Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ Hypotonie — Bedeutung und Wertung Hans Werner Kirchhoff Aus der Privatklinik „Sanatorium Nordrach" (Chefarzt: Professor Dr. med. Hans Werner Kirchhoff) Definition Systolische Blutdruckwerte unter 110 mmHg beim Mann und unter 100 mmHg bei der Frau sind die Kriterien der Begriffsbestimmung „Hypotonie". Der diastolische Blutdruckwert spielt bei der Festlegung dieses Begriffes nicht die entscheidende Rolle. Diese Meßwerte sind bis zu einem gewissen Grad willkürlich festgelegt. 80 Prozent der in dersogenannten Gaußschen Verteilungskurve zusammengefaßten Blutdruckmeßwerte werden als „normal" bezeichnet, etwa 7,5 Prozent an den Enden der Verteilungskurve werden als Grenzwerte, die verbleibenden als auffällig und abklärungswürdig bezeichnet. Die Grenzwerte zwischen Normotonie und Hypotonie sind fließend. Für Kinder und Jugendliche wurden entsprechende Alterstabellen entwickelt, denen auf Grund des unterschiedlichen Reifungsgrades jedoch keine Bedeutung zukommt, so daß viele Autoren für das Kindesalter keine Blutdruckgrenzen anerkennen. Methodik Die Blutdruckmessung sollte mit einem geeichten Erkameter (Quecksilber- oder Aneroid-Manometer) erfolgen unter Beachtung der von Krönig aufgestellten Krite54 rien (Tabelle 1). Dabei stellt ein nach 2 bis 3 Minuten im Liegen oder Sitzen gemessener Blutdruckwert ein sehr günstiges Mittelmaß aller alltäglich vorkommenden Druckwerte (sogenannter Gelegenheitsdruck) dar. Eine bestehende Blutdruckvariabilität ist abhängig von der Körperhaltung, von emotionellen Faktoren und insbesondere von tageszeitlichen Einflüssen. Das Tagesmaximum liegt in den Abendstunden und in den Morgenstunden zwischen 7 bis 10 Uhr. Für Langzeitstudien sowie die Erstellung von Blutdrucktagesprofilen ist neben der Angabe der Uhrzeit die Wahl des gleichen Armes wichtig, um Seitendifferenzen auszuschalten. Bemerkungen zur Physiologie Der arterielle Druck ist die Energie im Kreislauf, die wir benötigen, um unsere Organsysteme mit Blut zu perfundieren. Der Sollwert wird durch eine Führungsgröße im Kreislaufsystem festgelegt. Über eine negative Rückkopplung wird der Meßwert durch die Stellglieder Herz, Gefäße und Niere auf das vorgegebene Niveau eingestellt. Dieser Sollwert liegt bei der Hypotonie zu tief. Bei intakter Regelung — also geordneter Kreislaufregulation — erfolgt eine ausreichende Blutversorgung der Gewe- Hypotone Blutdruckwerte können sowohl Ausdruck einer zweckmäßigen und ökonomischen Kreislaufregulation als auch einer vegetativen Fehlsteuerung sein. Eine Hypotonie sollte nicht als Normvariante aufgefaßt werden. Untersuchungen in Geburtshilfe, Kinderheilkunde, Neurologie und Gerontologie zeigen, daß der Hypotonie auch ein Krankheitswert zuerkannt werden muß. be in Ruhe und unter den verschiedensten Belastungsbedingungen mit dem geringsten Arbeitsaufwand von seiten des Herzens und des Kreislaufs. Das Blutdruckverhalten ist dann in Ruhe, während und nach körperlicher Belastung im Stehen hypoton. Allerdings ist die „Bandbreite" des Reglers gering, d. h., Störmöglichkeiten können frühzeitiger und leichter auftreten und entstehen oft schon bei geringer Beeinträchtigung eines Funktionsgliedes. Sie betreffen vor allem den kranialen Perfusionsdruck und damit die Hirndurchblutung, bei einem Betroffensein kann diese den Hypotoniker leichter in eine kritische Situation bringen. Es besteht jedoch kein fester Zusammenhang zwischen der absoluten Höhe des Blutdrucks und dem subjektiven Wohlbefinden, d. h., absolute Höhe des Blutdrucks und subjektives Befinden korrelieren nicht miteinander. Der arterielle Blutdruck wird durch einen Regelkreis mit Rückkopplung über Meßfilter