Nachruf von Ertzdorff

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Der Fachbereich 05 (Sprache–Literatur–Kultur) und das Institut für Germanistik trauern um
Frau Prof. Dr. Xenja von Ertzdorff-Kupffer, die nach langen Leiden im Alter von 80 Jahren verstorben ist.
Das Bild der Gießener Mediävistik ist untrennbar mit Frau Prof. von Ertzdorff-Kupffer verbunden, die hier von 1970 bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1998 als Professorin für Germanische Philologie tätig war und auch danach, bis zu ihrer schweren Erkrankung im Jahr 2006,
als engagierte Wissenschaftlerin präsent blieb.
Xenja von Ertzdorff, aus altem baltischem Adel stammend, wurde 1933 in Sindelfingen geboren. Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichtswissenschaft in Tübingen, Göttingen und Freiburg, aus dem schon früh ein Aufsatz zu den Flurnamen der Markung
Köngen am Neckar hervorging (1952), wurde sie in Freiburg mit Studien zum Begriff des
Herzens und seiner Verwendung als Aussagemotiv in der höfischen Liebeslyrik des 12. Jahrhunderts (1958) promoviert. Als Assistentin von Friedrich Maurer schloss sie 1966 in Freiburg ihre Habilitationsschrift zu Rudolf von Ems ab und trat nach einer kurzen Zeit 1970 in
Gießen eine Stelle als „Wissenschaftliche Rätin und Professorin“ für Germanische Philologie
an, die im Zuge einer Erweiterung der Alten Abteilung der Gießener Germanistik, die bis dahin nur mit einer Professur (Heinz Engels) ausgestattet war, geschaffen worden war. Schon
ein Jahr später war sie im neuen „Fachbereich Germanistik“ Professorin für Germanische
Philologie. Gemeinsam mit Heinz Engels gab sie der Mediävistik in Gießen, die schon 1973
auf drei Professuren plus eine Linguistik-Professur mit mediävistischer Teildenomination
ausgebaut werden konnte, ein neues Gesicht.
Nicht zuletzt unter dem Eindruck der 1968er-Bewegung und beeinflusst durch die von Hugo
Kuhn eingeleitete Neuorientierung der Mediävistik, wandte sich Xenja von Ertzdorff in den
1970er- und 1980er-Jahren primär der höfischen Erzählliteratur zu, die sie aus dem Blickwinkel der französisch-deutschen Literaturbeziehungen und der Verbindungen zwischen lateinischer gelehrter/theologischer und volkssprachlicher Literaturtradition betrachtete. Sie verfolgte narratologische Ansätze ebenso wie Fragen der Transgenerik. Dabei weitete sie ihren Blick
über das Mittelalter im engeren Sinne aus. Den frühneuzeitlichen Prosaroman stellte sie vergleichend neben den mittelalterlichen Versroman; u. a. am Beispiel von Gottfrieds Tristan,
von dem sie 1979 eine verdienstvolle Übersetzung publizierte, behandelte sie Fragen der Mittelalterrezeption wie auch epochenübergreifende Themen wie den Ehebruch in der Literatur.
In Gießen begann sie engagiert die Mediävistik interdisziplinär und international zu vernetzen. Elf Jahre lang engagierte sie sich als Bibliographin in der Internationalen Artusgesellschaft, die alle Mittelalterphilologien verbindet. Im Jahr 1983 schließlich gehörte sie zu den
Gründer(inne)n des deutschen Mediävistenverbands, der alle mit dem Mittelalter befassten
Disziplinen in Deutschland zusammenführt. Die zahlreichen Symposien, die sie in Gießen zu
je hochaktuellen fächerübergreifenden Themen organisierte und deren Akten sie in weit beachteten Tagungsbänden herausgab, stimulierten die interdisziplinäre Diskussion und verstärkten die Sichtbarkeit Gießens als eines Zentrums geisteswissenschaftlicher Forschung.
Besonders hervorzuheben sind die Symposien Liebe – Ehe – Ehebruch in der Literatur des
Mittelalters (1984), Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit (1987) – ein Symposium in
Kooperation mit der Ernährungswissenschaft, das auch der Erschließung und Interpretation
von Riten und kulturellen Praktiken gewidmet war –, Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter
in der frühen Neuzeit (1991) und Tristan und Isolt im Spätmittelalter (1996).
Die deutlich literaturwissenschaftliche Ausrichtung von Frau von Ertzdorff-Kupffer schlug
sich auch in der Denomination ihrer Professur nieder: Im Zuge des Ausbaus des Fachbereichs
„Germanistik“ wurde die zunächst sehr offene und traditionelle Denomination „Germanische
Philologie“ im Jahr 1976 zu „Mittelalterliche deutsche Literatur“ verändert. Bereits im Jahr
darauf allerdings, als die Professur für „Linguistik und Mediävistik“ in eine rein sprachwissenschaftliche Professur umgewandelt wurde, erhielt die Professur von Xenja von ErtzdorffKupffer dann die Denomination für „Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters“. Eine
neue literaturwissenschaftliche Verstärkung erhielt die germanistische Mediävistik, als 1984
auf Betreiben von Xenja von Ertzdorff-Kupffer, die zu dieser Zeit Dekanin des Fachbereichs
Germanistik war, Marianne Wynn († 2009) eine Honorarprofessur für Mittelalterliche Literatur an der JLU Gießen erhielt. Marianne Wynn, eine deutsche Jüdin, die nach der Flucht aus
Deutschland im Jahr 1938 in Australien germanistische Mediävistik studiert hatte, war zu
dieser Zeit Germanistikprofessorin am Queen Mary and Westfield College in London und
eine absolute Autorität im Bereich der deutschen Artusliteratur. Für die Studierenden in Gießen wie für das Fach bedeuteten die gemeinsamen Veranstaltungen und Kongresse von Xenja
von Ertzdorff-Kupffer und Marianne Wynn einen großen Gewinn.
Herbe Rückschläge für das Fach aber musste Frau von Ertzdorff-Kupffer in den 1990erJahren hinnehmen: Die Professur von Heinz Engels wurde nach dessen Emeritierung 1992 in
eine Professur für Sprachwissenschaft umgewidmet, ihre eigene Professur nach ihrer Emeritierung gestrichen. Beides traf sie schwer. Dafür, dass sie dem Fachbereich bzw. (ab 1999)
dem Institut für Germanistik trotzdem ihre Treue hielt und, solange es ihre körperlichen Kräfte erlaubten, weiterhin für die Außenwirkung der Gießener Germanistik eintrat, sind wir ihr
bis heute dankbar. Der Fachbereich und die Universität werden ihr ein ehrendes Andenken
bewahren.
Im Auftrag des Instituts für Germanistik: Prof. Dr. Cora Dietl
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