 SE Motor mit konst. Kraft 1. Experiment Wertetabelle: Messung Masse in g Zeit in sec 1 2 350 3 450 4 550 5 650 750 Auswertung : Fg = 0,1 N , s = 100cm Mit v = a*t ; a = 1 2*s ( wegen s = * a * t ² ) folgende Tabelle ausgefüllt werden. 2 t² Tabelle: Messung a in cm/s² v in cm/s 1 2 3 4 5 Experiment 1a) Wir wiederholen den 1. Versuch. Machen aber eine Änderung. Wir beginnen unsere Zeitmessung nicht beim Startpunkt wo der Wagen noch in Ruhe ist sondern starten unsere Messungen immer dann wenn unser Auto eine Geschwindigkeit von 10 cm/sec hat. Also hat jeder Wagen die gleiche Geschwindigkeit. Ansonsten bleibt alles gleich. Diese Startpunkte habe ich für euch daheim schon ausgerechnet und sind: Messung Masse in g s0 in cm Zeit t in sec a in cm/s² v in cm/s v = 1 2 * a * s + v 02 2 3 350 7 ; a= 450 9 4 550 11 5 650 13 v − v0 t Ergebnisse des 1. und 2. Versuchs in Worten : • • • Der Wagen beschleunigt langsamer je schwerer er ist. Der Wagen hat eine geringere Endgeschwindigkeit je schwerer er ist. Trotz Anfangsgeschwindigkeit ändert sich die Beschleunigung und somit die Geschwindigkeit am Ort SE nicht. Folgerungen: 1. Die Trägheit hängt nur von der Masse des Körpers ab. 2. Die Trägheit hängt nicht von der Geschwindigkeit des Körpers ab Versuch 2 Skizze: Gewicht Gummi v = const. Schlitten Gummi Luftkissenbahn 750 15 Ergebnis aus Versuch 2: 1. Newtonsche Axiom Ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung auf geradliniger Bahn. In Abwesenheit äußerer Kräfte setzt ein Objekt, das sich in Bewegung befindet diese ewig fort Das bedeutet, dass ein Körper der in Bewegung ist, keine Kraft benötigt damit er in Bewegung bleibt. Man braucht aber sehr wohl eine Kraft um seine Geschwindigkeit oder seine Richtung zu ändern. Kontrollfragen : • Wie groß ist die Trägheit einer 2 kg Masse die sich mit 5m/s bewegt im Vergleich zu einer 1 kg Masse, die sich mit 10m/s bewegt? • Ein 4.0-kg schwerer Körper bewegt sich über eine reibungslose ebene Fläche mit einer konstanten Geschwindigkeit von 2 m/s. Welche der folgende horizontalen Kräfte ist notwendig , damit der Körper in Bewegung bleibt? a) 0 N b)0.5 N c) 2.0 N d) 8.0 N e) hängt von der Geschwindigkeit ab. • Die Trägheit hängt von der Geschwindigkeit des Körpers ab; je schneller, umso größer die Trägheit. Richtig oder falsch? • Überprüft ob ich die Startpunkte der Messungen aus Experiment 1a) richtig berechnet habe. Modifikation für Experiment 2 F in N Masse Wagen in g zusatzgewicht in g Masse in g 0,1 300 50 350 0,1 300 150 450 0,1 300 250 550 0,1 300 350 650 0,1 300 450 750 a in cm/sec² 28,57 22,22 18,18 15,38 13,33 v ende in cm/s 75,59 66,67 60,30 55,47 51,64 2,65 3,00 3,32 3,61 3,87 7 9 11 13 15 t in sec wenn Vo=20cm/s dann S =....cm 20 Literatur : - Dr. S.M. Weber - Didaktik der Physik Umfrage zum Kraftbegriff Testblatt zu Fachdidaktik I - H. Joachim Schlichting - Unterrichtspraxis Die List der Trägheit - Nachtigall, Dieter 1987, 8. Skizze in : Skizzen zur Physikdidaktik S.144ff. Anhang ~ ~ Die List der Trägheit von H. }oachim Schlichting Phänomene Beim Gießen der Topfblumen entdecken wir zuweilen vergilbte Blätter. Wir möchten sie am liebsten mit der noch freien Hand entfernen. leider sitzen sie häufig so fest, dass man die ganze Blume auseinanderreißen oder den Topf umkippen würde. Da hilft nur ein Trick: Das Blatt wird mit einem kräftigen Ruck abgerissen. Bevor die Pflanze "merkt" , dass an ihr gezogen Wird, ist es auch schon um ihr Blatt geschehen. Beim Jäten des Löwenzahn wollen wir jedoch das Gegenteil erreichen: Die Pflanze mit der gesamten langen Wurzel aus dem Erdreich herausziehen: "Ein Löwenzahn klammert sich mit einem Fächer dicht aufeinanderliegender Zackenblätter fest an der Erde: wenn man am Stängel zieht, behält man ihn in der Hand, während die Wurzeln fest in der Erde haften. Man muss mit einer kreisenden Handbewegung das ganze Gewächs erfassen und behutsam die Wurzelfasern aus dem Erdreich ziehen" (1. Calvino: Herr Palomar). Versuch Ein schweres Buch wird an einem verhältnismäßig kräftigen Faden aufgehängt. An das Buch wird ein dünner, deutlich schwächerer Faden gehängt (Abb. 1). Was passiert, wenn man am dünnen Faden zieht? Wie in den eingangs genannten "botanischen" Beispielen hängt das ganz davon ab, wie man zieht. Wenn man langsam und behutsam zieht, reißt schließlich nicht wie man vielleicht erwarten würde der dünne Faden, sondern der dicke. Der dünne Faden reißt jedoch, wenn man mit einem kräftigen Ruck zieht. Abschließend noch einige Tipps zur Präparation des Freihandversuchs. Der Erfolg des Versuchs hängt wesentlich davon ab, dass die unterschiedliche Reißfestigkeit .des oberen und unteren Fadens für die Schüler auf überzeugende Weise erkennbar ist. Ansonsten riskiert man eine unerfreuliche Diskussion über die Reißfestigkeit der Fäden. Als unteren dünnen Faden benutzten wir normales Nähgarn (0 0,15 mm). Doppelt genommen und verdrillt dient dasselbe Garn als oberer dicker Faden. WW man auf Nummer Sicher gehen, so demonstriert mim in einem entsprechenden Vorversuch, dass die benutzten Fäden bei verschiedenen Belastungen (mit geeigneten Gewichtstücken) reißen. In der Regel reicht es jedoch aus, einen dicken und.' dünnen Faden desselben Materials zu verwenden, wobei man sich den dickeren Faden notfalls durch Verdrillung zweier dünner Fäden herstellen kann. Im Unterricht bieten sich vor allem zwei Möglichkeiten an, das Experiment zu demonstrieren: 1. Der Versuchsaufbau ist in doppelter Ausfertigung vorhanden. Der Lehrer lässt ohne Kommentar einmal den dickeren und ein andermal den dünneren Faden reißen. (Dabei ist es wichtig, dass die (unterschiedliche) Versuchsdemonstration Erklärung Normalerweise reißt ein Faden, wenn die Zugkraft eine Dehnung über die Elastizitätsgrenze hinaus zur Folge hat. Das ist beim langsamen Ziehen (bei geeigneter Wahl der verwendeten Fäden) deshalb oberhalb des Buches am dicken Faden der Fall, weil zur Zugkraft die Gewichtskraft des schweren Buches hinzukommt. Beim ruckartigen Reißen' verhindert jedoch die Trägheit des Buches, dass es zu einer merklichen Dehnung des oberen Fadens kommt. Denn bei gegebener Zugkraft kommt ein Gegenstand um so langsamer in Bewegung (ist seine Beschleunigung um so kleiner), je größer seine Trägheit (bzw. Masse) ist. Die Trägheit "bremst" gewissermaßen die Übertragung der Kraft. Die Reißfestigkeit des unteren Fadens wird dagegen überschritten. Anmerkung zur Methodik Im folgenden wird unterstellt, dass die Schüler den physikalischen Begriff der Kraft bereits kennen gelernt haben. Durch den vorliegenden Freihandversuch können sie die Trägheit als fundamentale Eigenschaft der Masse eines Gegenstandes kennen lernen. Abb. 1: Wo reißt der Faden ab? NiU-Physik 2 (1991) Nr.10 16 (180) als gleich erscheint. Dies ist z. B. dadurch zu erreichen, dass man auch im Fall des langsamen Ziehens ein ruckartiges Reißen vortäuscht. Die Schüler werden aufgefordert, eine Erklärung für das nicht nur der physikalischen Intuition (Reproduzierbarkeit), sondern auch dem gesunden Menschenverstand wiedersprechende Phänomen zu geben. 2. Der Lehrer zeigt den Versuchsaufbau vor, indem er insbesondere auf die Abb. 2: Wie befördert man die Münze in die Flasche? unterschiedlichen Fadendicken hinweist. Er bittet die Schüler sodann, vorherzusagen, welcher der Fäden reißen wird, wenn man am unteren Faden mit hinreichender Kraft zieht Obwohl die naive Erwartung, dass der dünnere Faden reißen wird, auf der Hand liegt, wird es fast immer einige Schüler geben, die das Gegenteil voraussagen. Meiner Erfahrung nach lassen sich diese Schüler in der Regel nicht durch physikalische, sondern durch psychologische Motive der folgenden Art leiten: "Wenn Er so fragt, will Er sich sicher keine Selbstverständlichkeiten bestätigen lassen. Es muss daher NiU-Physik 2 (1991) Nr.1O gerade das Unerwartete richtig sein!" Diese Schüler haben aber meist keine auch nur