gesteuert. Fühler für Blutdruckveränderungen sind die Barorezeptoren, die vor allem im Aortenbogen und im Karotissinus lokalisiert sind. Diese reagieren auf Druckänderungen und übermitteln dem Kreislaufzentrum Impulse. Das Kreislaufzentrum kann auf verschiedene Weise in die Blutdruck- Heft 10 vom 11. März 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hypotonie regulation eingreifen, durch den peripheren Widerstand, über das Herzzeitvolumen, das von der Kontraktionskraft des Myokards und der Frequenz abhängt. Zusätzlich kann auch das aktive, zirkulierende Blutvolumen durch Einflußnahme auf den Venentonus und damit auf eine venöse Kapazität reguliert werden. Ein niedriger Blutdruck kann für ganz unterschiedliche Bedingungen typisch sein, er findet sich bei bestimmten vegetativen Einstellungen, bei endokrinen Erkrankungen wie neurologischen Zustandsbildern und kann durch unterschiedliche Einflüsse bedingt sein. So kann ein niedriger Blutdruck Ausdruck einer besonders ökonomischen und zweckmäßigen Kreislaufregulation sein. Als Folge intensiven Dauerleistungstrainings finden wir eine hypotone Ausgangslage bei Langstreckenläufern, bei Rennradfahrern als sogenannte „Reservestellung des Kreislaufs" (Reindell und Delius). Das Herz des Trainierten ist durch eine Erweiterung der Herzhöhlen vergrößert, die Herzfrequenz ist bradykard, das Herzminutenvolumen relativ gering. Die schon in Ruhe vermehrte Weitbarkeit des Herzens ermöglicht eine Zunahme der Restblutmenge. Der periphere Kreislauf ist durch eine bessere Sauerstoffausnutzung, einen geringen Blutdruckanstieg bei Belastung und eine Verkürzung der Erholungsphase in die regulatorische Umstellung mit einbezogen. Ein in Ruhelage niedriger Blutdruck kann auch Folge einer besonders zweckmäßigen Anpassung des Kreislaufs an veränderte Umweltbedingungen und Leistungsforderungen sein. So wird sie bei Unterernährten als Ausdruck einer sinnvollen Anpas- sung beobachtet und als sogenannte „Sparstellung des Kreislaufs" gewertet. Hämodynamisch findet sich eine Bradykardie, ein vermindertes Herzminutenvolumen bei gleichzeitiger Erhöhung des peripheren, Erniedrigung des elastischen Gefäßwiderstandes. Die Herzgröße ist unauffällig. Eine Hypotonie findet sich häufig bei Asthenikern und überwiegend bei Frauen als Zeichen einer vegetativen Fehlsteuerung. Ihnen ist auch eine klinische Symptomatik eigen, die sich in Leistungsschwäche, vermehrter Erschöpfbarkeit, vermehrtem Herzklopfen, Antriebsunlust und Reizbarkeit äußern kann. Der Hypotoniker verfügt im allgemeinen über ein größeres und C) bequeme Haltung von Patient und Untersucher C) korrektes Anlegen der Manschette ® rasche Insufflation bis etwa 30 mmHg oberhalb des systolischen Druckes (Palpation des Radiuspulses, cave: auskultatorische Lücke) ® Ablassen des Manschettendruckes um 2 bis 3 mmHg pro Sekunde (3 systolischer Druck: erster Korotkov-Ton (Phase 1) ® diastolischer Druck: „Dämpfung" der KorotkovGeräusche (Phase IV) C) Wiederholung der Messung frühestens nach 1 Minute Tabelle 1: Die wesentlichen Gesichtspunkte bei der korrekten Durchführung der indirekten Blutdruckmessung (Kriterien nach Krönig) wechselhafteres Symptomenrepertoire. Sein Beschwerdekatalog ähnelt dem eines sogenannten psychovegetativen Syndroms (Tabelle 2). Auch äußere Einflüsse, Infekte, Fieber, exogene Faktoren, längere Bettruhe, Mißbrauch von Genußmitteln können auf das Regulationsgefüge des Kreislaufs (selbst des Normotonikers) einwirken und können hämodynamisch sowohl in Ruhe wie im Arbeitsversuch zu niedrigen Blutdruckwerten, ungenügender Erweiterung der Blutdruckamplitude, stark erhöhten Pulsfrequenzwerten, oft im Sinne des Ermüdungspulses, einer Verlängerung der Anlaufzeit