Ausgewogene Substratversorgung durch Fleischverzehr

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M E D I Z I N
ZUR FORTBILDUNG
Franziska Feldl
Berthold Koletzko
Ausgewogene
Substratversorgung
durch Fleischverzehr
ZUSAMMENFASSUNG
Stichwörter: Fleischverzehr, Ovo-Lakto-Vegetarismus,
Veganer, Eisenmangel, Kolonkarzinomrisiko
Der Verzehr von Fleisch hat aufgrund wachsender Besorgnis
über mögliche Gesundheitsrisiken stark abgenommen.
Fleisch ist ein Lebensmittel von hoher ernährungsphysiologischer Qualität, das hohe Gehalte an biologisch hochwertigem Eiweiß, gut resorbierbarem Eisen, Zink und den
Vitaminen A und B enthält. Gesunde Erwachsene können eine bedarfsdeckende Nährstoffversorgung auch mit einer
gemischt-vegetarischen Ernährung (Ovo-Lakto-Vegetarismus) erreichen, wenngleich die durchschnittliche Versorgung mit Nährstoffen wie Eisen und Vitamin B12 ungünstiger
ist und bei Kindern auch Längenwachstum und Gewichtszunahme reduziert sind. Für Schwangere, stark menstruierende Frauen,
Kinder, Leistungssportler und Senioren jedoch ist Fleischverzehr für eine adäquate Substratversorgung kaum verzichtbar, wenn nicht kritische Nährstoffe wie Eisen, Zink
und Vitamin B12 supplementiert werden sollen. Bei langfristiger rein pflanzlicher Ernährungsweise (veganische Ernährung) wird der Vitamin B12-Bedarf nicht gedeckt, bei
Kindern kann sich schon innerhalb des ersten Lebensjahres
ein klinisch manifester Vitamin B12-Mangel mit schwerer
neurologischer Schädigung manifestieren.
Key words: Meat consumption, ovo-lacto-vegetarians,
vegan diet, iron deficiency, colon cancer risk
Although meat contains large amounts of protein with a
high nutritional value, as well as highly bioavailable iron,
zinc and vitamins A and B, the consumption of meat has
markedly decreased due to growing concerns about potential
health risks. Healthy adult ovo-lacto-vegetarians can reach
a physiologically adequate nutrient supply provided
they select their food intake wisely. However, the average
supply of some nutrients such as iron and vitamin B12 is
usually low, and children on vegetarian diets show a reduced
average longitudinal growth and weight gain. Meat con-
sumption is indispensable for an adequate nutrient supply in individuals with high requirements
of critical substrates, including pregnant women, women
with strong menstrual blood losses, children, professional
athletes and seniors with a low food consumption, unless
nutrients such as iron, zinc and vitamin B12 are supplemented. A long term vegan diet (strict avoidance of all animal
foods) cannot meet human vitamin B12 requirements over a
prolonged time period. Infants that are breastfed by their
vegan mothers and weaned on a vegan diet develop clinical
signs of vitamin B12 deficiency with severe neurological
damage usually within the first year of life.
D
er Verzehr von Fleisch und
Fleischwaren ist in Deutschland seit Ende der achtziger
Jahre stark zurückgegangen. Als
Gründe werden tierschützerische,
ökologische, soziale und weltanschauliche Gesichtspunkte angegeben (19),
die Sorge vor einer möglichen Übertragung der bovinen spongiformen Enzephalopathie (BSE) und vor Verunreinigungen mit Arzneimitteln und
Hormonen. Pressemeldungen über ein
angeblich erhöhtes Risiko kardiovaskulärer und Krebserkrankungen durch
Fleischkonsum bei gleichzeitig angenommenem Fehlen eines gesundheitlichen Nutzens führten ebenfalls zur
Verunsicherung der Verbraucher. Daher werden gerade auch Ärzte häufig
mit Fragen zur Nutzen-Risiko-Abwägung des Fleischverzehrs konfrontiert.
Fleisch enthält hohe Gehalte an
biologisch hochwertigem Eiweiß, gut
resorbierbarem Eisen und Zink sowie
A-606
Vitamin A, B1, B6 und B12; resorptionshemmende Faktoren sind kaum enthalten (12). Hier sollen die Fragen diskutiert werden, welche Vorteile die hohe ernährungsphysiologische Qualität
von Fleisch für eine bedarfsdeckende Nährstoffversorgung hat und ob
Nachteile hinsichtlich des Risikos für
Kolonkarzinome und kardiovaskuläre
Erkrankungen zu befürchten sind.