halbwegs zutreffende Idee einer Erklärung. Aber selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintritt, dass die Mehrzahl der Schüler das Reißen des dicken Fadens prognostiziert, hat der Lehrer es immer noch im wörtlichen Sinne "in der Hand", durch ruckartiges Ziehen den dünnen Faden zum Reißen . zu bringen. Wie dem auch sei. Es kommt darauf an, wenigstens das Gros der Schüler in Erstaunen zu versetzen, um sie auf diese Weise zu motivieren, nach einer physikalischen "Antwort" auf die in Form des Freihandversuchs gestellte "Frage" zu suchen. Nachdem eine solche Motivation nach der 1. oder 2. Versuchsalternative gelungen ist (oder auch nicht), wird man auf die "Technik" des Ziehens zu sprechen kommen, in der ja das physikalische Prinzip enthalten ist. Dieses kann etwa in der folgenden vorläufigen Form zum Ausdruck gebracht werden: Offenbar wird eine um so größere Kraft auf das ruhende Buch ausgeübt, je schneller (Schnelligkeit des Ziehens) man es in Bewegung setzen, bzw. beschleunigen will. Dann übersteigt diese Kraft die Grenze der Reißfestigkeit des dünnen Fadens, bevor das Buch und damit der dickere Faden merklich ausgedehnt wird: man erreicht die Grenze der Reißfestigkeit des dicken Fadens gar nicht erst. Um die Bedeutung dieses "Trägheitsprinzips". zu erweisen, sollten anschließend möglichst viele Alltagserfahrungen diskutiert werden, in denen das Trägheitsprinzip eine ähnliche Rolle spielt wie in dem vorliegenden Versuch. Zum Beispiel: Ähnlich wie beim eingangs erwähnten Blätterzupfen macht man beim Kirschenoder Apfelpflücken von Trägheit Gebrauch, wenn man etwa auf der Leiter stehend nur eine Hand zum Pflücken freihat. Erinnert sei hier auch an das Kunststück, die Tischdecke eines gedeckten Tisches so unter den Gedecken wegzuziehen, dass diese unter nur leichten Erschütterungen auf ihrem Platz bleiben. Aber auch folgende unangenehme - weil das Trägheitsprinzip missachtende Erfahrungen gehören hierher: Jemand läuft mit hoher Geschwindigkeit gegen eine halb geöffnete Tür und holt sich dabei eine Beule: Trotz großer Krafteinwirkung wird die Tür dadurch kaum aus der Ruhe gebracht. Die Tür lässt sich andererseits mit nur geringer Kraftanstrengung öffnen, wenn man weniger hektisch vorgeht. Im Winter beobachtet man zuweilen, wie ein Auto durch ein anderes angeschoben wird: Das schiebende Auto drückt behutsam die vordere Stoßstange gegen die hintere Stoßstange des anzuschiebenden Autos. Die Schubkraft wird hier der Trägheit des Autos entsprechend "dosiert". Würde man die Stoßstangen mit großer Kraft aufeinanderprallen lassen, so hätte man es nicht mehr mit einem Anschieben, sondern mit einem Auffahrunfall zu tun. Dass nicht nur feste Körper träge sind, sondern auch ansonsten leicht bewegliche Flüssigkeiten, erfährt man beispielsweise durch die. schmerzhafte Wirkung eines "Bauchklatschers" beim missglückten Kopfsprung ins Schwimmbecken. Solche Beispiele eignen sich, auf einen weiteren Aspekt der Trägheit aufmerksam zu machen. Bislang wurde das Augenmerk auf den "Widerstand" eines ruhenden Körpers gerichtet, in Bewegung gesetzt zu werden. Interessiert man sich hingegen für den bewegten Körper, der sich anschickt, den Ruhezustand eines anderen zu stören, so erfährt man einen anderen Aspekt der Trägheit: Bewegte Körper "möchten" in Bewegung bleiben. Daher die Beulen bei den obigen Zusammenstößen. Dieser Aspekt lässt sich aber leichter an Beispielen der folgenden Art erkennen: auf dem Beifahrersitz eines Autos liegt ein Stapel Schulbücher. Das Auto bremst, die Schulbücher "fahren" weiter und landen auf der Fußmatte des Beifahrersitzes. Der Unterricht könnte etwa mit der folgenden Aufgabe (ggf. Hausaufgabe) abgeschlossen werden: Eine Münze liegt auf einem Blatt Papier, das seinerseits auf der Öffnung einer Milchflasche liegt (Abb. 2). Die Aufgabe besteht darin, die Münze in die Flasche hineinzutransportieren. Dabei darf nur das Papier angefasst werden. (181) 17