bis zum Erreichen von Steady-state-Werten und zu verlängerter Erholungszeit führen. Im Stehversuch kommt es häufiger zu Dysregulationen im Sinne orthostatischer Labilität bzw. Insuffizienz, so daß vielfach Hypotonie und orthostatische Kreislaufregulationsstörungen gleichgesetzt werden, eine Gleichsetzung, die keineswegs erlaubt ist (Tabelle 3). Hämodynamisch findet sich als Ausdruck des ungenügenden Leistungsvermögens neben der zu geringen Erweiterung der Blutdruckamplitude eine erhebliche Pulsfrequenzsteigerung. Das maximale Sauerstoffaufnahmevermögen ist reduziert, das Herzvolumen relativ klein, die Restblutmenge ist verringert, und im Stehversuch finden sich häufig Abweichungen von der orthostatischen Toleranz. Bei klinischer Untersuchung zeigen sich oft Veränderungen des Stoffwechsels, Störungen des endokrinen Systems wie latente Schwächezustände der Nebenniere und Schilddrüse, verbunden mit physischen und psychischen Besonderheiten. So ist z. B. das Regulationsgefüge des kindlichen und jugendlichen Organismus noch nicht genügend gefestigt; besonders in der Präpu- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 10 vom 11. März 1983 57 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hypotonie bertät und Pubertät ist die Kreislaufregulation stärkeren Belastungen ausgesetzt, so daß sowohl im Arbeitsversuch wie unter Stehbelastung stärkere Abweichungen im Puls- und Blutdruckverhalten nachweisbar sind. Zwischen den Schülern verschiedener Schularten fand Nüssel unterschiedliche Häufigkeitsverteilungen der Hypotonie. Auffallend häufig sind bei Sonderschülern systolische Werte unter 100 mmHg gemessen worden, nämlich bei bis zu 26 Prozent (Jungen) bzw. 30 Prozent (Mädchen) der untersuchten Schüler. Bei Gymnasiasten wurden Werte von unter 100 mmHg nur in 10 Prozent der Fälle (Jungen) gefunden. Jüngst erkennt eine Ruhehypotonie bei Kindern und Jugendlichen nicht an, stellt aber fest, daß eine Vielzahl von Kindern, die wegen schulischen Leistungsknicks sich in klinischer oder ambulanter Behandlung befinden, zur Gruppe der Hypotoniker mit orthostatischer Dysregulation gehört. In jüngster Zeit wurde von Nüssel hervorgehoben, daß die Hypotonie ein sogenannter Risikoindikator für Schwangerschaftskomplikationen, zerebrale Mangeldurchblutung und Nierenversagen sein könne. Mögliche Beziehungen zu Schlaganfall, Herzinfarkt, neurologische wie psychosomatische Komplikationen werden zunehmend diskutiert. se eine Umverteilung des Blutvolumens bzw. ein von vornherein erniedrigtes Blutvolumen angenommen. Da der Blutdruck (p) als Regelgröße dem Schlagvolumen (SV), der Herzfrequenz (HF) und dem peripheren Gefäßwiderstand (RT) proportional ist, werden alle Faktoren, die das Schlagvolumen und den Widerstand reduzieren, auch zu einer Erniedrigung des Blutdrucks führen (zitiert nach Künzel): p = SV • HF • RT. Die Hypotonie tritt bei Schwangeren in der 24. Schwangerschaftswoche mit einer Häufigkeit von 32,4 Prozent auf. Auch soll ein Zusammenhang zwischen der Geburtsrate und einem niedrigen Blutdruck bestehen. So fand sich ein niedriger Blutdruck in einer Studie in 20 Prozent, wobei eine uteroplazentare Mangeldurchblu- C) Antriebslosigkeit und Energielosigkeit © vermindertes Leistungsvermögen ® starke Müdigkeit nach Belastung ® rasche Erschöpfbarkeit C) Schwindelgefühl C) starkes Herzklopfen So hat Künzel festgestellt, daß die perinatale Mortalität von Kindern hypotoner Frauen mit 5 Prozent deutlich höher liegt als bei einem normotonen Vergleichskollektiv. c) g Auch Störungen im Geburtsablauf werden ursächlich mit einer hypotonen Blutdrucklage in Verbindung gebracht, wobei selbst leichteren Formen der Hypotonie eine klinische Bedeutung zukommt. Als