Prävention des
Eisenmangels
Eisenmangel ist der weltweit am
häufigsten auftretende Nährstoffmangel, von dem mindestens eine Milliarde Menschen betroffen sind (31). Eisenmangel führt zu hypochromer
Kinderpoliklinik (Direktor: Prof. Dr. med. D.
Reinhardt), Klinikum Innenstadt der LudwigMaximilians-Universität, München
(50) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998
SUMMARY
Anämie, reduzierter körperlicher Leistungsfähigkeit, Verhaltensstörungen,
gestörter Thermoregulation und erhöhter Infektionsanfälligkeit. Auch in
Deutschland ist ein Eisenmangel
außerordentlich häufig. Die VERAStudie fand bei 3,5 bis 4,5 Prozent der
Männer zwischen 18 und 54 Jahren
verminderte Ferritinwerte (< 20 µg/l),
bei Frauen im menstruierenden Alter
bei bis zu 17,7 Prozent (Ferritin < 12
µg/l) (Grafik 1) (9). Zu den Risikogruppen für einen Eisenmangel
gehören neben menstruierenden und
schwangeren Frauen auch Säuglinge
und Kinder, die aufgrund ihres Wachstums einen hohen Eisenbedarf haben,
sowie Senioren mit vergleichsweise
niedrigem Nahrungsverzehr und Vegetarier (28). Auch Ausdauersportler,
bei denen die gastrointestinale Durchblutung vermindert und dadurch die
Spurenelementresorption reduziert
sein kann, sind gefährdet (3).
M E D I Z I N
ZUR FORTBILDUNG
Die zur Prävention eines Eisenmangels notwendige Aufnahmemenge hängt nicht allein vom individuellen Bedarf, sondern wesentlich auch
von der Bioverfügbarkeit des aufgenommenen Eisens (Häm- oder Nichthäm-Eisen) sowie anderen die Eisenresorption beeinflussenden Faktoren
Fleischverzehr deutlich mehr Eisen
mit der Nahrung aufgenommen werden muß, um den Bedarf zu decken
(Tabelle 2). Besonders bei den 15 Prozent der Frauen, die nach Bothwell
und Carlton (1981) täglich im Mittel
> 2,8 mg Eisen verlieren, ist der Bedarf bei einem Fleischverzehr unter
Grafik 1
%
18
16
Ferritin <20 µg/L
Ferritin >12 µg/L
14
12
10
8
6
4
hoher Eisenverfügbarkeit (3). So zeigte die Berliner Vegetarierstudie deutlich niedrigere Serumeisenwerte bei
dem vegetarisch ernährten Kollektiv
(Männer: 104 versus 111 µg/dl; Frauen; 93 versus 104 µg/dl), trotz einer um
etwa 1 mg/Tag höheren mittleren
Eisenzufuhr bei der vegetarischen
Gruppe. Eine Eisenunterversorgung
war bei den Vegetariern wesentlich
häufiger (7 bis 12 Prozent versus
3 Prozent) (8). Bei einer rein pflanzlichen Ernährung kann jedoch eine verbesserte Eisenresorption durch den
Verzehr von ascorbinsäurereichem
Gemüse, Obst und Säften zusammen
mit eisenreichen pflanzlichen Lebensmitteln (Vollkorngetreide, dunkle
Gemüsesorten) erzielt werden. Aber
auch dann erscheint eine langfristig
konsequent vegetarische Ernährung
hinsichtlich der Eisenversorgung nur
für gesunde erwachsene Männer und
für Frauen jenseits der Menopause
weitgehend unbedenklich. Andere
Personen bedürfen einer Überwachung.
2
Eisenzufuhr im Kindesalter
0
18 – 20
25 – 34
35 – 44
45 – 54
Alter in Jahren
55 – 64
< 64
Häufigkeit niedriger Serumferritinspiegel als Hinweis auf Eisenmangel in Deutschland bei Männern (Ferritin <
20 µg/l; jeweils linke Säulen) und Frauen (Ferritin < 12 µg/l; jeweils rechte Säulen) in der VERA-Studie (9).
ab (23). Das mit der Nahrung überwiegend aufgenommene NichthämEisen (aus Obst, Gemüse, Getreide,
Eiern, Milchprodukten und auch aus
Fleisch) weist eine niedrige Resorption auf, die abhängig von den individuellen Eisenreserven im Bereich zwischen 2 und 20 Prozent, meist jedoch
nur bei 5 bis 10 Prozent liegt (23). Resorptionsfördernd wirken Ascorbinsäure, fermentierte Lebensmittel
und Fleisch, stark hemmend dagegen
Phytate (zum Beispiel in Vollkornund Sojaprodukten), Polyphenole
(zum Beispiel in schwarzem Tee) und
Kalzium (zum Beispiel in Kuhmilch).
