Guillain-Barré-Syndrom - Engelhardt Lexikon Orthopädie und

Werbung
PDF 00879
Engelhardt (Hrsg.)
Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie
Guillain-Barré-Syndrom
drucken
PDF
Synonyme
Polyradikulitis; Idiopathische entzündliche Polyradikuloneuropathie
Englischer Begriff
Guillain-Barré syndrome; Guillain-Barré polyneuritis; Acquired postinfectious polyneuropathy; Acquired
ascending spinal paralysis; Idiopathic neuritis
Definition
Akute entzündliche, meist demyelinisierende Polyradikuloneuritis.
Pathogenese
Die Erkrankung wird wahrscheinlich durch eine Infektion mit Viren (Zytomegalie, Varicella Zoster, Masern,
Mumps, Hepatitis, HIV) oder Bakterien wie Campylobakter jejuni, Salmonellen, Shigellen, Brucellen,
Spirochäten erzeugt. Häufig werden vorausgegangene gastrointestinale oder pulmonale Infekte berichtet. Das
Krankheitsbild tritt aber auch nach Schwangerschaft, Trauma oder Operation auf.
Inzidenz: 1–2 : 100.000; Geschlechtsverhältnis Männer : Frauen ca. 1,5 : 1. Häufigkeitsgipfel in der zweiten
und dritten Lebensdekade, zweiter Häufigkeitsgipfel in der fünften und sechsten Lebensdekade. Pathogenetisch
liegen dem Krankheitsbild entzündliche Infiltrate von Makrophagen und Lymphozyten in den Markscheiden der
Spinalwurzeln, den Spinalganglien und den peripheren Nerven vor. Zunächst tritt eine Demyelinisation auf,
später ist auch eine axonale Schädigung nachzuweisen.
Symptome
Im Vordergrund stehen motorische Defizite, dennoch klagen die Patienten häufig über leichte Parästhesien und
Hypästhesien der Akren. Typischerweise nehmen die Paresen über Tage bis wenige Wochen zu; sie beginnen
distal an den unteren Extremitäten, breiten sich im Verlauf nach proximal und auf die oberen Extremitäten aus.
Die Muskeleigenreflexe sind früh abgeschwächt bzw. erloschen. Kommt es zu einer Hirnnervenbeteiligung, ist
der N. facialis in 50 % der Fälle, der N. vagus in 15 %, der N. trigeminus in 10 %, der N. accessorius in 8 %,
die Nn. oculomotorius, trochlearis und abducens in 8 % und der N. hypoglossus in 5 % betroffen. In 5–15 %
der Fälle tritt eine Ateminsuffizienz ein. Sensibilitätsstörungen können bei sorgfältiger Untersuchung und
Anamnese in bis zu 80 % der Fälle nachgewiesen werden. Ebenso finden sich häufig Schmerzen im Sinne von
ziehenden Schmerzen in der Lumbalregion und den Extremitäten. Auch autonome Störungen treten in über
50 % der Fälle auf: 50 % der Patienten zeigen eine Bradykardie, 3 % eine Sinustachykardie, 15 %
Arrhythmien, 30 % eine labile arterielle Hypertonie, 14 % eine arterielle Hypotonie, 15 % Blasenstörungen,
14 % Obstipation, 10 % Hyperhydrose.
Diagnostik
Anamnese und neurologische Untersuchung: aufsteigende Paresen bei erloschenen Muskeldehnungsreflexen.
Lumbalpunktion und Liquoruntersuchung: Erhöhung des Proteins (bei 50 % der Patienten erst nach einer
Woche nachweisbar), Zellzahl < 10 (bis 50) pro ml (zytoalbuminäre Dissoziation). Cave: Bei wiederholter
Lumbalpunktion besteht die Gefahr der Reizpleozytose!
Labor: Anti-GM1-Antikörper, Anti-GM2-Antikörper, Anti-GQ1B-Antikörper (bei Verdacht auf Müller-FischerSyndrom), Campylobakter-jejuni-Serologie, Virusantikörper.
Neurographie: herabgesetzte Nervenleitgeschwindigkeiten, erhöhte distal motorische Latenzzeiten, proximaler
Leitungsblock (Radikulitis!), erhöhte F-Wellen-Latenzzeit, später oft Potentialdispersion, multiple Leitungsblöcke;
bei axonaler Form erniedrigte Amplituden, prognostisch schlechtes Zeichen.
file:///D|/RAW_TEST/all_pdf_drafts/to014660.html[12.10.2010 07:11:05]
PDF 00879
Elektromyographie: geringe pathologische Spontanaktivität als Zeichen der begleitenden axonalen Läsion bei
demyelinisierendem Guillain-Barré-Syndrom, ausgeprägte Spontanaktivität bei vorwiegend axonaler
Schädigung.
Elektrokardiographie: Rhythmusstörungen, Reizleitungsstörungen.
Spirometrie: Messung der Vitalkapazität; Erniedrigung weist auf beginnende Ateminsuffizienz hin.
Test der autonomen Funktionen: z. B. Herzfrequenzvariabilität.
Bildgebung durch Magnetresonanztomographie bei atypischem Verlauf bzw. zum Ausschluss einer
Rückenmarkkompression.
