MANAGEMENT Serie „Selbstführung und Führung“, Teil 27 Der fünfdimensionale Generalist Wirtschaftsingenieure werden als Generalisten verstanden, so vom Verband deutscher Wirtschaftsingenieure e.V. (VWI) und auch von den TUs. Was bedeutet das? Im Folgenden werden in Anlehnung an Müller-Merbach (2001) fünf Dimensionen skizziert, in denen sich Wirtschaftsingenieure als Generalisten von Spezialisten unterscheiden. Die fünf Dimensionen repräsentieren in ihrer Gesamtheit ein Idealbild der (weiblichen und männlichen) Wirtschaftsingenieure. in idealer Wirtschaftsingenieur als Generalist sollte sich zumindest in den folgenden fünf Dimensionen durch eine breite (in diesen Fällen jeweils dreiteilige) generalistische Denkweise und Kompetenz auszeichnen: • Ein Wirtschaftsingenieur sollte die Welt nicht monodisziplinär nur aus der Sicht des technischen Fortschritts oder des wirtschaftlichen Wachstums oder des gesellschaftlichen Wandels wahrnehmen, sondern in dem ständigen Wirkungsverbund von technischem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wandel. • Ein Wirtschaftsingenieur sollte im Sinne Immanuel Kants (1724 – 1804) das eigene Handeln integrativ als „technisches“ Handeln, als „pragmatisches“ Handeln und als „moralisches“ oder „ethisches“ Handeln auffassen. E Haushalten (als staatlichen Institutionen) und den privaten Haushalten. • Ein Wirtschaftsingenieur sollte zwischen drei Bewusstseinsebenen unterscheiden können, der Ebene der Information, der Ebene des Wissens und der Ebene der Meinung. Im Folgenden werden diese fünf Dimensionen der Wirtschaftsingenieure als Generalisten ein wenig detaillierter betrachtet, nicht erschöpfend, nicht mit allen historischen Feinheiten, nicht mit der Detailsicht aller gegenseitigen Wirkungsprozesse, sondern zumindest in den wesentlichen Grundlagen. 1. Der ständige Wandel Jede Sozialgemeinschaft (z. B. jede Unternehmung und jede Nation) verändert sich laufend – mal schneller, mal langsamer. Für ganzheitliches Wahrnehmen der Veränderungen spielt „Tue im Leben nichts, was dir vermutlich das Verstehen des ständigen WirkungsAngst einflößen würde, wenn verbundes von technischem dein Nachbar davon erführe.“ Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und ge• Ein Wirtschaftsingenieur sollte die sellschaftlichem Wandel eine zentrale weltwirtschaftlichen Aktivitäten aus Rolle. Technischer Fortschritt liefert die globaler, geoökonomischer Sicht verste- Zündfunken für wirtschaftliches Wachshen, d.h. aus der Sicht der „Triade“, wie tum und bewirkt gesellschaftlichen sie von Ohmae (1985) entworfen wurWandel; wirtschaftliches Wachstum de, d. h. im wettbewerblichen Kräfteermöglicht die Finanzierung des technimessen zwischen Europa, Amerika und schen Fortschritts und stimuliert den Asien. gesellschaftlichen Wandel; gesellschaft• Ein Wirtschaftsingenieur sollte sich licher Wandel gibt Nachfrageimpulse für des interinstitutionellen Zusammentechnischen Fortschritt und motiviert spiels innerhalb jedes (insbesondere na- wirtschaftliches Wachstum. tionalen) Wirtschaftssystems bewusst Das kann man an vielfältigen Techsein, d. h. der Interdependenz zwischen nologien durchdiskutieren, z. B. an der den drei institutionellen Gruppierungen, Nachrichtentechnik, am Automobilbau, den Unternehmungen, den öffentlichen an der Computertechnologie (ein- Ein