Dr. Helmut Galle

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Auslandsgermanistik in Brasilien: Anpassung
an den Mainstream der
kulturwissenschaftlichen bzw.
regionsspezifischen Studiengänge oder
Bewahren der hergebrachten philologischen
Struktur ?
Helmut Galle
Universidade de São Paulo
[email protected]
Germanistik in der Krise?
• Die Rede von der Krise schafft Aufmerksamkeit und bestärkt
das Gefühl von der eigenen Wichtigkeit
• Krise ist ein dehnbarer Begriff, subjektiv lassen sich die
meisten Bedingungen, unter denen man zu arbeiten und zu
leben hat als Krise empfinden
• In Brasilien kann man es als Krise auffassen, dass
– Germanistik als kleines Fach im Schatten und der institutionellen
Abhängigkeit (aber auch im Dialog mit) der Brasilianistik steht
– die Infrastruktur, Bibliotheken, finanzielle Ausstattung nie den
Anforderungen entsprechen
– die curricular vorgesehene Stundenzahl nicht ausreichend ist, zu
einem befriedigenden Sprach- und Wissensstand zu führen
– ein Interesse der übrigen deutschen Institutionen, insbesondere der
Wirtschaft an der eigenen Tätigkeit kaum erkennbar ist
Globale Dimension der Krise
• In den vergangenen hundert Jahren hat eine Veränderung
stattgefunden, in der die Literatur sukzessive als Medium der
Unterhaltung und als Medium der Erkenntnis an
gesellschaftlicher Bedeutung eingebüßt hat.
• Das Englische als universale Zweitsprache verdrängt Deutsch
und Französisch aus der Position als Sprachen von Kultur und
Wissenschaft
• Funktional ausgerichtete Schul- und Universitäts-reformen
reduzieren weltweit die am Bildungsideal orientierten
Nationalphilologien zugunsten praktischer und
berufsbezogener Studiengänge
• In Europa und den USA reagiert die Germanistik mit Cultural
Studies, Regional Studies, DaF- und Übersetzerausbildungen
Internationale deutsche Kulturpolitik
• DAAD, Goethe-Institute und die ZfA agieren weltweit nicht
nur sehr erfolgreich als Vermittler deutscher Kultur und
Wissenschaft, ihre Tätigkeit unterliegt auch einer eigenen
inneren Logik:
• Im Interesse der eigenen Karriere sind ihre Akteure
gezwungen, nicht einfach das Vorhandene zu verwalten,
sondern gegenüber ihren politischen Instanzen Dynamik,
Wachstum, Modernisierung, Rentabilität ihres Bereiches zu
signalisieren
• Diese interne Logik der deutschen Institutionen führt dazu,
dass eher kurz- als langfristig geplant wird, dass bestehende
Strukturen „präventiv“ durch neue ersetzt werden, von denen
behauptet wird, sie entsprächen einem global erfolgreichen
Trend
Globale Trends und lokale Bedingungen
• Ein globaler Trend muss sich aber nicht überall in gleicher
Weise sich äußern, Brasilien tritt unter anderen
Ausgangsbedingungen an als die USA
• Krise ist materiell am ehesten greifbar, wenn die Nach-frage
sinkt: solange die Studentenzahlen nicht abneh-men, besteht
zunächst kein Grund einen Studiengang zu streichen oder
umzustrukturieren
• Auch innerhalb eines Landes müssen nicht alle Universi-täten
die gleiche Politik einschlagen: nicht alle müssen DaF-Lehrer
bzw. Übersetzer produzieren, aber wenig-stens eine sollte der
deutschen Literatur Raum geben, solange Literatur überhaupt
noch eine gesellschaftliche Bedeutung eingeräumt wird
Aktuelle Situation des Deutschstudiengangs der
Universidade de São Paulo
• 12 promovierte Dozenten, 6 Linguisten, 4 Literaturwissenschaftler, 2 Übersetzungswissenschaftler
• 345 immatrikulierte Studenten Graduierung
• Deutsch eine von fünf Fremdsprachenphilologien, jeweils
parallel zum Studium des Portugiesischen
• 39 Postgraduierungsstudenten (Mestrado u. Doutorado)
• 5jähriger Studiengang ohne spezifisches Berufsbild
• Optional 1 Jahr pädagogische Ausbildung (Licenciatura)
• In der Mehrheit Doppelabschluss Deutsch + Portugiesisch
• 1 Jahr Einführung in Sprach- und Literaturwissenschaft
• Danach 4 Jahre spezifisches Studium deutscher Sprache und
Literatur
Entwicklung der Studentenzahlen
Graduierung (Bacharelado)
Sprache
Englisch
Spanisch
Französisch
Deutsch
Italienisch
1997
125
91
81
70
67
2001
299
286
232
222
200
2009
493
459
374
345
330
Postgraduierung (Mestrado und Doutorado)
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
33
38
44
48
44
37
41
48
44
39
Probleme
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Studenten beginnen ohne sprachliche Vorkenntnisse
Allgemeiner Bildungsstand ist eher schwach
Meist Akademiker der ersten Generation
Studenten kommen von staatlichen Schulen mit prekärer
Infrastruktur
(Literatur-)unterricht an den Schulen zielt kaum auf
Lernerautonomie und eigenständige Urteile
Deutsche Literatur ist vielen Studenten auch in Übersetzungen
kaum bekannt
Kenntnisse über die historische und kulturelle Entwicklung
Europas und Deutschlands sind eher gering
Sprachliche Kompetenz bei Abschluss: ca. B1-B2
Starke Verschulung ohne Diversifikation und Praxisbezug
Stundenverteilung im Curriculum der
Graduierung ab 2009
obligatorisch wahlpflichtig
total
Sprachunterricht
Literatur
480 Std.
120 Std.
600
150 Std.
150 Std.
300
Linguistik
60 Std.
30 Std.
90
Übersetzung
30 Std.
90 Std.
120
120 (240) Std.