Differenzialdiagnose
Stoffwechsel: Porphyria acuta intermittens, Hypo- bzw. Hyperkaliämie.
Medikamentös bzw. intoxikationsbedingt: Amiodaron, Disulfiram, Organophosphate, Lösungsmittel,
Schwermetalle.
Andere neurogene Erkrankungen: critical illness polyneuropathy, chronisch inflammatorische demyelinisierende
Polyneuropathie (CIDP), Vaskulitis, Poliomyelitis, Borreliose, Tollwurt, HIV, Herpes-zoster- und Herpes-simplexInfektionen, Querschnittsmyelitis, Nonne-Froin-Syndrom im Rahmen einer Rückenmarkkompression,
Polyneuropathie.
Sonderformen des Guillain-Barré-Syndroms:
Müller-Fischer-Syndrom-Trias: zerebelläre Ataxie, Areflexie und Ophthalmoplegie, häufig Anti-GQ1B-Antikörper
positiv.
Polyneuritis cranialis: Paresen und Ausfälle betont und isoliert an den Hirnnerven.
Elsberg-Syndrom: Paresen und Ausfälle isoliert oder betont im Bereich der Cauda equina mit
Sphinkterstörungen, stets Bildgebung zum Ausschluss einer Raumforderung veranlassen. Liquordiagnostik muss
unbedingt eine Untersuchung auf maligne Zellen enthalten, da das Elsberg-Syndrom häufig bei der Meningeosis
vorkommt.
Akute Pandysautonomie: Störung der Pupillomotorik, Speichel-, Tränen-, Schweißdrüsensekretion,
Darmmotilität, Miktion und Sexualfunktionen mit orthostatischer Hypotonie, verminderter
Herzfrequenzvariabilität; Verlauf analog zum Guillain-Barré-Syndrom, keine gesicherte Therapie.
Akute motorische axonale Neuropathie (AMAN, vor allem in Asien und Südamerika vorkommend), akute
motorisch-sensible axonale Neuropathie Amsan: Hierbei ist die Nervenleitgeschwindigkeit F-Wellen-Latenz DML
normal, jedoch besteht eine erhebliche Amplitudenreduktion. Der Verlauf ist analog zum Guillain-BarréSyndrom, die Therapierbarkeit ist schlechter und die Prognose ungünstiger.
Therapie
Stationäre Aufnahme des Patienten mit EKG-Monitoring.
Akuttherapie
Beispielsweise Plasmapherese bei drohender Ateminsuffizienz.
Medikamentöse Therapie
Indikation zur Immunmodulation mit intravenöser IgG-Gabe oder Plasmapherese bei frühzeitigen und
deutlichen Ausfällen, alternativ Immunadsorption. Bei intravenöser Gabe von Immunglobulinen werden 400 mg
pro kg Körpergewicht pro Tag an fünf aufeinanderfolgenden Tagen gegeben. Plasmapherese: Extrakorporale
Plasmaseparation bzw. -austausch gegen Albumin. In einer Sitzung werden jeweils ca. 50 mg Plasma pro kg
Körpergewicht ausgetauscht. Insgesamt werden fünf bis sieben Sitzungen alle zwei bis drei Tage durchgeführt.
Bei Progredienz des klinischen Verlaufs kann eine Therapie im Wechsel beider Verfahren erwogen werden. Eine
primäre Sequenztherapie war den Einzeltherapien bisher statistisch nicht überlegen.
Immunadsorption: Selektive Entfernung der Immunglobuline durch speziell beschickte Säulen, bisher weniger
verbreitet. Weniger Komplikationen als bei der Plasmapharese, da Gerinnungsfaktoren erhalten bleiben.
Kortikoide sind unwirksam.
Therapie autonomer Störungen: bei arterielle Hypertonie eventuell Sedativa, Analgetika, Nifedipin; bei
Tachykardie Propranolol; bei persistierender Bradykardie Ipratropiumpromid.
Operative Therapie
file:///D|/RAW_TEST/all_pdf_drafts/to014660.html[12.10.2010 07:11:05]
PDF 00879
Passagerer Schrittmacher bei Bradykardie.
Bewertung
Zu Beginn der Erkrankung meist rasche Progredienz der Paresen, Maximum der Paresen bei 50 % der Patienten
in der ersten Woche, bei 80 % nach zwei Wochen, bis zu 90 % nach drei Wochen. 25 % der Patienten
benötigen eine Intensivtherapie; die Plateauphase erstreckt sich meist über zwei bis vier Wochen trotz
Therapie. 15 % der Patienten behalten schwere Defizite zurück. Faktoren für einen ungünstigen Verlauf sind ein
Alter über 60 Jahre, eine rasche Progredienz bis zum Vollbild sowie Ateminsuffizienz und axonale Beteiligung.
Die Mortalität durch kardiopulmonale Komplikationen beträgt ca. 3 %. Es konnte bisher keine Überlegenheit der
Plasmapherese gegenüber der intravenösen Immunglobulingabe bewiesen werden.
Nachsorge
Rehabilitation, Physiotherapie.
Autor
Iris Reuter
file:///D|/RAW_TEST/all_pdf_drafts/to014660.html[12.10.2010 07:11:05]
Herunterladen