Wirtschaftsingenieur sollte im Sinne Immanuel Kants (1724 – 1804) das eigene Handeln integrativ als „technisches“ Handeln, als „pragmatisches“ Handeln und als „moralisches“ oder „ethisches“ Handeln auffassen. Bild: Andreas Toerl technologie &management 03/2011 41 MANAGEMENT schließlich Internet), an der „Pille“ usw. – eine ständige Denkaufgabe für Wirtschaftsingenieure. Das macht den Wirtschaftsingenieur aus: Er sieht nicht nur den technischen Fortschritt, nicht nur das wirtschaftliche Wachstum und nicht nur den gesellschaftlichen Wandel, sondern – als Generalist – den ständigen Wirkungsverbund zwischen diesen drei Dynamiken. Dieser Wirkungsverbund wurde auch thematisiert bei Geschka und MüllerMerbach (1999) und Müller-Merbach (1988, 1989, 2001, 2003) sowie vielen anderen Autoren der gesellschaftlichen Entwicklung. 2. Drei Arten des Handelns Der königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) hat zwischen drei Arten des Handelns unterschieden, dem technischen Handeln, dem pragmatischen Handeln und dem moralischen (oder: ethischen) Handeln. Diese Differenzierung ist von grundlegender Bedeutung. Kant betont aber selbst, dass technisches, pragmatisches und moralisches Handeln in der Praxis immer eine Einheit bildeten und nur idealtypisch zu trennen seien. • Technisches Handeln betrifft bei Kant nur den Umgang mit (seelenlosen) Gegenständen, d.h. mit Material, mit Maschinen, mit Produkten, mit Energie, mit Finanzmitteln, mit Information usw. Technisches Handeln erfordert in der Terminologie Kants „Geschicklichkeit“ und sei Gegenstand der „Wissenschaften“ und unterliege dem „problematischen Imperativ“ (z. B. die Konstruktion eines Getriebes oder das Programmieren eines EDV-Informationssystems). • Pragmatisches Handeln betrifft demgegenüber den Umgang mit Menschen, von denen jeder geprägt sei durch seine „Absicht auf Glückseligkeit“. Pragmatisches Handeln erfordere – so Kant – „Klugheit“ und sei Gegenstand der „Klugheitslehre“ als Teil der praktischen Philosophie. Pragmatisches Handeln unterliege dem „assertorischen 42 technologie &management 03/2011 Imperativ“, d. h. einer Orientierung an den beteiligten bzw. betroffenen Menschen. • Darüber steht bei Kant das moralische (bzw. ethische) Handeln. Es dient der „Sittlichkeit“ und erfordere „Weisheit“ als Gegenstand der „Weisheitslehre“, ebenfalls als Teil der praktischen Philosophie. Moralisches Handeln unterliege dem „kategorischen Imperativ“, etwa in Kants Formulierung: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Die drei Arten des Handelns bilden – einschließlich der drei Imperative – eine Hierarchie. An der Spitze steht das mo- 3. Die Triade Auf Ohmae (1985) geht die Orientierung an der „Triade“ zurück. Sie umfasst die drei geografischen „Kraftpole“ der Weltwirtschaft, nämlich Nordamerika, Europa und Südostasien. Hier entsteht die höchste Wertschöpfung, hier liegen die Wurzeln der technischen Innovationen, hier konzentriert sich das Kapital, hier ballen sich die Forschungsanstrengungen und -erfolge, hier findet auch die beste Ausbildung statt. Ferner sollte jedes Weltunternehmen in allen drei Regionen präsent sein. Die Wirtschaftskraft der TriadeRegionen verändert sich ständig. Zum einen kommen neue Länder hinzu, während andere Länder aus den Führungspositionen Der Wirtschaftsingenieur sieht verschwinden. Zum