Sie singen ohne Unterlass

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Kultur
GEISTESGRÖSSEN (XV): Im „Jahr der Geisteswissenschaften“
stellt der SPIEGEL in einer Serie herausragende Wissenschaftler und deren Arbeit vor. Der in Hamburg lehrende
Musikwissenschaftler Oliver Huck, 38, ist Spezialist für frühe
Musik, erforscht die mittelalterlichen Vertonungen der lateinischen Messe und entdeckt dort „die Musik der Engel“.
KLANGWELTEN
Sie singen ohne Unterlass
Die Idee hört sich an wie eine
geisteswissenschaftliche Fehlzündung, wie eine drollige Abwegigkeit, esoterisch, versponnen,
fast kitschig. Welcher Teufel reitet einen seriösen Musikwissenschaftler, der eine Habilitationsschrift über
„Die Musik des frühen Trecento“ in Italien
vorgelegt und damit die Fachwelt begeistert hat, eine solch absonderliche Frage
überhaupt nur zu erwägen: Wie klingt die
Musik der Engel?
Oliver Huck, Professor am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität
Hamburg, widmet sich allen Ernstes und
mit akademischer Akkuratesse tatsächlich
dem himmlischen Musizieren. Der Spezialist für frühe Musik hat bei dieser Frage
überhaupt „kein Forschungshemmnis“, obwohl „aus der Perspektive der 68er-Generation Engel ja so ungefähr das Widerwärtigste sind, das man sich denken kann“.
Huck geht es auch gar nicht um Religion. Er fragt „nach der Bedeutung von
Musik“, danach, worauf eine bestimmte
musikalische Technik außerhalb ihrer eigenen Zeichenhaftigkeit verweist. Und da
kamen ihm die Engel gerade recht.
Denn an ihnen lässt sich exemplifizieren,
wie diese sakrale Gebrauchsmusik funktionierte, bevor Genies – Mozart, Beethoven oder Schubert – mit ihren autonomen
Kunstwerken die Bühne betraten. Deren
Eingebungen gelten der Wissenschaft als
originär. Die Zeichensysteme der in früheren Jahrhunderten meist anonym verfassten Werke, beäuge seine Disziplin oft
„noch mit Scheuklappen“, meint Huck.
Sein Engelsprojekt ist ein thematisch
und methodisch provozierender Gegenbeweis – ein beflügelndes Lehrstück für vorurteilsfreies, interdisziplinäres Forschen:
Dem Wissenschaftler war aufgefallen, dass
in den beiden Teilen der lateinischen Messe, im Sanctus und im Gloria, in denen Engel auftreten, die frühen Komponisten des
14. Jahrhunderts alle dieselbe musikalische
Form verwandten: den Kanon.
Was hat das zu bedeuten? Warum haben
die Komponisten im Mittelalter gerade diese Form für die Engelsmusik gewählt? Was
singen die Engel überhaupt?
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NEUMANNUNDRODTMANN
Der Musikwissenschaftler Oliver Huck interessiert sich für Gesang aus dem Himmel.
Musikologe Huck: Ohne Forschungshemmnis und Scheuklappen
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lungshorizont“ der mittelalterlichen Menschen müsse zwangsläufig unterbleiben.
Rekonstruieren lässt sich dieser Horizont,
zumal in einer säkularen Gesellschaft, erst
recht nicht mehr.
Mit der Aufklärung verschwand nicht
nur der Glaube aus der Welt, sondern auch
das Sensorium für viele religiöse Verweise.
In einer Disziplin wie der Musikwissenschaft, die sich erst im 19. Jahrhundert zu
formieren begann, sind solche ideologisch
begründeten Leerstellen erklärbar. Inzwischen sind die Gottesboten aus dem Himmel längst auf Erden notgelandet und verkommen zu kommerziell genutzten Ikonen der Niedlichkeit, gütig grinsend auf
AKG
Das Sanctus („heilig“) der Liturgie zitiert den Propheten Jesaja, der im Alten
Testament einen Engelschor wiedergibt:
„Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth.“
Und das liturgische Gloria („Ehre“) beruht
auf der Weihnachtsgeschichte nach dem
Evangelisten Lukas, in dem Engel verkünden: „Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede auf Erden und den Menschen ein
Wohlgefallen.“
Aber konnte man diese besonderen Botschaften denn nicht anders in Musik setzen
als gerade durch den Kanon, fragte sich
Huck. Er betrieb Quellenforschung und
wurde „in der Bibel und bei den Kirchenvätern“ fündig. Alle Beschreibungen der
Musik der Engel lassen sich, laut Huck, auf
„drei Kriterien“ reduzieren: „Sie singen
ohne Unterlass, sie singen mit einer Stimme, und drittens singen sie in Wechselchören.“
Und genau das gibt der Kanon am besten wieder. Keine andere von Menschen
ersonnene musikalische Form kann die
biblische Beschreibung der Engelsmusik
besser imitieren als er: zeitversetztes Singen derselben Melodie durch verschiedene
Einzelstimmen oder Chöre. Er ist, so meint
Huck, das einzig adäquate menschliche
„Als ob“ der himmlischen Chöre.
Über Jahrhunderte hatten die Komponisten den Kanon als „Technik des Verweises“ offenbar angewandt, um ein musikalisches Analogon zu den biblischen Beschreibungen der Engelsmusik anzubieten.
Nur durch die Verknüpfung eines musikalischen Befundes mit Außermusikalischem
bekommt das Detail Relevanz.
