1. Einleitung Fragen und Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit sind nahezu allgegenwärtig, denn seit es Menschen gibt – und überall dort, wo sie in einer Gruppe zusammenkommen – sind sie eine notwendig auszuhandelnde Angelegenheit. Soziale Gerechtigkeitsfragen weisen eine immerwährende Aktualität auf, die je nach Ort, Kultur und Zeitgeist etwas variierende Gegenstände hat. Die ersten umfassenden schriftlichen Zeugnisse davon gehen auf Platon und dessen Schüler Aristoteles zurück und sind – obschon deren Gerechtigkeitsvorstellungen durch antike Strukturen geprägt waren – als Klassiker in die Geistesund Sozialwissenschaften eingegangen. Platon und Aristoteles sprachen jedoch noch nicht von sozialer Gerechtigkeit, wie wir den Begriff heute kennen und anwenden; dieser wurde viel später im 19. Jahrhundert von der christlichen Sozial­ ethik geprägt (vgl. Höffe 2005, S. 3; Ebert 2010, S. 74). „‚Soziale Gerechtigkeit‘, nicht die Sache, wohl aber das Wort, war etwas Neues, das erst um die Jahrhundertwende [vom 19. ins 20.] in unseren Sprachgebrauch eindrang; wie alles Neue mußte sie um ihre Anerkennung, um ihr Daseinsrecht ringen“ (Nell-Breuning, v. 1980, S. 340). Wenngleich die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit sich heute großer Zustimmung sicher sein kann und als stets gültiges Ideal anerkannt wird, ist sie jedoch keineswegs endgültig ausbuchstabiert, und so herrschen die unterschiedlichsten Vorstellungen davon, durch welche Prinzipien sie sich konstituiert und wie sie auszugestalten sei (vgl. Ebert 2010, S. 15). Gerechtigkeitsfragen resultieren meist aus Problemstellungen, die gegenwärtig in Entgrenzungen der Moderne (vgl. Thiersch 2006, S. 33), der Pluralisierung von Lebensbedingungen und -lagen, einer hohen Erwerbslosigkeit, leeren Staatskassen, dem Umgang mit steigenden Migrationszahlen und wachsenden Schieflagen im Bildungssektor begründet liegen.Die staatliche Reaktion auf knappe Kassen besteht im Bereich der Sozialpolitik in einer „Aktivierung“, das heißt in einer Zuschreibung größerer Selbstverantwortlichkeit der BürgerInnen. Für die Soziale Arbeit, deren Zielgruppe sich aus Personen zusammensetzt, welche von besagten Problemstellungen betroffen sind, ergeben sich damit neue Herausforderungen. „Gerade in Zeiten knapper öffentlicher Kassen sind die öffentlichen Kostenträger sozialarbeiterischer Leistungen und Projekte bestrebt, die Selbsthilfeorientierung stärker als zuvor einzufordern. Je schneller hilfsbedürftige Personen wieder ohne Hilfe auskommen, desto effizienter (also kostengünstiger, wirtschaftlicher) erscheint Soziale Arbeit“ (Kleve 2006, S. 114). Zu der 7 Erschöpfung finanzieller (Förder-)Mittel des Sozialstaats und dem damit einhergehenden Effektivitätsdruck gesellen sich Anstrengungen um Anerkennung und die Überwindung ihres Rufes als soziale „Handlangerin“, der lediglich eine Zuarbeiterfunktion für den Staat und andere Disziplinen und Professionen zukomme. Soziale Arbeit hat es „in der Regel mit Problemen zu tun, die die anderen Professionellen nicht, nicht mehr oder noch nicht bearbeiten können. […] Genau dies kennzeichnet einen Aspekt der Postmodernität Sozialer Arbeit: Diese Profession sprengt die modernen Prinzipien der Spezialisierung und Differenzierung zugunsten von Generalismus und Entdifferenzierung. Denn nur so kann sie die Probleme bearbeiten, die ihre Entstehung notwendig gemacht haben, nämlich jene Probleme, welche die Moderne mit ihrem Fortschreiten und auf Grund ihrer Logiken immer wieder produziert, ohne dass sie selbst nachhaltige Lösungen anbieten kann“ (Kleve 2006, S. 113; Herv. im Original). Damit sieht sich Soziale Arbeit zweierlei Problematiken gegenüber: sowohl einem Ökonomisierungs- und Effektivitätsdruck, als auch einem Identitätsdruck. Um sich dem entgegenzusetzen, benötigt die Soziale Arbeit eine gute begründungstheoretische Fundierung und adäquate Handlungsoptionen. Bezogen auf ihre AdressatInnen hat sie „entweder die Möglichkeit, sich für die weitere Etablierung einer Mitleidsökonomie und vermehrter Disziplinierungsstrategien vereinnahmen zu lassen. Oder sie problematisiert im Sinne einer professionellen Reflexivität diese systematischen Verkürzungen und kämpft um alternative Perspektiven, deren Ziel eine Erweiterung oder zumindest Öffnung von bisher nicht zugänglichen Handlungsmöglichkeiten der AdressatInnen sein sollte“ (Kessl/Klein/Landhäußer 2012, S. 546). In diesem Zusammenhang gewinnt eine Orientierung an den Ressourcen der AdressatInnen an Bedeutung (vgl. Kleve 2006, S. 114). Befähigung ist einer der aktuellen theoretischen Schlüsselbegriffe und steht für den Einbezug und die Stärkung der AdressatInnen zu mehr Handlungsfähigkeit und Autonomie. Der Capability Approach, ein gegenwärtig diskutiertes Gerechtigkeitskonzept, eint in seiner theoretischen Perspektive Befähigung unter den verschiedenen Aspekten von sozialer Gerechtigkeit, Autonomie, Menschenwürde, Chancen und Zugängen. Verschiedenen Bedürfnissen und Lebenslagen begegnet der Capability Approach mit dem Anspruch einer Befähigungsgerechtigkeit. Kann der Capability Approach einen Impuls geben für die gegenwärtige Übergangsphase der Sozialen Arbeit, die durch sozialstaatliche Aktivierungspolitik gekennzeichnet ist? Kann der Capability Approach Leerstellen bisheriger Gerechtigkeitskonzepte ausfüllen? Und kann der Capability Approach zu einer Fundierung und Verbesserung der Handlungskompetenz der Sozialen Arbeit in Bezug auf individuelle Befähigung beitragen? 8 Diesen Fragen geht die vorliegende Arbeit nach und klärt zunächst konzeptuelle und begriffliche Grundlagen des Capability Approach. Vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit – und in Abgrenzung zu „traditionellen“ Gerechtigkeitsideen – soll der Capability Approach anschließend daraufhin geprüft werden, welche Maßstäbe und Impulse er für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit liefern kann. Dabei sollen charakteristische Eigenschaften herausgestellt werden, die vor allem den Befähigungsaspekt in den Blick nehmen. 9 2. Der Capability Approach Der Capability Approach wird im folgenden Kapitel als zentraler theoretischer Anker dieser Arbeit vorgestellt. Er kann als gerechtigkeitstheoretisches Konzept verstanden werden, das einen unverstellten Blick auf die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse richten und jedem Menschen ein im – wie darzustellen sein wird – aristotelischen Sinne gutes Leben zu ermöglichen beabsichtigt. Der Capability Approach sieht dabei klassischerweise die jeweilige politische Organisationsform als Trägerin der sozialen Verantwortung für die BürgerInnen einer Gesellschaft vor, damit diese ein gelingendes Leben führen können; er nimmt Menschen jedoch auch als handelnde Subjekte wahr, die eigene, individuelle Vorstellungen und Lebensentwürfe verfolgen. Ausgangsbasis der Überlegungen, was ein als gut empfundenes Leben begünstigt, ist im Capability Approach die Möglichkeit der Realisierung von Lebensentwürfen und nicht – wie herkömmlicherweise häufig von Gerechtigkeitstheoretikern proklamiert – ausschließlich das ausreichende Vorhandensein oder die gerechte Verteilung materieller Güter (Dabrock 2008, S. 17ff; Heinrichs 2008, S. 58). Der Capability Approach hat in den letzten Jahren auch in die Erziehungswissenschaft Einzug gehalten und wird dort vielfach diskutiert und zunehmend theoretisch rezipiert, wie