Die Bioverfügbarkeit von HämEisen, das in Fleischwaren (mit besonders hohem Häm-Eisengehalt in
Rindfleisch [Tabelle 1]) und Fisch enthalten ist, beträgt etwa 15 bis 35 Prozent und ist damit weitaus höher als
bei Nichthäm-Eisen (13, 15). Praktisch bedeutet dies, daß bei geringem
30 g/Tag praktisch kaum zu decken;
die geschätzte, unter diesen Bedingungen notwendige tägliche Aufnahmemenge (56 mg Eisen) (Tabelle 2) ist
beispielsweise in 3,6 kg Weizenmehl
(Typ 405), 1,9 kg gekochtem Spinat
Tabelle 1
Mittlerer Gehalt an Häm-Eisen am Gesamteisengehalt verschiedener Fleischsorten (13)
Fleischsorte
Mittlerer
Gehalt an
Häm-Eisen
Rindfleisch, gegart
Schweinefleisch, gegart
Putenfleisch, gegart
75%
60 %
40 %
oder 6,2 kg gekochtem Broccoli enthalten (11). Entsprechend erreichen
Frauen im reproduktiven Alter eine
ausgeglichene Eisenbilanz oftmals
nur durch den Verzehr von Fleisch mit
Säuglinge und Kinder im Wachstumsalter gehören zu den besonders
gefährdeten Gruppen, denn der Eisenbedarf ist in den ersten beiden Lebensjahren und in der Pubertät aufgrund der schnellen Vermehrung der
Körpermasse groß. In diesen Altersgruppen treten häufig ein latenter Eisenmangel und eine Eisenmangelanämie auf (3, 10). Für die neurologische
Entwicklung im frühen Kindesalter ist
Eisen von Bedeutung, da es unverzichtbarer Kofaktor wichtiger Schlüsselenzyme für die Synthese der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin ist. Bereits bei mildem Eisenmangel kann auch der ZNS-Stoffwechsel
gestört werden. Klinische Untersuchungen zeigten bei Säuglingen mit
Eisenmangel eine signifikant schlechtere psychomotorische Entwicklung
(Grafik 2) mit Beeinträchtigung der
Sprachentwicklung und des Gleichgewichtssinnes im Alter von einem Jahr
(32). Noch im Alter von fünf bis sechs
Jahren fanden sich kognitive Störungen (33). Um einer Eisenmangelanämie und längerfristigen Entwicklungsnachteilen vorzubeugen, ist nach
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (51)
A-607
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der Erschöpfung der endogenen Eisenreserven ab dem 4. bis 6. Lebensmonat eine adäquate Eisenzufuhr besonders wichtig. Mindestens zwei bis
dreimal pro Woche sollte in der Beikost des Säuglings mageres Fleisch
enthalten sein. Bei Getreidebreien
sind mit Eisen angereicherte Produkte zu empfehlen, die besonders bei
einer vegetarischen Säuglingsernährung wichtig werden.
Kuhmilch ist eisenarm und wirkt
überdies hemmend auf die Eisenresorption (hoher Kalziumgehalt), so
daß für die Dauer des ganzen ersten
Lebensjahres Muttermilch oder handelsübliche eisenangereicherte Säuglingsmilchnahrungen bevorzugt werden sollten.
Zink
Zink hat essentielle Bedeutung
für strukturelle, regulatorische und
katalytische Funktionen in zahlreichen Enzymen sowie für die Insulinspeicherung, die Gentranskription
und die Rezeptorbindung von Hormonen (10, 16, 22). Eine Zinkunterversorgung führt zu Hypo- und Dysgeusie, Appetitlosigkeit, gestörter Infektionsanfälligkeit und Wundheilungsstörungen, bei schwerem AusGrafik 2
Entwicklungsindex (PDI)
103
P<0.0001
101
99
97
95
93
91
maß auch zur Acrodermatitis enteropathica (2, 18). Bei Kindern ist eine
hohe Zinkaufnahme mit besserem
Längenwachstum (5, 6, 25) und mit
höherer Vigilanz und Spontanaktivität (Grafik 3) (27) assoziiert.