So marginal Hucks Kanon-Erkenntnisse,
die er demnächst in der englischsprachigen
Fachpublikation „Musica Disciplina“ unter dem Titel „Music of the Angels“ veröffentlicht, Fachfremden auch scheinen
mögen, so bedeutsam ist seine Methodik.
Sie erinnert an die Ikonografie in der
Kunstgeschichte.
Diese Methode hat quasi einen Katalog
aufgestellt, mit dessen Hilfe sich für Bilder
mit religiösen Motiven Farben, bestimmte
Gesten und Gegenstände mit Symbolgehalt füllen lassen.
Eine weiße Lilie etwa steht für Jungfräulichkeit, ein Fisch für Christus oder
eine stillende Mutter für Barmherzigkeit.
Man muss das nicht im Einzelnen wissen,
um ein Bild von Rafael oder Rubens genießen zu können. Dechiffrieren und als
komplexes Zeichensystem erfassen kann
man ein Kunstwerk ohne dieses Wissen
allerdings nicht.
Zwar kann Hucks Erkenntnis dem Phänomen des Kanons in den frühen Vertonungen von Teilen der Messe jetzt eine
Bedeutung geben, aber beschreiben, ob
und wie die Engelsmusik auf die damaligen
Zuhörer gewirkt hat und ob sie die Verweise auch tatsächlich entschlüsseln konnten, vermag der Musikwissenschaftler
nicht. „Die Verknüpfung mit dem Vorstel-
Altarbild „Singende Engel“ (von Jan van Eyck, 1432)
Der Kanon ist das
musikalische Analogon
zu den
himmlischen Chören.
Postkarten, auf Geschenkpapier oder auf
Buchdeckeln. Die DDR machte ihnen sogar sprachlich den Garaus und nannte sie
Jahresendfiguren.
Die Künstler des Mittelalters und der
Renaissance bildeten die geschlechtslosen
Wesen noch mit religiöser Inbrunst ab, oft
musizierend mit Harfen, Trompeten und
Schalmeien. Chöre des Himmels in transzendierender Harmonie.
Seither tönen die Engel in der Musik
nur noch selten und keineswegs immer
harmonisch. Aber selbst im 20. Jahrhundert, dem Säkulum des gravierenden
Gottesverlusts, flattern sie noch gelegentlich durch die Partituren. In Hans Pfitzners Künstleroper „Palestrina“ von 1917
inspirieren beispielsweise Engel den verzweifelten Titelhelden zu den ersten Tönen
einer Messe.
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Alban Berg verklärt in seinem Violinkonzert von 1935 die mit 18 Jahren gestorbene Manon Gropius, Tochter von Alma
Mahler-Werfel und Walter Gropius, und
widmet das Stück „Dem Andenken eines
Engels“. Und auch Karlheinz Stockhausen
komponiert im Jahr 2000 für sein Werk
„Sonntag“ aus dem „Licht“-Zyklus noch
„Engel-Prozessionen“.
Den Kanon, diese für die Musik der Engel seit den frühen Vertonungen der Messen so bestimmende Form, hat die Musik
des 20. Jahrhunderts als Verweis auf himmlisches Musizieren längst aufgegeben. Niemand wüsste ihn mehr zu deuten.
Auch das Notenlesen, die Fähigkeit, sich
aus einer Partitur einen beabsichtigten
Klang vorstellen zu können, ist eine Leistung, die immer weniger Menschen erbringen können. Einst als bildungsbürgerliche Normerfüllung verlangt, verliert diese kulturelle Kompetenz an Wert.
Selbst auf interdisziplinären Kongressen
empfinden es, so Huck, immer mehr Wissenschaftler anderer Fachgebiete, „als Zumutung“, wenn er seine Ausführungen mit
Notenbeispielen belegt.
Es war gerade der Hunger nach notierter Musik gewesen, die Huck zur Musikwissenschaft geführt hat. Sein Vater leitete in Reutlingen ein ZupfinstrumentenOrchester. Der Sohn lernte Gitarre, Laute
und Mandoline und stellte fest, „dass es
wenig frühe Literatur für diese Instrumente“ gab.
Er betrieb Quellenstudien und begeisterte sich für diese Art der Musikarchäologie und begann sein Studium. Seine
außerordentliche Begabung fiel auch der
Deutschen Forschungsgemeinschaft auf. Sie
nahm Huck in ihr renommiertes EmmyNoether-Programm auf, das ihm erlaubte,
zwei Jahre lang in Rom und Florenz
frühe italienische Beispiele der Musik des
14. Jahrhunderts auszugraben.
Das Ergebnis ist eine Ausgabe dieser
frühesten Beispiele notierter mittelalterlicher Gesänge aus Italien. Das Besondere
daran: Hucks Edition dokumentiert auch
alle Varianten eines Stücks, die in verschiedenen Handschriften derselben Komposition überliefert sind.
Ein heutiger Künstler kann nun entscheiden, welche Version er aufführen will,
ob er Verzierungen singen will, die sich
vor mehr als 600 Jahren ein Kollege notiert
hat, oder nicht.
Hucks jüngstes Projekt ist der Versuch,
mit der Technik, die er bei der Beschreibung der Engelsmusik angewandt hat, ein
modernes Phänomen der Massenkultur
zu beschreiben: die frühen Tonfilme des
20. Jahrhunderts und die Abhängigkeit ihrer „dramaturgischen Strategien“ von der
auf Phonowalzen oder Schellackplatten
abgespielten Filmmusik.
An Engel glaubt Huck übrigens nicht.
Sie interessieren ihn nur „als Ausdruck einer Mentalität“.
Joachim Kronsbein
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