andeden ständigen Wirkungsverbund ren verschiebt sich das relative Gewicht zwischen zwischen den drei Dynamiken. den drei Regionen kontinuierlich. ralische Handeln mit dem „kategoriBeispielsweise war in der Anfangsschen Imperativ“. Die beiden anderen zeit der Triade-Diskussion Japan der InImperative werden von Kant auch als begriff der neuen Stärke aus der Region „hypothetische“ Imperative bezeichnet, Südostasien. Es kamen dann die sogedenn sie gelten nur unter der Hypothenannten „vier kleinen Tiger“ Asiens hinse, dass sie dem kategorischen Imperativ zu, nämlich Korea (Südkorea), Taiwan, folgen. Hongkong und Singapur. Im letzten Kant betont, dass kein Handelnder Jahrzehnt war es vor allem China, weleinzelne Ebenen der Verantwortung ches durch gewaltige Wachstumssprünausschalten könne. Keiner könne sich ge auf sich aufmerksam machte. Ferner z. B. allein auf die rationale Ebene des drängt heute Indien als ebenfalls auftechnischen Handelns zurückziehen, strebende Wirtschaftsmacht nach vorn. sondern trage bei jedem Handeln auch In Amerika haben einige Länder des die pragmatische Verantwortung für die südlichen Kontinents an Bedeutung gebetroffenen Personen und eine überge- wonnen, insbesondere Brasilien. Demordnete allgemeine moralische Verantgegenüber machen in den USA zwei gewortung. waltige Defizite zunehmend Probleme, Kants Dreiteilung des Handelns hat zum einen das Außenhandelsdefizit, insbesondere Hinske (1980, S. 89 – 98) zum anderen das Budgetdefizit und die intensiv aufgearbeitet. Ferner wurde damit einhergehende Zunahme der sie von Krupinski (1993, S. 8 – 27) und Staatsverschuldung. Müller-Merbach (1987/1995 und Europa schließlich ist eine Triade-Re2001, S. 8 – 9) vertieft und in die Begion mit großer Vielfalt: Viele Staaten, triebswirtschaftslehre einbezogen, sorg- viele Sprachen, viele Kulturen. Die zahlfältig auch von Schwaiger (1999, S. 113 reichen europäischen Vereinigungen – 141) aus der Sicht eines Philosophen begünstigen die Überwindung der analysiert. Nachteile der Vielfalt der (teilweise klei- MANAGEMENT ßen Länder Steuern ein, empfangen Einzahlungen einen systeund leisten Auszahlungen. Insbesondere Prof. em. Dr. Heiner matischen tragen sie zur Vermögensverteilung bei. Müller-Merbach, Vorsprung. • Die privaten Haushalte kaufen GüVergleicht ter (Waren und Dienstleistungen), nutTechnische Universität Kaiserslautern, thematisiert den Wirkungsverbund, man dagegen zen Infrastruktur, stellen (den Unternehin dem sich der Wirtschaftsingenieur nur die Promungen und öffentlichen Haushalten) bewegt. Kopf-Werte, Mitarbeiter zur Verfügung und nehmen hätten die dafür Löhne bzw. Gehälter ein, zahlen kleinen LänSteuern, verwenden ihre Einnahmen für der einen systematischen Vorsprung. Konsum und Sparen. Sie nutzen ihren nen) Staaten: die europäische Union, das Durch das (mathematische) Produkt Wohlstand. europäische Patentamt, der europäische neutralisieren sich beide Vorsprünge. Zwischen den drei Gruppen sollten Gerichtshof usw. Ob allerdings die euroBemerkenswert (eigentlich: beängstisich Gleichgewichte in Harmonie entpäische Währungsunion mit dem Euro gend) ist die dynamische Vorwärtsentwickeln. Ein Gegeneinander wäre dem als Gemeinschaftswährung ein nachhalwicklung von China mit rasch zunehGesamtsystem abträglich. Für die Reprätiger Stärkefaktor sein wird, ist gegenmendem