Tabelle 2
Eisenzufuhr bei Frauen
Bioverfügbarkeit
(täglicher Fleischverzehr)
gering
< 30 g
mittel
30–90 g
hoch
> 90 g
26 mg
36 mg
56 mg
>56 mg
13 mg
18 mg
28 mg
>28 mg
6,5 mg
9 mg
14 mg
>14 mg
Erforderliche tägliche Eisenzufuhr
bei mittleren Eisenverlusten/Tag
< 1,3 mg (50% Frauen)
< 1,8 mg (30% Frauen)
< 2,8 mg (15% Frauen)
> 2,8 mg ( 5% Frauen)
Zur Bedarfsdeckung erforderliche Eisenzufuhr bei Frauen in Abhängigkeit von der Bioverfügbarkeit des Nahrungseisens sowie von der Höhe der nicht normalverteilten Eisenverluste. Stark menstruierende Frauen mit hohen Eisenverlusten können ihren Eisenbedarf bei dauerhaft sehr geringem Fleischverzehr und damit niedriger Eisenbioverfügbarkeit kaum allein aus der Nahrung decken und sind dann zur Vermeidung eines Eisenmangels auf Eisensupplemente angewiesen (4).
Für den Menschen sind die wesentlichen Zinkquellen Fleischwaren,
Milchprodukte, Fisch und Schalentiere, wobei analog zum Eisen für die Bedarfsdeckung neben der Höhe der Gesamtzufuhr vor allem die Bioverfügbarkeit des Zinks von entscheidender
Bedeutung ist. Bei gesunden Erwachsenen ist die Zinkresorption aus Rindfleisch drei- bis vierfach höher als aus
Getreide (Grafik 4) (36). Tierisches Eiweiß erhöht die Bioverfügbarkeit,
während eine hohe Kalzium- und
Phytatzufuhr durch Komplexbildung
die Resorption verringern (10, 22). Entsprechend wird aus einer Mischkost mit
tierischen Lebensmitteln Zink im Mittel zu zirka 40 Prozent, bei rein vegetarischer Ernährung jedoch nur zu zirka
10 Prozent aufgenommen (10, 34).
89
Vitamin B12 (Cobalamin)
87
85
Eisenmangel- Eisenmangel,
anämie
keine Anämie
(Hb < 11g/dl)
Kontrollen
Bei einer im Alter von drei Monaten bestehenden
Eisenmangelanämie und weniger ausgeprägt auch
bei einem Eisenmangel ohne Anämie ist noch im Alter
von 12 Monaten die psychomotorische Entwicklung
(Psychomotor Development Index [PDI] im BaleyTest) beeinträchtigt (32).
A-608
men synthetisiert wird, nimmt der
Mensch nur mit tierischen Lebensmitteln (Fleisch, Fisch, Milch, Eier) und
in sehr geringem Umfang auch mit
fermentierten Produkten (Sauerkraut, Bier) zu sich (2, 21).
Mit den schwerwiegenden hämatologischen und neurologischen Schädigungen bei perniziöser Anämie in
Folge einer gestörten Vitamin B12Resorption sind Ärzte gut vertraut.
Weniger bekannt ist, daß auch der
Ausschluß tierischer Lebensmittel
aus der Ernährung die Vitamin B12Versorgung stark verschlechtert. Vitamin B12, das nur von Mikroorganis-
(52) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998
Die Berliner Vegetarier-Studie
zeigte entsprechend bei einem hohen
Anteil von 11 Prozent der weiblichen
und 16 Prozent der männlichen Vegetarier erniedrigte Vitamin-B12-Serumspiegel (< 150 pg/dl), dagegen nur
Grafik 3
Entwicklungsindex (PDI)
160
P<0.05
140
120
100
80
60
40
20
0
Zink (n=48)
Kontrolle (n=48)
Auswirkungen der Zinkversorgung auf die psychomotorische Aktivität bei Kindern. In einer randomisierten Doppelblindstudie erhielten 96 Kinder im Alter von 6 bis 35 Monaten täglich über sechs Monate
entweder 10 mg Zink oder Plazebo. Die Vigilanz und
Spontanaktivität, gemessen mit dem Children’s Activity Rating Score, waren nach Zinksupplementierung signifikant erhöht (nach 27).