Ursache der Hypotonie bei Schwangeren wird möglicherwei58 Beklemmungsgefühl auch in den Brustorganen innere Unruhe kalte Füße C) Kopfschmerzen Tabelle 2: Beschwerden, die von Hypotonikern häufig angegeben werden tung und eine Reduzierung der Plazentagröße nachgewiesen wurden. Selbst 60 Prozent der zum Termin geborenen Kinder hypotoner Mütter waren im Wachstum retardiert. Die Gefährdung der Kinder soll durch die Mangelversorgung des Feten verursacht sein. Nach statistischen Angaben an 38 636 Schwangeren soll eine Beziehung zwischen dem diastolischen Blutdruck und der fetalen Mortalität bestehen. So soll bei einem Abfall des diastolischen Blutdrucks unter 65 mmHg die fetale Mortalität zunehmen, wie sich auch asphyktische, totgeborene und mißgebildete Kinder bei hypotonen Schwangeren häufiger finden sollen. Auch der Zeitabschnitt des Klimakteriums stellt einen wichtigen lebensgeschichtlichen, körperlichen und seelischen Schnittpunkt dar. Hierbei spielen hormonelle Umstellungen eine wichtige Rolle, die im psychosomatischen Gesamtbild mit einer Neueinstellung der Persönlichkeit einhergehen und eine Änderung des vegetativen Verhaltens bedingen. Es ist also nicht gerechtfertigt, Hypotoniker als beschwerdefrei anzusehen, denn viele Träger klagen über mannigfaltige Mißempfindungen, als deren Ursache ein zu niedriger Ruheblutdruck angesehen werden muß. Ferner ist die Vorstellung falsch, viele Kliniker seien der Meinung, ein chronischer und schädlicher Einfluß auf das Kreislaufsystem könne noch nicht als erwiesen betrachtet werden. Viele Autoren sind zwar der Auffassung, dem Nachweis einer hypotonen Regulationsstörung sollte in klinischer Hinsicht nicht zu große Bedeutung zugemessen werden, wobei auf Statistiken verwiesen wird, die beweisen, daß Hypotoniker sogar über eine erhöhte Lebenserwartung verfügen. Weiter wird hervorgehoben, daß besondere Rückwirkungen auf den Heft 10 vom 11. März 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hypotonie Name Alter Blutin druck Jahren mmHg ElastPeriAnspan- AustreiFrePulsSchlagMiquenz wellenvolumen nuten- Wider- pherer nungs- bungszeit zeit sec volumen stand WiderMin. geschwincm3 sec dyn stand digkeit cm' dyn. sec m/sec cm 3 1. D. 28 92/55 64,0 5,81 57,0 3,6 638 594 0,088 0,280 leistungsschwach (konstitutionell) 2. M. 28 100/65 88,0 5,96 45,5 4,0 767 664 0,082 0,234 postinfektiös 3. S. 23 90/65 79,4 4,58 77,0 6,1 478 426 0,065 0,285 postinfektiös 4. P. 24 100/55 72,4 4,01 138,0 10,0 397 202 0,062 0,324 postinfektiös 5. H. 28 95/65 74,0 5,95 51,6 3,8 606 680 0,089 0,292 leistungsstark (konstitutionell) 6. N. 17 100/70 57,4 4,62 49,0 2,8 475 998 0,085 0,344 Sportlerin 7. A. 53 95/70 50,0 6,38 52,6 2,6 430 1 080 0,091 0,320 Unterernährte Tabelle 3 . Verschiedene Formen der Hypotonie mit den hämodynamischen Grundlagen bei Menschen unterschiedlicher Leistungsfähigkeit aus „Kreislaufregulation" Kreislauf und andere Organe, wie bei der Hypertonie, bei dieser Form der Regulationsstörung nicht nachweisbar sind, ja die Auffassung vertreten wird, Hypotonie schütze vor Arteriosklerose. Pierach hat jedoch unlängst den Nachweis führen können, daß sich eine obliterierende Gefäßerkrankung im Sinne der Arteriosklerose und Hypotonie wechselseitig zu beeinflussen vermögen. So unterliegt die Hypotonie bei alten Menschen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Mit der Dilatation der großen Gefäße, der Verminderung des Herzzeitvolumens und der Verlangsamung im Ablauf der vasomotorischen Einstellvorgänge nimmt die Regulationsbreite erheblich ab. Der vielfach erniedrigte Systemblutdruck kann die Durchblutung in einem bestimmten Gefäßabschnitt akut gefährden. Veränderungen des Herzzeitvolumens durch