RES-Niveau. sentanten innerhalb der drei Gruppen wärtig noch umstritten. Auch die Ansätempfiehlt sich daher eine Denkorientieze zur Vereinheitlichung des Bildungs4. Das intra-institutionelle rung am Ganzen. systems (die sogenannte „BolognaZusammenspiel innerhalb der Reform“) ist in ihren Auswirkungen in Wirtschaftssysteme 5. Führung im Sinne der hohem Maße fragwürdig. Jedenfalls organisationalen Intelligenz gehört die Vertrautheit mit der Triade, Bei der Betrachtung eines jeden (insbed.h. mit den Stärken und Schwächen der sondere nationalen) Wirtschaftssystems Seit über 20 Jahren wird viel von „BusiTriade-Regionen zu den Ausbildungszie- bietet sich eine institutionelle Dreiteiness Intelligence“, von der „intelligenten len von Generalisten. Dazu gehören auch lung an: Unternehmungen (als private Unternehmung“ und von „organizatiodie unterschiedlichen Sprachstrukturen, Institutionen), öffentliche Haushalte nal intelligence“ gesprochen. Was kenndie Religionen und die charakteristi(als staatliche Institutionen) und private zeichnet eine „intelligente Unternehschen Verhaltensweisen. Nützlich sind Haushalte. mung“? Oder: Was ist „organisationale dabei auch Kennzahlen zum quantitatiZwischen diesen drei Gruppen werIntelligenz“? ven Vergleich der Triade-Regionen und den Waren und Dienstleistungen ausgeTakehiko Matsuda (1993) hat in ihrer einzelnen Länder. Ein Paar an Vertauscht und Zahlungen als Gegenleisden 1980er Jahren den Begriff der „orgleichskennzahlen sind etwa die „Relati- tung vollzogen: ganisationalen Intelligenz“ in Japan neu ve Export-Stärke“ (RES) und die „Relatibelebt. Unter Bezug auf Mitve Import-Stärke“ (RIS) der einzelnen telstraß (1992) hat MüllerGeneralistisches Management Nationen, wie sie von Müller-Merbach Merbach (1995 und 2004) sollte auch Management von (2002, 2010) vorgestellt wurden. Ihre versucht, diesen Begriff mit Stärke liegt darin, dass sich große und der deutschen BetriebswirtMeinung einbeziehen. kleine Länder vergleichen lassen. Es schaftslehre zu verknüpfen. beruht auf folgender einfacher ÜberleHistorisch ist die Lehre der organisa• Die Unternehmungen produziegung: Große Länder exportieren (und tionalen Intelligenz (OI) in drei Stufen ren und verkaufen Güter (Waren und importieren) gewöhnlich mehr als kleiDienstleistungen), nehmen Infrastruktur gewachsen: nere Länder vergleichbaren EntwickZunächst gab es (ohne den OI-Bein Anspruch, beschäftigen Mitarbeiter lungsstandes. Demgegenüber exportie- und zahlen dafür Löhne bzw. Gehälter, griff zu verwenden) die unausgesproren (und importieren) kleinere Länder chene Übereinstimmung, dass die zahlen Steuern, investieren und betreipro Kopf mehr als große Länder verLeistungsfähigkeit einer modernen ben Wertschöpfung. Sie tragen damit gleichbaren Entwicklungsstandes. Das Unternehmung wesentlich durch ihre zum Wachstum des Wohlstandes bei. (mathematische) Produkt der AbsolutInformationssysteme mitgeprägt sei. • Die öffentlichen Haushalte kaufen zahlen und der Pro-Kopf-Zahlen ergibt Es entstanden dann in den 1980er Güter, stellen Infrastruktur zur VerfüRES (bzw. RIS). Würde man nur die Abgung, beschäftigen Mitarbeiter und zah- und 1990er Jahren viele Beiträge zum solutwerte vergleichen, hätten die gro„organisationalen Lernen“, zur „lernenlen dafür Löhne bzw. Gehälter, nehmen technologie &management 03/2011 43