240
630 Std.
1350 Std.
Didaktische
Fächer
total
720 Std.
Vorläufige Maßnahmen im Umgang mit den
Problemen
• Interne Anpassung der Fächer:
– Reduzierung der Literaturfächer zugunsten des
Sprachunterrichts
– Literaturfächer auf deutsch erteilt, Konzentration der
Literaturen in der Endphase des Studiums
– Zunehmende Ausrichtung an interkulturellen und
interdisziplinären Paradigmen der Germanistik
• Einführung von Wahlpflichtfächern: Orientierungen Linguistik,
Übersetzung, Literatur oder Sprachdidaktik
• Zusatzangebote wahlfreier Fächer zu Kultur, Geschichte und
linguistischen / literarischen Spezialproblemen
• Aufhebung der fachlichen Isolierung durch verstärkten
Austausch mit internationaler Germanistik und den
brasilianischen Geistes- und Sozialwissenschaften
Soziale und institutionelle Rahmenbedingungen
• In Brasilien 10 % Analphabeten / 21 % funktionale
Analphabeten
• Dagegen energischer Ausbau des universitären Sektors: ca.
alle 5 Jahre verdoppeln sich die Zahlen der
Postgraduierungsstudenten; starke Förderung durch
Stipendien
• Studium an den besten staatlichen Unis garantiert
weitgehend eine Karriere: 12 Bewerber auf 1 Studienplatz
(USP)
• Hohes soziales Prestige von Bildung und Literatur
• Graduierung bietet zwei Abschlüsse: Deutsch und
Portugiesisch, die Absolventen können in beiden Bereichen
tätig werden
Thesen zur brasilianischen Situation der
Germanistik
• In der spezifischen Bildungskonstellation kompensieren an
konventioneller Philologie ausgerichtete Studien-gänge
allgemeine Bildungsdefizite
• Vermittelt werden vor allem Sprachkompetenz, Textkompetenzen und kulturelles Wissen sowie – rudimentär –
wissenschaftliches Arbeiten
• Berufsspezifische Ausbildungen (Deutschlehrer, Über-setzer,
Regionsspezialisten) können auf diesen Studien-gängen
aufbauen
• Umwandlung dieser Curricula in German- bzw. Cultural
Studies wäre in diesem Umfeld wenig sinnvoll: fehlende
Vorkenntnisse, fehlender Markt, fehlende institutionelle
Unterstützung
Zur Zukunft des Deutschen in der brasilianischen
Hochschullandschaft
• Das Curriculum ist an die lokalen Bedingungen anzupassen:
– In Südbrasilien existieren homogene Kolonien deutscher
Immigranten mit deutschem Unterricht an den Schulen:
hier ist Lehrerausbildung als Studienziel durchaus sinnvoll
– Wenn von universitärer Seite die Nationalphilologien
reduziert oder abgeschafft werden, ist es sinnvoll , dass
Personal und Inhalte in allgemeiner und vergleichender
Literaturwissenschaft aufgehen bzw. versuchen,
interdisziplinäre Regionalstudien herzustellen, das kann
aber nicht im Alleingang und ohne institutionelle
Unterstützung geschehen
– Dem vorzugreifen würde gegenwärtig eher der
Selbstabschaffung der Germanistik gleichkommen
Vorläufiges Fazit
• Im Dialog mit den übrigen „Nationalphilologien“ (die längst
keine mehr sind) und Departments für Literaturtheorie und
Komparatistik, aber auch mit den anderen
Humanwissenschaften, ist ein theoretisches Niveau in Lehre
und Forschung anzustreben, das die Erhaltung des Faches
prinzipiell rechtfertigt
• Selbst in den USA erfolgt der Rückgang der Germanistik und
ihre Integration in Cultural Studies nicht flächen-deckend:
große universitäre Zentren bieten sie weiter an
• In großen, bildungsstarken Gesellschaften wird es auch in
Zukunft universitäre Spezialisten für Literatur geben, die sich
mit spezifischen bedeutenden literarischen Traditionen (z.B.
der deutschen) und mit der Rolle von Literatur in der sozialen
Kommunikation beschäftigen
Ausgewählte Literatur
• Aron, Irene, and Eloá Heise. "Germanistik in Brasilien: Analyse einer Krise."
In: Germanistentreffen. Deutschland - Argentinien, Brasilien, Chile,
Kolumbien, Kuba, Mexiko, Venezuela. 8.-12.10.2001, (Hg.) Werner
Roggausch. Bonn: DAAD, 2002, 53-67.
• Beil, Ulrich Johannes. "Kontext und Performanz. Für eine lateinamerikanische Germanistik." In: Germanistentreffen. Deutschland – Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Venezuela. 8.12.10.2001, (Hg.) Werner Roggausch. Bonn: DAAD, 2002, 247-265.
• Bolle, Willi. "Germanistik in Brasilien." In: W. Bader (Hg.) Deutschbrasilianische Kulturbeziehungen. (Im Druck)
• Galle, Helmut. "'Germanistik' in Lateinamerika: Kulturwissenschaft als
Perspektive? Kritische Bestandsaufnahme und Diskussion alter-nativer
Konzepte." In: Germanistentreffen Deutschland – Argen-tinien, Brasilien,
Chile, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Venezuela 8.-12. 10. 2001, (Hg.) Werner
Roggausch. São Paulo: DAAD, 2002, 213-234.
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