Arrhythmie, Myokarderkrankungen als auch zusätzliche Beeinträchtigungen der Vasomo- torik durch toxisch-infektiöse Prozesse mit Fieber, Flüssigkeits- und Elektrolytverlust können sehr bald durch vasomotorische Einstellungen nicht mehr kompensiert werden, so daß der Systemblutdruck abfällt. Jeder solche Blutdruckabfall kann aber — wenn Stenosierungen durch arteriosklerotische Prozesse bestehen — die Durchblutung in einem bestimmten Gefäßabschnitt akut gefährden. Im Greisenalter treten die hypotone Regulationsstörung praktisch fast ausschließlich in Form der orthostatischen Hypotonie und die lokale Hypotonie durch Symptome zerebraler, kardialer oder renaler Art bei klinisch zu unterstellender Zerebral-, Koronar- und Nephrosklerose in Erscheinung. So sind herdförmige zerebrale Ausfälle im Anschluß an hypotensive Phasen bekannt, diese setzen stets eine Hirngefäßerkrankung voraus, wobei auch klinisch latente Störungen einer zerebralen Autoregulation auftreten. Schon ge- ringe Blutdrucksenkungen reichen aus, um eine zerebrale Minderperfusion zu erzeugen. Vertebrobasiläre Insulte sollen nach Busse im Vergleich zu solchen im Karotisstromgebiet nachts häufiger auftreten, also immer dann, wenn es zu einer physiologischen Senkung des Blutdrucks kommt. So traten von 544 ischämischen zerebralen Insulten 40,8 Prozent zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens auf, also während eines Zeitraums, in dem der Blutdruck physiologischerweise niedrig ist (Heinrich). Unter den sogenannten chronischen Formen sind Hypotonien bei organischen Herzerkrankungen zu nennen. Koronarsklerose, Herzinfarkt und Myokarditis können infolge verminderter Kontraktilität zu myokardialer Insuffizienz und mangelnder Förderleistung des Herzens zum Vorwärtsversagen führen. Die Frank-Starlingsche Beziehung zwischen Vordehnung und Schlagarbeit ist bei ver- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 10 vom 11. März 1983 61 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hypotonie FÜR SIE GELESEN minderter Kontraktilität qualitativ erhalten, doch bedarf es einer größeren Zunahme der Vordehnung, um durch ein erhöhtes Füllungspotential einen Anstieg der Schlagarbeit zu bewirken. bes dorsalis und Syringomylie; hinzu kommen noch Störungen der humoralen Blutdruckregulation bei Morbus Addison, Morbus Sheehan und Myxödem. Hypertonie-Initialtherapie: Vergleich von Propranolol mit Hydrochlorothiazid nach Langzeitbehandlung Auch die Orthostasetoleranz ist bei Patienten mit Herzinsuffizienz erhöht. Für den Kliniker ist es außerordentlich schwierig, aus der Blutdruckmessung Hinweise über die vorliegenden Regulationsmechanismen abzuleiten, so daß man fast nichts oder nur sehr indirekt etwas über die Durchblutung der einzelnen Kreislaufgebiete aussagen kann. Auf der arteriellen Seite wird die Durchblutung der Organe durch Änderungen der Gefäßweite reguliert, wobei nach dem HagenPoisseulleschen Gesetz kleine Änderungen der Gefäßweite erhebliche Auswirkungen auf den Strömungswiderstand haben. Zusammenfassung Das Ziel der Studie war die Bestimmung der Blutdrucksenkung sowie die Prüfung der erforderlichen Dosierungsverteilung der Präparate zur Steuerung des Blutdrucks. 