eine Vielzahl an aktuellen Publikationen zeigt. Die Beschäftigung mit einer Gerechtigkeitstheorie liegt somit für die Soziale Arbeit neben ihren gegenwärtigen Umbrüchen auch angesichts der Tatsache nahe, dass sie sich hauptberuflich auch mit sozial schwächer gestellten Mitgliedern der Gesellschaft beschäftigt. Gerechtigkeit steht zweifelsohne – wie in der Einleitung bereits angeschnitten – immer in Zusammenhang mit dem Zusammenleben von Menschen einer Gesellschaft. Und da ein breiter Konsens darüber besteht, dass eine gerechte Gesellschaft sich an ihren „schwächsten“ Mitgliedern bewährt (vgl. Dabrock 2008, S. 37), liegen die Gründe auf der Hand, sich aus Sicht der Pädagogik bzw. Sozialen Arbeit näher mit dieser Thematik beschäftigen zu wollen (vgl. Babic et al. 2011, S. 8). Der Einfachheit halber wird der Capability Approach bzw. der CapabilitiesApproach in den folgenden Ausführungen mit CA abgekürzt. Dies ist auch insofern von Nutzen, da es – sowohl im deutsch- als auch im englischsprachigen Raum – keine einheitliche Festlegung des Begriffes gibt.1 1 Amartya Sen bezeichnet seinen Ansatz als Capability Approach, Nussbaum ihren dagegen als Capabilities Approach. Am Ende des in den CA einführenden Kapitels 11 2.1 Einführung Der CA stellt den Versuch dar, einen normativen Rahmen zu formulieren, mit dessen Hilfe Aussagen über Gerechtigkeit gemacht werden können (vgl. Otto/ Schrödter 2009, S. 181). Dafür wird nicht, wie herkömmlicherweise oft lediglich die Verfügbarmachung materieller Güter, sondern vielmehr eine umfassende Befähigung der Mitglieder einer Gesellschaft zu einem gelingenden Leben, und damit einhergehend ihre individuellen Voraussetzungen, dieses zu realisieren, in den Blick genommen. „Die Maßeinheiten herkömmlicher Theorien wie Ressourcen, Grundgütern oder Nutzen berücksichtigen nicht die ungleichen Fähigkeiten von Personen, die entsprechenden Güter in gelebte Freiheiten umzusetzen. Mit der Einführung der Maßeinheit Befähigungen werden diese Ungleichheiten überhaupt erst Bestandteil der Analyse sozialer Zustände“ (Heinrichs 2008, S. 58). Der CA wird auch als „Befähigungsgerechtigkeitsansatz“ (Dabrock 2008, S. 18) oder „Befähigungsansatz“ (Heinrichs 2008, S. 55ff) bezeichnet. Es macht an dieser Stelle Sinn, eine kurze Begriffsklärung zu Befähigung vorzunehmen. Schlägt man im Duden das Wort Befähigung nach, so erhält man folgende Erläuterung: „das Befähigtsein, Eignung, Tauglichkeit; Begabung“ (Duden 1989, S. 218). Etwas passender für diesen Kontext erscheint die Definition von befähigen: „ fähig machen, in die Lage versetzen, etw. zu tun“ (ebd., S. 218). Denn die Befähigung, die hier gemeint ist, soll eher im Sinne einer Bemächtigung, einer Selbstwirksamkeit oder auch im Sinne davon, jemanden in die Lage zu versetzen, etwas zu tun, verstanden werden. Im Gegensatz dazu könnte die erste Definition fälschlicherweise so aufgefasst werden, dass jemand für etwas tauglich gemacht werden solle. Empowerment und Agency im Sinne von Ermächtigung oder Handlungsfähigkeit sind pädagogische Schlagworte, die dem Begriff der Befähigung sehr nahe kommen. Sehr spannend ist – wie es der Arbeitstitel „Befähigen, befähigt werden, sich befähigen“ andeutet – die Frage, ob Befähigung (der Wortaufbau impliziert, dass Jemand jemanden befähigt) in- oder outputorientiert verstanden werden muss. Sprich: kann ich nur befähigt werden und jemanden befähigen, oder kann ich mich selbst befähigen? Es wird angestrebt, im Laufe der Arbeit eine Antwort darauf zu finden. Später wird noch genauer erläutert werden, warum Befähigung ein zentraler Bestandteil des CA ist. wird versucht werden, diesen Unterschied zu erklären (vgl. dazu Dabrock 2008, S. 23f, Fußnote). 12