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bei zwei Prozent der Nichtvegetarier
(8). Bei rein veganischer Ernährung
entwickelt sich ein Vitamin-B12-Mangel, der jedoch bei gesunden Erwachsenen aufgrund der vergleichsweise
großen hepatischen Speicher (etwa 2
bis 5 mg) erst nach vielen Jahren klinisch, zum Beispiel durch eine perniziöse Anämie manifest wird (12). Anders ist die Situation bei Säuglingen
mit ihren nur geringen Vitamin-B12Reserven.
Grafik 4
Resorbiertes
Zink (mg)
Entwicklungsindex
(PDI)
2 500
P<0.01
2 000
1 500
1 000
500
0
Getreide
(Bran Flakes)
Rindfleisch
Resorbierte Zinkmenge (µg) nach Zufuhr von jeweils
4 mg Zink mit Getreide (Frühstückscerealien) oder
Rindfleisch bei acht gesunden Erwachsenen (36).
Gestillte Kinder von Frauen, die
sich veganisch ernähren und deren
Muttermilch arm an Vitamin B12 ist,
entwickeln ohne Zufütterung tierischer Lebensmittel meist im zweiten
Lebenshalbjahr Vitamin B12-Mangelsymptome: vor allem eine verlangsamte oder rückläufige neurologische Entwicklung bis hin zur Apathie und zum Koma, hochgradige
Hirnatrophie (Abbildung 1) und bleibende neurologische Schäden (29).
Ein empfindlicher Indikator des
Mangels ist eine vermehrte renale
Ausscheidung von Methylmalonsäure, so daß bei Verdacht auf eine Fehlernährung die Bestimmung dieser organischen Säure im Urin angezeigt
ist. Vorbeugend sollten schwangere
und stillende Frauen mit rein veganischer Ernährung sowie deren Kinder
unbedingt mit Vitamin B12 supplementiert werden.
Weitere Aspekte einer
vegetarischen Ernährung
Eine vegetarische Ernährungsweise hat für gesunde Erwachsene
durchaus positive Aspekte. So vermindert beispielsweise die meist
niedrige Energiedichte der Nahrung
das Adipositasrisiko, und für verschiedene erwünschte Nährstoffe,
wie zum Beispiel Vitamin C, Kalium,
komplexe Kohlenhydrate und sekundäre Pflanzenstoffe, wird meist eine
erfreulich günstige Zufuhr erreicht.
Auch eine geringe Zufuhr an gesättigten Fetten, Cholesterin und Purinen ist mit dieser Ernährung möglich.
Die bei vegetarischer Ernährung
in der Regel niedrige Dichte an Energie und einigen anderen physiologisch
wichtigen Nährstoffen (unter anderem Eisen, Zink, Jod, Kalzium, Vitamine B12 und D) birgt, vor allem bei
Personen mit hohem Bedarf, wie
Schwangere und Kinder, das Risiko
einer Unterversorgung.
Hier kann auch die Proteinzufuhr
ungenügend sein, da Eiweiß pflanzlicher Herkunft eine deutlich geringere
biologische Wertigkeit hat als tierisches Protein. Die biologische Wertigkeit kann durch Kombination verschiedener Eiweißquellen erhöht
werden (beispielsweise durch gemeinsamen Verzehr von Getreide und Hülsenfrüchten). Manche modernen „alternativen“ Ernährungsformen sind
sehr einseitig (zum Beispiel vorwiegend auf Getreidebasis), was ein erhöhtes Risiko der Unterversorgung
mit sich bringt und bei Kindern eine
schwere Mangelernährung hervorrufen kann (Grafik 5).
Systematische Untersuchungen
bei vegetarisch ernährten Kindern
zeigten gegenüber gemischt ernährten Kindern eine deutlich zurückgebliebene mittlere Gewichts- und Längenentwicklung und eine schlechte
Vitamin D- und Eisenversorgung
(30). Eine besonders schwer ausgeprägte Wachstumsstörung zeigte sich
bei Kindern aus makrobiotischen Lebensgemeinschaften mit fast ausschließlich pflanzlicher Ernährung;
ein erschreckend hoher Anteil (zwischen 28 und 55 Prozent) hatte im ersten bis zweiten Lebensjahr auch klinische Rachitiszeichen (7).
Fördert Fleischverzehr das
Kolonkarzinomrisiko?