394 Patienten mit einem diastolischen Blutdruck zwischen 95 und 114 mmHg wurden zur Langzeitbehandlung ausgewählt und erhielten in einem randomisierten Doppelblindverfahren entweder Propranolol-Hydrochlorid oder Hydrochlorothiazid. Schließlich sind die seltenen Formen einer primären oder sekundären Positionshypotonie des Blutdrucks hier anzuführen. Bei der sogenannten Positionshypotonie tritt die normalerweise unter Orthostasebedingungen einsetzende sympathische stimulierende Verengung der arteriellen und venösen Gefäße der unteren Körperhälfte nicht ein. Die Folge ist ein in schweren Fällen schon im Sitzen auftretender Abfall des systolischen wie auch diastolischen Blutdrucks, der bis zum Kollaps führen kann. Bei der sehr seltenen primären Positionshypotonie werden z. B. vier verschiedene Syndrome voneinander abgegrenzt. Dabei finden sich deutlich erniedrigte Noradrenalinspiegel und Störungen im Bereich der afferenten oder efferenten Barorezeptorenreflexe, die zum Teil schon im Kindesalter auftreten und familiär bedingt sein können. Ferner sind sogenannte sekundäre Formen abzugrenzen, die bei verschiedenen Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems beobachtet werden, so bei diabetischer Neuropathie, Ta62 Die Hypotonie stellt somit kein selbständiges und eigenes Krankheitsbild dar. Die ihr zugrundeliegenden hämodynamischen Veränderungen sind vielmehr ganz unterschiedlich, häufig finden sich Beeinträchtigung und Betroffensein weiterer Funktionskreise, die deutlich machen, daß die Diagnose Hypotonie eine weitere Abklärung auf chemischem und endokrinologischem Gebiet notwendig macht. Hinweise erhält man auch durch Kreislaufuntersuchungen unter Belastungsbedingungen besonders mit leistungsmedizinischen Methoden oder zur Prüfung der orthostatischen Toleranz mit unterschiedlicher Methodik. Die Ausführungen machen auf alle Fälle deutlich, daß die Hypotonie nicht — wie häufig geschieht — als Bagatellerkrankung anzusehen ist, sondern vielmehr in vielen Fällen ein echtes Krankheitsbild darstellt, das oft einer intensiven Allgemeinbehandlung und auch einer pharmakologischen Therapie bedarf. Literatu r Halhuber, M. J.: Therapiewoche 32 (1982) 429 — Heinrich, F.: Münch. Med. Wschr. 124 (1982) Suppl. 2 — Jüngst, B. K.: Münch. Med. Wschr. 124 (1982) Suppl. 2 — Kaps, M.; Busse, 0.; Hoffmann, 0.: Münch. Med. Wschr. 124 (1982) Suppl. 2 — Kirchhoff, H. W.: Der Kassenarzt 21 (1981) 505 — Künzel, W.: Z. Geburtsh. u. Perinat. 185 (1981) 249-253 — Nüsse!, E.: Münch. Med. Wschr. 124 (1982) Suppl. 2— Reindell, H.; Schildge, E.; Klepzig, H.; Kirchhoff, H. W.: Kreislaufregulation, Thieme Verlag (1955) — Krönig, K.: Arztliche Praxis 30 (1978) 88 Anschrift des Verfassers: Professor Dr. med. Hans Werner Kirchhoff Arzt für Innere Krankheiten Chefarzt des Sanatorium Nordrach Winkelwald 55 7611 Nord rach/Bad. Schwarzwald Während der 12monatigen Langzeitbehandlung erwies sich Hydrochlorothiazid bei der Steuerung des Blutdrucks wirksamer als Propranolol (mittlere Blutdrucksenkung — 17,5/— 13,1 mmHg mit Hydrochlorothiazid im Vergleich zu — 8,3/— 11,3 mmHg mit Propranolol). 65,5 Prozent der mit Hydrochlorothiazid behandelten P,atienten erreichten einen angestrebten diastolischen Blutdruckwert unter 90 mmHg gegenüber nur 52,8 Prozent der mit Propranolol behandelten Patienten. 35 Patienten der Propranolol-Gruppe erforderten eine Beendigung der Therapie aus medizinischen Gründen (zu hoher diastolischer Blutdruck, Nebenwirkungen etc.) im Vergleich zu 11 Patienten der Hydrochlorothiazid-Gruppe (P < 0,001). Der Dosisbedarf von Hydrochlorothiazid war im Vergleich zu Propranolol geringer, zusätzliche Dosisanpassungen waren bei Hydrochlorothiazid seltener erforderlich, und der Blutdruck blieb — nach Absetzen der wirksamen Präparate — bei Gabe von Hydrochlorothiazid niedriger. Dpe Veterans Administration Cooperative Study Group an Antihypertensive Agents, Comparison of Propranolol and Hydrochlorothiazide for the Initial Treatment of Hypertension, JAMA 248 (1982) 2004-2011, Edward D. Freis, M. D., Veterans Administration Medical Center, 50 Irving St. NW, Washington, DC 20422, U.S.A. Heft 10 vom 11. März 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A