Das in den westlichen Ländern zu
den häufigsten bösartigen Erkrankungen zählende Kolonkarzinom (24)
Abbildung 1: Schwere frontal und frontoparietal betonte Hirnatrophie im Kernspintomogram bei einem
14 Monate alten Säugling mit Vitamin-B12-Mangel
durch Fehlernährung. Bei Aufnahme komatös ohne
Kontaktaufnahme, schrilles Schreien, seltener Lidschlag, Muskelhypotonie. Die Mutter hatte sich seit
sechs Jahren rein pflanzlich (veganisch) ernährt und
wies einen subklinischen Vitamin-B12-Mangel auf,
ihr Kind stillte sie über acht Monate lang mit ihrer
sehr Vitamin-B12-armen Milch voll und fütterte danach zusätzlich geringe Mengen pflanzlicher Beikost
(nach 29).
wird von der Ernährungsweise beeinflußt. Zahlreiche Studien zeigen eine
protektive Wirkung einer hohen Ballaststoffzufuhr sowie eines regelmäßigen Verzehrs von frischem Obst und
Gemüse. Ein hoher Fettverzehr wird
dagegen mit einer erhöhten Inzidenz
assoziiert (1). Epidemiologische Untersuchungen bei Frauen in den USA
fanden bei täglichem Verzehr von
Rind-, Schweine- oder Lammfleisch
ein 2,5fach höheres Kolonkarzinomrisiko als bei Frauen, die diese Fleischsorten weniger als einmal monatlich
verzehrten (35). Aus dieser Assoziation kann jedoch keine Kausalität im
Sinne einer karzinogenen Wirkung
des Fleischkonsums gefolgert werden,
da bei seltenem Fleischverzehr die
Zufuhr von protektiv wirkendem
Gemüse und Ballaststoffen deutlich
höher ist. Gegen eine monokausale
Rolle des Fleischkonsums spricht
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (53)
A-609
M E D I Z I N
ZUR FORTBILDUNG
auch, daß das Kolonkarzinomrisiko
bei Frauen mit häufigem Verzehr von
magerem Geflügel (fünf- bis sechsmal/Woche) nur halb so groß war als
bei seltenem Geflügelkonsum (weniger als einmal/Monat) (35). Auch eine
niederländische Fall-Kontroll-Studie
zeigte bei Männern keine Assoziation
zwischen dem Frischfleischverzehr
und dem Auftreten eines Kolonkarzinoms (17). Eine australische FallKontroll-Studie fand bei Frauen keinen Zusammenhang zwischen Rindfleischverzehr und kolorektalem Karzinom, während bei Männern das relative Risiko einer Kolonkarzinomerkrankung in der Quintile mit dem
höchsten Rindfleischverzehr 2,1mal
höher lag als in der ersten Quintile.
Ein hoher Verzehr an Schweinefleisch
und an Fisch war dagegen mit einem
erniedrigtem Risiko assoziiert (20).
Eine prospektive Kohortenstudie
bei 120 852 amerikanischen Männern
und Frauen im Alter zwischen 55 und
69 Jahren zeigte keine Assoziation
zwischen Frischfleischverzehr und Kolonkrebs. Ein erhöhtes Risiko ergab
sich jedoch bei gehäuftem Verzehr
von Fleischfertigprodukten, die mit
Rauch, Nitritpökelsalz und anderen
Zusatzstoffen haltbar gemacht wurden. Als Ursache für diese Assoziation
diskutieren die Autoren den geringeren Verzehr von Gemüsen bei Personen mit hohem Verbrauch an Fertigprodukten (14). Die vorliegenden Ergebnisse sprechen insgesamt für eine
deutliche Minderung des Kolonkarzinomrisikos durch eine ballaststoffund gemüsereiche Kost, während der
maßvolle Verzehr von Fleisch nicht als
eigenständiger Risikofaktor angesehen werden kann. Allerdings erscheint
es sinnvoll, gepökelte und geräucherte
sowie sehr fette Fleischwaren nur in
begrenztem Maße zu konsumieren, da
hier eine Risikoerhöhung nicht ausgeschlossen werden kann.
lung koronarer Herzerkrankungen.
Eine an Kalorien und gesättigten Fetten ärmere Ernährungsweise erfordert jedoch nicht den völligen Verzicht auf Fleisch. Vielmehr sollten fette Fleischwaren gegen magere ausgetauscht werden, zumal letztere einen
weitaus höheren Gehalt ernährungs-
physiologisch wichtiger Nährstoffe
aufweisen (13). Außerdem ist eine hohe Fettzufuhr mit Fleischmahlzeiten
meist weniger durch das Fleisch als
durch fette Soßen, Beilagen und Zubereitungsarten bedingt. Tatsächlich
zeigten Auswertungen von Ernährungserhebungen bei 504 Teilneh-
Tabelle 3
Kolonkarzinomrisiko in Abhängigkeit vom Verzehr pflanzlicher und tierischer Lebensmittel
Quartilen:
Q1
(niedrigster
Verzehr)
Q2
Q3
Q4
(höchster)
Verzehr)
Signifikanz
Gemüse
1,0
0,73
0,53
0,4
p=0,0004
Rotes Fleisch
1,0
0,8
0,91
1,11
n.s.
Geflügel
1,0
1
1,04
0,79
n.s.
Fisch
1,0
0,73
0,85
1,13
n.s.
Milchprodukte
1,0
0,88
0,77
1,27
n.s.
(Verzehrshäufigkeit ausgedrückt in Quartilen bei 232 Kolonkarzinompatienten und 259 gesunden Kontrollen). Ein Zusammenhang besteht nur zum offenbar stark protektiv wirksamen Gemüseverzehr (17).
Grafik 5
Gewicht in kg
14
12
10
8
6
4
2
Gestillt
Abgestillt, vegetarische Breikost
Gemischte Kost
0
Problem Fettverzehr
Eine zu kalorien- und fettreiche
Ernährung, mit hoher Zufuhr insbesondere an gesättigten Fetten, ist in
den Industrieländern einer der wesentlichen Kausalfaktoren für Übergewicht und Hyperlipoproteinämien
und fördert die frühzeitige EntwickA-610
0
3
6
9
12
Alter in Monaten
15
18
Schwere kindliche Malnutrition durch Fehlernährung. Der primär gesunde Säugling zeigte während der Stillperiode im ersten Lebenshalbjahr ein normales, perzentilenparalleles Gedeihen. Nach dem Abstillen erhielt
das Kind eine rein vegetarische, überwiegend auf Getreide basierende Breikost mit hohem Anteil an Frischkornbreien, das Gewicht nahm über 8 Monate nicht zu und blieb weit hinter dem normalen Perzentilenverlauf
zurück, das Kind entwickelte eine schwere Protein-Energie-Malnutrition. Das uns zu diesem Zeitpunkt mit Verdacht auf Malabsorption vorgestellte Kind zeigte nach Gabe einer gemischten Kost ohne weitere Maßnahmen
eine normale Entwicklung mit raschem Aufholwachstum.
(54) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998
M E D I Z I N
ZUR FORTBILDUNG/FÜR SIE REFERIERT
mern an der Bogalusa-Herz-Studie im
Alter zwischen 19 und 28 Jahren keinerlei Zusammenhang zwischen Art
und Menge des Fleischverzehrs und
Indikatoren des Atheroskleroserisikos (26). Deshalb ist nicht ein Verzicht auf Fleisch anzuraten, sondern
eine bevorzugte Auswahl magerer
Fleischwaren und Zubereitungsformen, bei denen Fette sparsam und bevorzugt aus pflanzlicher Herkunft
(zum Beispiel Oliven- und Rapsöle)
eingesetzt werden sollten.
Schlußfolgerungen
Eine physiologisch hochwertige
Ernährung ist auch ohne Fleisch möglich, wenn Milch, Milchprodukte und
Eier verzehrt werden. Für eine ausgewogene fleischlose Ernährung sind
jedoch ein hoher Kenntnisstand und
eine sehr bewußte Lebensmittelauswahl erforderlich, so daß sie für die
gesamte Bevölkerung nicht empfohlen werden kann. Für einige Bevölke-
rungsgruppen, insbesondere menstruierende Frauen, Säuglinge und
Kinder, Leistungssportler und Senioren ist Fleischverzehr für eine adäquate Substratversorgung sehr wertvoll und kaum verzichtbar, wenn
nicht mit Eisen-, Zink- und längerfristig mit Vitamin-B12-Präparaten supplementiert werden soll. Aufgrund
der hohen Gehalte an biologisch
hochwertigem Eiweiß, gut resorbierbarem Eisen und Zink, Vitamin B6,
B12 und bei Schweinefleisch auch B1
wird ein mäßiger Fleischverzehr
(zwei bis dreimal wöchentlich etwa
120 bis 150 g Fleisch) als Teil einer gemischten, an Gemüse, Frischobst,
Vollkornprodukten und Ballaststoffen reichen Ernährung empfohlen.
Da Schweinefleisch besonders reich
an Vitamin B1 ist und Rindfleisch
höhere Gehalte an gut resorbierbarem Eisen und Zink aufweist, erscheint ein wechselnder Verzehr von
Rind- und Schweinefleisch, aber auch
Geflügel- und Lammfleisch empfehlenswert. Ein zu hoher Fleischkon-
Therapie des „sensitiven Ösophagus“
Sodbrennen ist das klassische
Leitsymptom einer Refluxkrankheit
der Speiseröhre; die endoskopische
Diagnostik entscheidet häufig über
das weitere Prozedere, je nachdem ob erosive und/oder ulzeröse
Schleimhautdefekte vorliegen oder
nicht.
Im letztgenannten Fall wird man
dann von einer Refluxkrankheit ausgehen dürfen, wenn die 24-StundenpH-Metrie einen pathologischen Reflux dokumentieren läßt. Die Auto-
ren weisen darauf hin, daß es eine
Reihe von Patienten gibt, die einen
eindeutig positiven Symptomindex
bieten, bei denen jedoch sowohl die
pH-Metrie wie die Endoskopie einen
unauffälligen Befund ergeben. Hier
kann man von einem sensitiven Ösophagus sprechen, der sicher zum
Spektrum der gastroösophagealen
Refluxkrankheiten gehört und etwa
10 bis 15 Prozent der Patienten umfaßt. Eine entsprechende Therapiestudie hat gezeigt, daß unter der Ga-
Ulkusrezidivrate nach Helicobacter-pyloriTherapie unter ein Prozent
Von verschiedenen Arbeitsgruppen liegen zwischenzeitlich Berichte
über eine drastisch gesenkte Ulkusrezidivrate nach H.-pylori-Eradikationstherapie vor. Während bei H.-pylori-positiven Patienten innerhalb eines
Jahres in 60 bis 80 Prozent ein Ulcusduodeni-Rezidiv beobachtet wird,
liegt dieses bei Patienten, die durch eine antibiotische Behandlung keimfrei
gemacht wurden, unter drei Prozent.
Die Autoren aus München berichten
über Langzeitdaten von 175 Patienten,
von denen 44 Patienten nach einem
Jahr, 113 nach zwei Jahren und 18 nach
fünf Jahren nachuntersucht wurden.
Bei sechs der acht Patienten mit einer Helicobacter-pylori-Reinfektion
kam es zum Ulkusrezidiv, die Reinfektionsrate lag somit bei 2,2 Prozent.
sum ist nicht von Vorteil, es besteht,
abhängig von der Art der verzehrten
Fleischwaren, vielmehr das Risiko einer hohen Cholesterin-, Purin- und
Fettzufuhr. Für die Zubereitung von
Fleisch, Soßen und Beilagen sollten
fettarme Rezepturen und die Verwendung ungesättigter pflanzlicher
Fette bevorzugt werden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-606–611
[Heft 11]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de)
erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Berthold Koletzko
Kinderpoliklinik
Klinikum Innenstadt der
Ludwig-Maximilians-Universität
Pettenkofer-Straße 8a
80336 München
be von 20 mg Omeprazol 11 von 18
Patienten ihr Sodbrennen verloren
haben, so daß dieses Patientenkollektiv sicher zum Spektrum der gastroösophagealen Refluxkrankheit
gehört.
w
Watson RGP, Tham TCK, Johnston BT,
McDougall NI: Double blind cross-over
placebo controlled study of omeprazole
in the treatment of patients with reflux
symptoms and physiological levels of
acid reflux – the “sensitive oesophagus“,
Gut 1997; 40: 587–590.
Department of Medicine, Institut of
Clinical Science, The Queen’s University,
Grosvenor Road, Belfast BT 12 6 BJ,
Großbritannien.
Die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit lag bei 24,7 Monaten bei 360
Patientenjahren follow-up. Innerhalb
der ersten beiden Jahre betrug die Reinfektionsrate 0,8 Prozent pro Jahr. w
Miehlke S, Lehn N, Meining A, Bästlein E, Mannes GA, Stolte M, Bayerdörffer E: Helicobacter pylori reinfection is rare in peptic ulcer patientes
cured by antimicrobial therapy. Europ J
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1161–1163.
Abteilung für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektionskrankheiten, Otto-von-Guericke-Universität, Leipziger
Straße 44, 39120 Magdeburg.
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (55)
A-611
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